Da wird Patriotismus
zur kurzen Option

Kulturhistorische Momente: Peter Handke nahm den Nobelpreis entgegen, an der Wiener Staatsoper wurde Olga Neuwirths "Orlando" uraufgeführt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Das kollektive patriotische Gefühl werde schon noch erwachen, wenn der Dichter aus der Hand des Königs Medaille und Urkunde in Empfang nehme. Diese Prognose einer wohlbekannten, zur Expertise qualifizierten Person hat sich anlässlich der Nobelpreiszeremonie glänzend erfüllt. Während Abgesandte der Anti-Handke-Publizistik im kältefriedlichen Stockholm Tumulte einforderten, die sich nicht erheben wollten, flogen ihnen in den eigenen Internetforen ihre Untaten um die Ohren. Am Ende hatten sich auch noch Veteranen der Frontpublizistik - solche, die seinerzeit selbst vor Sarajewo gestanden sind - gegen Handke erklärt. Doch dieser Aufmarsch eines gruseligen Kameradschaftsbundes rückte die Causa nur noch erkennbarer in die Nähe dessen, was Karl Kraus in der Weltkriegs-Apokalypse "Die letzten Tage der Menschheit" für die Nachwelt festgehalten hat. Nur, dass den Reserve-Schaleks niemand die Unsterblichkeit garantieren wird.

© Anders WIKLUND / TT News Agency / AFP Sprache und Beschreibung in Vollendung: Peter Handke, 77, am Ziel

In der wunderbaren Laudatio des Literaturwissenschaftlers Anders Olsson ging es dann endlich um das, was im Inferioritätsgetöse beinahe untergegangen wäre: um Sprache und Beschreibung in einer Art Vollendung, die der Büchner-Preisträger Josef Winkler als konkurrenzlos in Europa einschätzt, und um die Verwundungen einer Kindheit. Handkes Vater war deutscher Besatzungssoldat, die Mutter Kärntner Slowenin. Als sie Selbstmord beging, wusste Handke wohl unwiderruflich, wo er zu Hause ist. Die Widerstandsgeschichte seiner Vorfahren hat er noch 2011 im Schauspiel "Immer noch Sturm" thematisiert. Er hat seine Reisen und endlosen Fußwanderungen durch Jugoslawien in Weltliteratur verwandelt. Und als das hoch explosive Gebilde in seine Bestandteile zerfiel, hat er, der patriotische und nationale Gefühle nie aufzubringen vermochte, ein zentrales Stück Heimat verloren. Dann begannen die Bombardements durch die Nato, deren Geschichtsverständnis der irrationale Chor der "Weltmeinung" für heilig erklärte. Dagegen hielt Handke, dem vergiftete, korrumpierte Sprache körperlich unerträglich ist, worauf sich auch das Feuilleton im Versagen zu organisieren begann. Dass es Handke in der folgenden Kontroverse nie eingefallen ist, Kriegsverbrechen zu verharmlosen oder Verständnis für einen Genozid zu mobilisieren, habe ich mehrfach festgehalten. Es ging nur gegen plärrend artikulierte Kollektivschuldzuweisung an Serbien in einem hoch komplizierten Bruderkrieg, in dem alles, was Gott im Zorn über die Erde befördert hat, aufeinander krachte: serbische Tschetniks, bosnisch-moslemische Fundamentalisten, kroatische Ustascha-Nazis und albanische Mafia-Clans. Anders als andere, die ihre Diagnosen vom Bürostuhl aus stellten, bereiste Handke das zerstörte Land, was ohne Reisepass nicht möglich gewesen wäre (um auch diesem Tiefpunkt der Debatte Unehre zu erweisen).

Handkes Werk zu beschädigen, war zuletzt nicht einmal dem großen Humanisten und Homme de lettres Erdoğan vergönnt, im Gegenteil: Das Faktum des Nobelpreises verblasst in der Erinnerung schnell, zu viele Fehlentscheidungen hat die Akademie schon getroffen. Aber Sartre und Beckett, die den Preis nicht wollten, Elfriede Jelinek und Bob Dylan, die ihn nicht holten, Pasternak und Solschenizyn, die ihn nicht holen durften, jetzt das abstoßende Geschrei um Handke: Ein paar Mal hat sich Weltliteratur über die Anekdote ins Gedächtnis eingegraben. Es gibt Schlimmeres.

