Soziales Fieberthermometer [Gastkommentar]

Die Regierung beschließt ein Hilfspaket für die ärmsten Kinder. Die Familienministerin formuliert dabei den Generalverdacht, deren Eltern würden das Geld anderweitig ausgeben. Das ist nicht nur unfair. Es stimmt einfach nicht!

von Kinderarmut © Bild: iStockphoto/eric1503

Die kleinen Preissteigerungen haben Ärmere schon vor zwei Jahren bemerkt. Als es sonst noch niemand aufgefallen ist. Weil Ärmere jeden Cent dreimal umdrehen müssen. Weil sie den Preis jedes Grundnahrungsmittel im Geschäft auswendig wissen. Eine Studie gemeinsam mit der Wirtschaftsuniversität hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, Leute mit Sozialhilfe und Notstandshilfe, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben. Was ausschließlich Einkommensschwache aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, vor allem Obst und Gemüse, aber auch bei Versandhandel und Gastronomie. Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz
© IMAGO/SEPA.Media Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz

Sie sind eine so verletzliche Gruppe, da kann jeder Euro mehr, den man ausgeben muss, für eine Existenzkrise sorgen. Sie sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen. Die Regierung hat jetzt auf die sich verschärfende soziale Lage mit Nothilfen für die ärmsten 20 Prozent der Familien reagiert. Es ging aber nicht, ohne dass einige Regierungsmitglieder noch einmal nachtreten mussten. Die Familienministerin stellte alle Familien unter Generalverdacht, das Geld zu verschleudern. Der Kanzler sprach von Arbeit und Leistung, so als würden Familien, bloß weil sie geringere Einkommen haben, nicht arbeiten und nichts leisten. Die Zahl der "Working Poor" ist laut aktuellen Daten der Statistik Austria auf 331.000 Betroffene in Österreich angestiegen. Das sind Menschen, die arm sind trotz Arbeit.

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Es sei wie ein "Hamsterrad im Kopf", sagt Maria Novotny, die mit ihren drei Kindern zur Zeit am sozialen Limit lebt. Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Schulausflug, der was kostet! Und nichts, was kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bitte nicht noch ein Problem im Betrieb! "Ich lebe von einen Tag in den andern", erzählt Maria. "Ich bin ziemlich allein mit all den Gedanken, Sorgen und Befürchtungen." Die drei Hauptposten in finanziell knappen Haushalten sind Wohnen, Energie und Lebensmittel. Den größten Anteil machen die Wohnkosten. Wenn es eng wird, dann gibt es nur einen Posten, der verfügbar ist: Essen. Sparen geht nur dort. Nur allzu oft essen die Mütter dann einfach nichts mehr, damit das Kind genug hat. An Einkaufengehen im Supermarkt denkt sie besonders ungern. "Ich gehe da blind durch, damit ich nur das Billigste und Notwendigste mitnehme." Einkaufen bedeutet "Zwang und schlechte Stimmung".

Im Teenageralter "war ich wütend, weil niemandem daran gelegen war, unsere Situation zu verbessern", das erzählt die Journalistin Anny Mayr, die in ihrem Buch "Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht" ihre Kindheit beschreibt. Die Abwertung Ärmerer als faul und dumm "dient", so Mayr, "als Mittel der sozialen Abgrenzung nach unten einerseits und andererseits als ein Drohmittel, um Menschen dazu zu bringen, noch mehr schlecht bezahlte, prekäre Jobs anzunehmen." Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux kommt, ähnlich wie Anny Mayr, in ihrem Rückblick auf die Erfahrungen von Demütigung und Beschämung zu sprechen. "Es war normal, sich zu schämen, als wäre die Scham eine Konsequenz aus dem Beruf meiner Eltern, ihren Geldsorgen, ihrer Arbeitervergangenheit, unserer ganzen Art zu leben. Die Scham wurde für mich zu einer Seinsweise. Fast bemerkte ich sie gar nicht mehr, sie war Teil meines Körpers geworden."

Sie alle sprechen von den leisen Stimmen, dem gewöhnlichen Alltag und den missachteten Existenzen. Sie erzählen Geschichten, von denen keiner erzählt. Sie machen den Alltag derer sichtbar, die nicht im Licht stehen. Sie verstärken die Stimmen, die gewöhnlich überhört werden. Wie ein soziales Fieberthermometer. Es zahlt sich aus, hinzuschauen - für uns alle.