Der kleine Finger, die ganze Hand

Während eine deutsche Feuilletonblase nicht müde wird, den Nobelpreis zu diskutieren, zeigt der große Mediziner Siegfried Meryn, wie und worum es auch gehen könnte.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Das bisschen Innehalten nach den großen Kopfgefechten haben Sie und ich uns verdient, würde ich sagen. Erst das Getöse um die Salzburger Osterfestspiele, das mit dem Sieg Nikolaus Bachlers über die Kunst geendet hat; dann die Sternstunde, in der die Entscheidung der Schwedischen Akademie für Peter Handke bekannt wurde, mitsamt dem beschämenden Folgegekreisch, das mittlerweile nur noch vom deutschen Feuilleton unter Komplizenschaft restjugoslawischer Kleingermanisten perpetuiert wird. Diese Ereignisse führen uns einerseits vor Augen, wie grotesk deutsche Papierperiodika unseren bescheiden dimensionierten Sprachraum in Beschlag halten (die Welt, wenn auch nicht "Die Welt", hat längst anderweitigen Gesprächsbedarf). Sie belehren uns andererseits darüber, wie in diesem realitätsverlorenen Blasenkosmos die Qualitätsmaßstäbe degeneriert sind. Was hat der unsterbliche Reich-Ranicki Handke nicht alles anschauen lassen! Aber mit wie viel Stil und Witz, mit welch virtuos gehandhabten Instrumentarien hat er seine Angriffe geführt! Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, den albanischen Außenminister, dekorierte Frontberichterstatter von vor 20 Jahren oder österreichische Provinzslawisten in seine polemische Entourage einzulassen. Ihm ging es um Literatur und ihre Sprache, weil es um sonst nichts zu gehen hat, und seine Ungerechtigkeiten hatten mehr Format als mancher berechtigte Einwand von heute. Es herrscht in der Nobelpreis-Causa also immer noch Sturm, und sollte sich die Schwedische Akademie von ihm biegen lassen, ehe er sich vollends zur Flatulenz abschwächt, wäre es tatsächlich an der Zeit, die seit Längerem bezweifelte Existenzberechtigung dieser Auszeichnung zu diskutieren. Dann wäre die letzte Chance, die mit der Entscheidung für Handke so frei und souverän ergriffen wurde, vertan.

Gerade merke ich, dass ich mein Wort nicht gehalten und Sie schon wieder mitten ins Getümmel geführt habe. Dabei wollte ich Ihnen von einer wunderbaren Veranstaltung berichten, der ich am vergangenen Mittwoch zwei Stunden lang beigewohnt habe, bis mir gegen 19 Uhr zu meinem bleichen Entsetzen einfiel, dass ich anderswo einen in zehn Minuten beginnenden Vortrag zu halten hatte. Elisabeth Orth hatte schon aus Peter Turrinis Gedichten gelesen, Konrad Paul Liessmann über die Zukunft der Bildung und Renate Kromp-Kolb über die Perspektiven des Klimawandels referiert, dann war der Veranstalter - gleichzeitig Anlass - des Symposions an der Reihe. Die Referenten Corinna Milborn (Medien) und Harald Katzmair (Soziales) musste ich aus den oben erwähnten Gründen fluchtartig versäumen.

Den Veranstalter bin ich Ihnen noch schuldig: Der große Mediziner Siegfried Meryn war das, der das Ruhestandsalter erreicht und sich zum Abschied ein Emeritierungssymposion im AKH geschenkt hat. Die Medizin nahm gerade ein Sechstel der Redezeit ein. Das hat mit Meryns Berufsverständnis zu tun: Für ihn ist ein Humanmediziner ein Humanist, der auch Mediziner ist - einer, der seine Qualifikation als Privileg und Verpflichtung versteht. Wie sich das auswirkt? Am 17. September wurde auf dem Gelände des Wiener Hauptbahnhofs der Grundstein für ein Bauwerk gelegt, wie man es seit den Zeiten sendungsbewusster Frühkapitalisten nicht mehr hochgezogen hat: "CAPE 10", finanziert von Mäzenen und Spendern und vom Weltarchitekten Wolf D. Prix unentgeltlich entworfen, ist ein Sozial- und Gesundheitszentrum von 5.000 Quadratmetern Nutzfläche für die Unglücklichen, die selbst unser vorbildliches Sozialsystem nicht erreicht. Was Meryn betrifft, kann ich Sie nur warnen: Reichen Sie ihm für sein Projekt den kleinen Finger, sind Sie bald den Arm los. Und Sie werden ihn gern geben.

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