Eine aufregende Woche für österreichische Kulturmenschen war das: erst der historische Augenblick der Nobelpreisvergabe, der das in einer realitätsvergessenen Blase gezogene Empörungsgeschrei ans Ende brachte ("Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte", schrieb Karl Kraus, als Hitler die Macht in Deutschland übernahm, ein Vorgang, den man besser mit nichts anderem vergleicht, was ich hiermit auch nicht tue).

Dann der Drittversuch einer Uraufführung in der Ära Dominique Meyer. Dabei tut es nichts zur Sache, dass Olga Neuwirths "Orlando" angeblich das erste von einer Frau geschriebene Werk in der Aufführungsgeschichte der Wiener Staatsoper ist (für den Bereich der Kinderoper trifft das nicht zu). Es geht vielmehr darum, dass die beiden ersten Versuche bescheiden gelungen sind, während Olga Neuwirths Werk qualifizierte Aussichten auf Weiterbestand jenseits der vorgesehenen fünf Aufführungen hat.

Dafür wäre allerdings die Hand eines Dramaturgen erforderlich (auch "Fidelio" ist nicht im Erstversuch gelungen, ohne dass ich auch hier Vergleiche anstellen wollte). Denn gewiss ist Virginia Woolfs politischer Entwicklungsroman "Orlando" nicht nur ein frühes Schlüsselwerk des Feminismus (was wichtig ist), sondern auch ein Stück sublimer Prosa (was wichtiger ist). Deshalb ist der erste Teil des Abends auch ein packendes Stück Musiktheater: Die österreichische Komponistin und ihre amerikanische Co-Autorin Catherine Filloux haben die Substanz des Romans in ein feines Stück absurden Theaters verwandelt. Orlando, ein mit Unsterblichkeit gesegneter und geschlagener Aristokrat des elisabethanischen Zeitalters, erwacht aus ohnmachtsähnlichem Schlaf als Frau und durchmisst die Zeiten und Bewusstseinsstände bis in Virginia Woolfs Gegenwart im frühen 20. Jahrhundert.

Dass dergleichen in Zeiten der Genderdebatten nach Weiterschreibung ruft, ist naheliegend. Doch hat Olga Neuwirth im Gefolge eines blamabel verhinderten Staatsopern-Projekts vor mehr als zehn Jahren ihre Librettistin Elfriede Jelinek eingebüßt. Deshalb verliert die Fortsetzung in literarisch-dramaturgischer Hinsicht: Dröhnend repetierende Manifeste, die am Ende in einem Kinderchor zum Preis der Klimabewegung gipfeln, werden der Qualität der Musik nicht gerecht.

Denn Olga Neuwirth hat eine hoch spannende, virtuose und inspirierte, vor Zorn, Ironie und Nervosität vibrierende Partitur geschaffen. Die von ihr bisweilen geforderte Kälte und Distanz ist mit den Wiener Philharmonikern nicht zu mobilisieren. Aber dafür anderes: Atmosphäre, Schönheit in der (hier mit radikalen Mitteln erzeugten) Dissonanz, die Dimensionen einer großen romantischen Oper. Auch dem Staatsopernchor und dem glänzenden Kinderchor mitsamt den kleinen Solisten steht Bewunderung zu. Die Partitur stemmt einerseits monumentale Cluster in den Raum, andererseits durchrast sie ironisch die Epochen seit dem 16. Jahrhundert, zitiert Bach und Offenbach, "O Tannenbaum" und das brachial kitschige Kirchenlied "Thank you". Dabei büßt das Werk im Musikalischen seinen Sog nie ein. Dass hier eine Handschrift über dem imposant beherrschten Handwerk waltet, bedarf keiner Erörterung.

Die Ausstattung besteht aus bühnenhohen Projektionswänden, auf denen sich (diesfalls sinnvoll) wunderschöne Videobilder aufbauen. Womöglich der Clou sind die Kostüme von Comme des Garçons, die Olga Neuwirth nicht ohne Mühe durchgesetzt hat: maßgebliches Art déco im Sinne des von der Komponistin geforderten Gesamtkunstwerks. Hier wird der Beweis erbracht, dass man in das Gelingen eines solchen Projekts tatsächlich das Beste investieren muss.

Die Solisten, teils hausansässig, teils immigriert, entledigen sich ihrer enorm herausfordernden Aufgaben mit Bravour, hervorzuheben sind die Titelheldin Kate Lindsey, Constance Hauman, Agneta Eichenholz und Wolfgang Bankl. Um das Wiedersehen sollte die neue Direktion nicht herumkommen.

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