Dämonen und Idioten rücken gegen die Kunst aus

Personen, die im Lichte ihres eigenen Verhaltens besser schwiegen, übertreffen einander in Verurteilungen bedeutendster Künstler. Nach Anna Netrebko und Valery Gergiev sind jetzt Dostojewski und Tschaikowski dran

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Als ich seinerzeit die sadistischen Amtsgiftwichtel aus ihren Positionen kampagnisieren half, weil sie gegen die Anweisungen des Ministers Faßmann besonders miese Beispiele für die Mathematik-Matura zusammengepantscht hatten; als ich den Salzburger Provinzwoiwoden ihren Umgang mit Christian Thielemann um die Ohren gepfeffert habe (warten wir einmal, ob Antonio Pappano 2023 mit "Tannhäuser" einen vergleichbaren Sog zu den Osterfestspielen erzeugt); als ich mich gegen das Gastsemester eines antisemitischen Philosophen an der Salzburger Uni gewendet habe: Da waren die Reaktionen annähernd so zahlreich wie jetzt.

Womit sich das Personalpronomen "ich" aus diesen Ausführungen weitgehend zu verabschieden hat: Es ging ja um weltformatige Künstler, um den Dirigenten Valery Gergiev und um Anna Netrebko, die führende Sopranistin unserer Zeit. Während sich österreichische Bonzen in Rente endlos zierten, sich von Putins giftigem Geldtropf abzuschrauben, wurden bedeutendste russische Künstler gepresst, sich unter persönlichen Risiken öffentlich gegen ihr Land und seinen zusehends schwerer berechenbaren Diktator zu erklären. Heldentum ist aber Luxus, nicht Grundausstattung. Wobei ich in bewundernder persönlicher Kenntnis der großen Netrebko sachte hinzufügen sollte, dass sie das Beispiel eines Bühnengenies ist: Sie tritt auf, und alles ist richtig, bewegend, authentisch, perfekt, ohne perfektionistisch zu sein. Ihre außerkünstlerische Ausstattung kann mit der künstlerischen allerdings nicht Schritt halten, und wenn sie sich als apolitisch bezeichnet, so mag ich ihr keine Lüge unterstellen. Ein großer Operndirektor hat mich vor Jahrzehnten, als sich um die Netrebko ein hysterischer Gesellschaftskult zu entfesseln begann, hinsichtlich der Risiken mit den folgenden Worten beruhigt: "Für eine Krise ist die Frau zu arglos" (er hat es eine Spur anders formuliert). Man lasse sie also singen und sei dankbar, sie hören zu dürfen, nötige sie aber nicht zu Erklärungen, die auch andere überfordern würden.

Hätte ich nun den Sonderpreis für Heuchelei und kalten Opportunismus zu vergeben, so ginge er an Peter Gelb, den Intendanten der New Yorker Metropolitan Opera. Er bezweifle, dass Anna Netrebko überhaupt noch an seinem Haus auftreten werde, ließ der frühere Schallplattenmanager unter Betroffenheitskundgebungen wissen. Dazu muss man wissen, dass dem Paradehumanisten bei Ausbruch der Pandemie etwas gottlob fast Beispielloses gelungen ist: Er hat das Orchester und den Chor seines Hauses, weltweit renommierte Klangkörper also, auf die Straße gesetzt. Einige konnten sich nach Europa verändern, aber die meisten fielen ohne Absicherung für lange zwei Jahre ins Prekariat. Manche haben gar den Beruf gewechselt, ein Umgang mit kaum ersetzbaren Ressourcen, der nur beschämend genannt werden kann.

Gelbs Verhalten gegen Anna Netrebko entspricht indes verbreiteten, wenn auch verabscheuungswürdigen Gepflogenheiten. Verdienstvollerweise hält sich zwar das so genannte Großfeuilleton in seinen Verurteilungen mehrheitlich zurück. Aber im Internet baut sich eine bedrohliche Folklore des Hasses auf. Spinner, Schreihälse und Selbstdarsteller, in unserem Geschäft keine Ausnahmen, wurden früher von achtsamen Vorgesetzten zum Besten des Redaktionsfriedens freundlich ins Ressort "kurz notiert" verbracht. Heute gründen sie ein "Portal" und sammeln im Unglücksfall andere Abgeworfene um sich, die sich dann in ihrer Blase radikalisieren und analog wie digital gegen Künstler zu randalieren beginnen. Andere Branchenleichen fordern über Twitter Aufmerksamkeit. Es geht schon einer um, der die Netrebko als Satan mit Blut an den Händen qualifiziert.

Zum unvermischten Schwachsinn ist da nur noch ein Schritt: Die Mailänder Uni hätte um ein Haar ein Seminar über den blutbefleckten Putin-Spießgesellen Dostojewski (1821-1881) abgesetzt. Und in einem Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin wurde ein Werk Tschaikowskis durch die ukrainische Nationalhymne eines gewissen Mychajlo Werbyzkyj ersetzt. Überhaupt hat es Tschaikowski zusehends schwerer. Wurde kürzlich, gleichfalls in Berlin, sein Ballett "Der Nussknacker" u. a. wegen Yellowfacing im chinesischen Tanz aus dem Programm gerückt, so stellen nun noch größere Trottel sein Erscheinen im klassischen Betrieb insgesamt infrage. Wenn da nur nicht der entschlossene Freizeitpianist Putin (142.365 Aufrufe auf Youtube) Gelüste nach der Berliner Philharmonie entwickelt.

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