Kataloniens schweigende
Mehrheit wird laut

Ganz Katalonien will die Unabhängigkeit von Spanien? Die Separatisten erweckten bisher auf den Straßen und in Schlagzeilen diesen Eindruck. Doch nun meldet sich die "schweigende Mehrheit" und berichtet von Ausgrenzung und Manipulation. Kommt sie zu spät?

von Spanien - Kataloniens schweigende
Mehrheit wird laut © Bild: JORGE GUERRERO / AFP

Langsam bahnt sich der Pick-up den Weg durch die Masse. Josep Lago steht hinten auf der offenen Ladefläche. Mit einem Mikrofon in der Hand bittet er die Menschen über die großen Lautsprecherboxen auf dem Wagen, einen Korridor zu öffnen, damit der Protestmarsch gegen den polemischen Unabhängigkeitsprozess in Katalonien endlich beginnen kann. Schon Stunden zuvor füllten die Menschen an diesem warmen Herbstsonntag Barcelonas Via Laietana. Fast eine Million Unabhängigkeitsgegner sei gekommen, versichern die Veranstalter. Laut Polizei waren es 350.000. Josep Lago bereitet der eigentlichen Spitze des Zuges mit Politikern, Intellektuellen, Schriftstellern und anderen Persönlichkeiten den Weg durch die Masse.

"Viva España" in Barcelona

Der 24-jährige BWL-Student koordiniert in Katalonien die Jugendgruppen der Societat Civil Catalana (SCC), einer antiseparatistischen Bürgerbewegung, die am Sonntag unter dem Motto "Es reicht! Kehren wir zur Vernunft zurück" Hunderttausende zum Protest gegen den Unabhängigkeitsprozess mobilisierte. Josep trägt heute absichtlich ein weißes Hemd und eine blaue Jeans. Er wollte auf nationale Symbole verzichten. Die Demonstranten allerdings nicht. Josep schaut vom Pick-up auf ein Meer spanischer und katalanischer Flaggen. Der Protestmarsch erreicht Barcelonas Hafen, dabei hat er noch nicht einmal richtig angefangen. "Visca Catalunya, viva España", animiert er die Masse über die Lautsprecher. Die Menschen wiederholen in Sprechchören sein "Es lebe Katalonien, es lebe Spanien"."Puigdemont, ab in den Knast", singen die Demonstranten in Anspielung auf Kataloniens Ministerpräsidenten, der mit seiner politisch bunten Regierungskoalition die Unabhängigkeit auf Teufel komm raus gegen den Willen Madrids durchboxen will.

"Das ist ein historischer Tag in Katalonien. Endlich hat sich die schweigende Mehrheit zu Wort gemeldet", versichert Josep. Alle Umfragen geben ihm recht. Aber Gewissheit gibt es nicht. Selbst das vom Verfassungsgericht verbotene Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober gab keinen Aufschluss. Zwar stimmten 90 Prozent für die Abspaltung. Doch nahmen nur 42 Prozent der 5,3 Millionen wahlberechtigten Katalanen teil. Oder konnten nur teilnehmen. Denn die spanische Zentralregierung ließ die illegale Volksabstimmung mit Polizeigewalt niederknüppeln und schloss zahlreiche Wahllokale. Dennoch: "Wir haben heute gezeigt, dass viele Katalanen sich auch als Spanier fühlen und in der EU bleiben möchten." Josep genießt diesen Tag. Denn normalerweise trifft er auf Ablehnung, sogar auf Gewalt, wenn er an seiner Uni andere Studenten überzeugen will. Die Autonome Universität Barcelona ist eine Hochburg separatistischer Studenten. Josep und seine neun Kommilitonen von der SCC-Bürgerbewegung werden gemobbt, beschimpft und bespuckt, versichert er. "Wenn wir Informationstage machen wollen, besetzen die Separatisten einfach unsere Räume. Vor wenigen Wochen attackierten sie unseren Informationsstand auf dem Uni-Hof sogar mit Feuerlöschern, beschimpften uns als Faschisten und rissen die spanische Fahne ab, um sie zu verbrennen. Da sie wussten, dass das eine Straftat ist, kamen sie alle vermummt." Die Gewalt scheint zu wirken. Die anderen Studenten trauen sich nicht mehr, seine Veranstaltungen zu besuchen.

"Sie haben Angst, auch ins Fadenkreuz der separatistischen Studenten zu geraten." Noch schlimmer sei allerdings: "Die Separatisten haben es geschafft, die anderen Studenten glauben zu machen, wir wären eine rechtsextreme Bewegung. Jetzt müssen wir sie erst einmal davon überzeugen, dass wir das nicht sind, bevor wir überhaupt die Möglichkeit haben, zu erklären, warum wir gegen die Unabhängigkeit sind", ärgert sich Josep.

