Auf dem Weg zum Analphabetismus

Wenn wir uns zu Recht um die zurückbleibenden Kinder aus Parallelgesellschaften sorgen, sollten wir die anderen nicht vergessen. 5.600 sind zum Heimunterricht abgemeldet. Die Schulpflicht kippt.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ihr geschätztes Einverständnis vorausgesetzt, würde ich diesmal gern über die Entwicklung des Alphabetismus in Österreich mutmaßen. Und zwar nicht in erster Linie über die statistisch nachgewiesenen zehn bis 20 Prozent funktionaler Analphabeten; sondern über die ehrgeizige und effiziente Nachwuchsarbeit, die ein von Gott verlassener Gesetzgeber in der Vorzeit auf den Weg befördert hat. In Österreich besteht nämlich nicht etwa die Schulpflicht, in deren Würdigung der Nachwuchs bis heute nächtliche Opfergaben aus Müll am Maria-Theresien-Denkmal niederlegt. Sondern "Unterrichtspflicht", derer sich seit Ausbruch des pandemischen Verhängnisses eine explosiv anwachsende Zahl leider Erziehungsberechtigter zu unterziehen droht. 5.600 Kinder sind es schon, denen da ihr Recht auf soziales Leben aberkannt wird. Nun räume ich jedem, der sein Kind einer solchen Maßnahme unterwirft, bis zum Erweis des Gegenteils redliche Absichten ein. Wer zum Beispiel meint, dass eine Minderheit von Impfsaboteuren die Infektionsgefahr in den Schulen aufrechterhält, weshalb er sein Kind der Gefahr nicht aussetzen will: Der kommt mir zwar hysterisch, aber im Prinzip gutartig vor.

Wenn ich mir allerdings vorstelle, wie die Herrschaften, die am Sonntag in gebrochenem Mühlviertlerisch den Wählern der MFG-Partei dankten, ihre Kinder daheim unterweisen: Da ist meine Sorge um den Fortschritt der Rechtschreibkenntnisse noch die geringste. Auch dass die Kriminellen, die während der ersten Welle mit Kinderwagen zu gewalttätigen Demonstrationen ausgerückt sind, die überlebenden Insassen dereinst mit Homer, Kleist oder Schopenhauer vertraut machen sollen, will mir nicht gefallen. Und seit meine Frau und ich den berühmten Mathematiker Rudolf Taschner bemühen mussten, weil wir an einer Rechenaufgabe unserer damals neunjährigen Tochter gescheitert waren, lässt auch mein diesbezügliches Selbstvertrauen zu wünschen übrig.

Radikaler Geselle, der ich bin, würde ich die Möglichkeit des Heimunterrichts hart auf wenige, rational (das heißt: medizinisch bzw. psychologisch-psychiatrisch) begründbare Fälle reduzieren. Auch kann ich nicht ganz ausschließen, dass sich unter den Privatpädagogen eine erhebliche Anzahl an Nobelpreisträgern mit viel Tagesfreizeit und einem an Goethe rührenden Bildungshorizont befindet. Dass so einer das Fortkommen seines Nachwuchses von der Physik bis zum Zeichnen, von der Biologie bis zu den alten und neuen Sprachen, vom Musizieren bis zu den Leibesübungen selbst in die Hand zu nehmen wünscht: Das halte ich für selbstverständlich.

Zum Mindesten aber müsste jeder, der sich pädagogisch entsprechend ausgestattet wähnt, schon im Sommer einer harten Prüfung zum Lehrstoff der entsprechenden Schulstufe unterworfen werden. Mancher Globuli sortierende Wollstrumpfstricker wird dann unter der Last zivilisationsbasierter Fakten seinen Google-gestirnten Bildungskosmos implodieren sehen. Denn sicher erscheint mir eines: Dem mit einer verhaltensoriginellen Erzeugerschaft gestraften Kind auch noch zum Ende des Schuljahrs auf dem Prüfungsweg sein Scheitern zu beglaubigen, ist purer Zynismus.

Mit anderen Worten: Wer sich (mit Grund) um die Kinder aus den Parallelgesellschaften sorgt, soll die anderen, ohne Not ins Sozial-und Bildungsprekariat beförderten nicht vergessen.

Gestatten Sie mir deshalb eine Abschweifung ins Semantische: Asoziale Erscheinungen sind keine liebenswert tepperlhaften Corona-Muffel, schon gar keine Rebellen (das würde denen so passen), auch keine Skeptiker (denn das zugehörige altgriechische Wort bezeichnet klugen Zweifel), keine Leugner (wir befinden uns ja nicht im sakralen Bereich) und nicht einmal Verharmloser. Wer daheim neben dem Ofen mit Benzin hantiert, ist auch kein Brandverharmloser. Hören wir mit dem Verharmloserverharmlosen auf, nennen wir die Asozialen beim Namen. Den Ihnen zu Gesicht stehenden Kraftausdruck wählen Sie bitte selbst. Er kann ruhig von der Art sein, die in der Schule nicht gelehrt wird.