Kultur der Ausgrenzung

Der Protestmarsch geht vor dem Bahnhof Estació de França zu Ende. Gerade betritt Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa die Bühne. "Es braucht schon mehr als eine separatistische Konspiration und Puigdemonts Staatsstreichversuch, um die spanische Demokratie zu zerstören", versichert er. Das hofft auch Josep. Sicher ist er sich aber nicht. Für ihn steht fest: "Sollte sich Puigdemont durchsetzen, werde ich Katalonien verlassen."

Die katalanische Schriftstellerin Núria Amat zog es im vergangenen Jahr bereits für einige Monate nach Madrid. "Ich brauchte eine Auszeit von diesem Ambiente hier. Der separatistische Nationalismus hetzt uns gegeneinander auf, unterteilt in gute und böse Katalanen. Darunter leiden ganze Familien, Freundeskreise, die komplette Gesellschaft", versichert sie. "Autoren wie ich, die gegen den Separatismus sind, werden von den regional-staatlichen Kulturinstitutionen, Medien und Universitäten systematisch zensiert und ausgeschlossen." Auch viele Buchverlage würden dem Nationalismus kritisch gegenüberstehende Autoren nicht mehr herausgeben, um nicht selber boykottiert zu werden oder Repressalien seitens der Regionalregierung zu unterliegen. Der zunehmende nationalistische Einfluss sei sogar im Ausstellungsprogramm öffentlicher Kunstund Kultureinrichtungen bemerkbar. "Kunst und Kultur werden immer häufiger als Propaganda missbraucht, ganz im Stil von Joseph Goebbels", verrät Núria Amat. Resultat: "Viele Autoren und Künstler trauen sich nicht, öffentlich den Separatismus zu verteufeln. Sie wollen kein Publikum oder Subventionen verlieren." Sie hält das für einen großen Fehler. Dadurch wurde der Eindruck verstärkt, auch sie würden mit der Unabhängigkeit sympathisieren. Genau deshalb hat sie niemals geschwiegen. In ihrem neuen Buch "El Sanatorio" thematisiert sie sogar genau das, was derzeit in Katalonien passiert. "Es herrscht eine Spirale der Angst und des Schweigens im Kulturbetrieb, der vollkommen vom Separatismus unterwandert und politisiert wurde", so die Schriftstellerin.

Manipulation an Schulen

Auch die öffentlichen Schulen und Universitäten sind davor nicht gefeit. "Kataloniens Schulen sind zu regelrechten Separatisten-Fabriken geworden", stellt Ana Losada klar. "Wenn ich mitbekomme, was meine Tochter im Geschichtsunterricht lernt, wird mir ganz anders. Hier wird nur noch über die katalanische Geschichte gesprochen und immer mit nationalistischer Interpretation über den Unterdrückerstaat Spanien", meint die Sprecherin der Vereinigung für eine zweisprachige Schule. Die Manipulation funktioniere. Den Rest besorge die rebellisch-revolutionäre Aura, die den Separatismus und seinen Aufstand gegen die spanische Obrigkeit umgibt und die Jugendliche generell begeistert -auch in Katalonien, so Losada.

"Doch unsere Kinder verlernen mittlerweile sogar, Spanisch zu sprechen, weil es mit zwei Unterrichtsstunden pro Woche als eine Art Fremdsprache mit Englisch gleichgesetzt wird. Das ist illegal. Aber die Nationalisten wissen: Sprache ist Identität, und hier verfolgt die Regionalregierung eine klare Strategie. Ich möchte nicht, dass meine Tochter noch länger einer solchen Gehirnwäsche ausgesetzt ist", meint Losada. Eltern, die dagegen klagten und gewannen, da Spanisch auch in Katalonien offizielle Amtssprache ist, mussten ihre Kinder früher oder später auf Privatschulen schicken, da der mächtige separatistische Elternverband zu Protesten aufrief.

Dem separatistischen Druck seien alle Berufs-und Gesellschaftsklassen ausgesetzt, versichert der katalanische Politologe Oriol Bartomeus. Beamte positionieren sich politisch nicht, um nicht gemobbt zu werden. Unternehmen kritisieren den Unabhängigkeitsprozess nicht, damit ihre Produkte nicht boykottiert werden. "Viele Unabhängigkeitsgegner haben bis heute aus Angst oder Bequemlichkeit geschwiegen oder wurden zum Schweigen gebracht. Sie dürften aber eine knappe Mehrheit sein. Das Problem: Die Separatisten sind lauter, aggressiver, koordinierter und gut finanziert. Ihnen gehören die Straße und die Regionalregierung", erklärt Oriol Bartomeus. Erst in den vergangenen Wochen sahen die Unabhängigkeitsgegner, dass es nun um alles oder nichts geht, meint Bartomeus: "Die Regionalregierung zog ohne Rücksicht auf Verluste das verbotene Referendum durch und fühlt sich legitimiert, jederzeit die Unabhängigkeit auszurufen."

Die Angst der Wirtschaft

"Noch wichtiger ist allerdings, dass sich nun endlich auch die Wirtschaft zu Wort meldet. Die Unternehmen haben die Kraft, enormen Druck auf die Regionalregierung aufzubauen", meint Carlos Rivadulla. Vor allem haben sie gute Gründe. Rivadullas katalanischer Unternehmerverband prophezeit ein wirtschaftliches Schreckensszenario, sollte Puigdemont die einseitige Unabhängigkeit umsetzen und damit Katalonien aus der EU katapultieren. Das katalanische Bruttoinlandsprodukt werde um 30 Prozent einbrechen, die Arbeitslosenquote auf bis zu 40 Prozent ansteigen. Vor allem mittelständische Unternehmen in Katalonien stünden vor dem Kollaps, so Rivadulla. Zu lange haben sich die Unternehmer seiner Meinung nach mit ihrer Kritik am Unabhängigkeitsprozess zurückgehalten. "Sie dachten nicht, dass die Regionalregierung wirklich so weit gehen würde, scheuten sich, sich in die Politik einzumischen, vielleicht auch aus Angst vor Repressalien. Doch langsam reagiert die Wirtschaft. Hoffentlich nicht zu spät."

Aus Protest gegen die einseitige Unabhängigkeitserklärung kündigten vergangene Woche bereits zahlreiche katalanische Großunternehmen die Verlegung ihrer Firmensitze in andere Regionen Spaniens an. Von Kataloniens Großbanken Banco Sabadell und Caixabank über Versicherungskonzerne wie Catalana Occidente bis hin zu Energiekonzernen oder dem Sekthersteller Freixenet. Andreas Schmid, Delegierter der österreichischen Wirtschaftskammer in Barcelona, glaubt zwar nicht an einen Exodus von Firmen, die nun panikartig Katalonien verlassen würden, und fordert Gelassenheit, um zu schauen, was nun wirklich passieren wird. Doch auch in Katalonien ansässige österreichische Unternehmen machen sich Sorgen, spielen mit dem Gedanken, notfalls ihren Standort aufzugeben. Rund die Hälfte der 200 heimischen Unternehmen in Spanien ist in Katalonien angesiedelt - von KTM bis hin zum Schmuckhersteller Swarovski. Und nicht wenige beginnen, über einen Plan B nachzudenken, falls die Lage eskaliert.

"Wir brauchen Rechtssicherheit und vor allem den zollfreien EU-Binnenmarkt, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und 80 Prozent unserer spanischen Kunden befinden sich außerhalb Kataloniens", stellt etwa Peter Kaiser klar. Er ist Vertriebsleiter von Welser Profile auf der Iberischen Halbinsel. Der österreichische Hersteller von Profilrohren hat seinen spanischen Hauptsitz in Barcelona. Kaiser hofft daher, dass es noch zu einer politischen Einigung zwischen Madrid und Barcelona kommt.

Ende oder Anfang?

Vielleicht geht sein Wunsch -und der vieler Katalanen und Spanier - in Erfüllung. In seiner Ansprache vor dem Regionalparlament erklärte Carles Puigdemont zwar, die Katalanen hätten sich durch den Referendumssieg das Recht erworben, über ihre Zukunft als eigenständige Nation bestimmen zu dürfen. Er setzte die angekündigte Unabhängigkeitserklärung allerdings aus und rief zum Dialog mit Madrid auf.

Der Druck der internationalen Gemeinschaft, der spanischen Justiz und der jetzt laut werdenden "schweigenden Mehrheit" brachte den Hardcore-Separatisten anscheinend zur Vernunft. "Für mich war es dennoch eine Unabhängigkeitserklärung, eben nur eine aufgeschobene. Madrid sollte darauf vehement reagieren", meint Josep Lago, der Puigdemonts Ansprache im Radio auf dem Rückweg von der Uni hörte. "Das war ein Staatsstreich, der noch nicht beendet ist, aber initiiert wurde", so der SCC-Studentenführer. Er fordert von der spanischen Zentralregierung und der Justiz ein "hartes Vorgehen". Seine Reaktion zeigt: Die Nerven liegen auf beiden Seiten immer noch blank.

Der Konflikt zwischen Separatisten und Unabhängigkeitsgegnern hat in Katalonien womöglich gerade erst richtig begonnen.

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