Salzburger Festspiele:
Deprimierend bis grandios

Deprimierende Vorhersehbarkeit im Schauspiel, aber schwebende, betörende Unausrechenbarkeit in der Oper. Heinz Sichrovsky absolvierte die erste Runde der verschobenen Jubiläumsfestspiele mit gemischten Gefühlen

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Sichrovskys Salzburg - Salzburger Festspiele:
Deprimierend bis grandios

JEDERMANN

Diesseits und jenseits von Perchtoldsdorf

Fiele den Sommerspielen von Perchtoldsdorf - ihr Intendant wird für seine schon zweite Inszenierung des Salzburger " Jedermann" allseits akklamiert - eine Erbschaft in sechsstelliger Höhe zu: So müsste man sich das Resultat vorstellen. Der achtbare Regisseur Michael Sturminger hat sich beim Zweitversuch überhoben. Erstklassige Schauspieler behaupten sich gegen den angestrengten Hochpreis-Aktionismus einer auch handwerklich bescheidenen Inszenierung.

2017 hat Sturminger den Kassenkracher nach einem Zerwürfnis zwischen Tobias Moretti und einem englisch-amerikanischen Regieteam binnen Wochen notinszeniert. Das gelang leidlich, und dank guter Schauspieler entwickelte sich die Aufführung bis zum Vorjahr immer ansprechender.

Heuer wurde der Titelprasser von Lars Eidinger übernommen. Doch statt die Gelegenheit für eine international präsentable Produktion zu nutzen, hat man Sturminger überraschend mit der Neuinszenierung betraut. Vieles verbleibt in aufgesetzten Eskapaden, die kleinen Rollen sind schwach bis zur Unauffälligkeit gearbeitet. Nicht einmal Mavie Hörbigers Teufel kommt nach Verdienst zur Geltung. Hatte man sich ein Jahrhundert lang über das Kleid der Buhlschaft erregt, so diskutiert man heuer über Verena Altenbergers Kurzhaarfrisur, die als feministisches Manifest gedeutet wurde. Das will sich nicht erschließen, zumal der kaum existenten Rolle auch noch ihr Letztes an Text zugunsten einer Tanzeinlage gestrichen wurde. Auch dass durch verzagte Transgender-Zitate in der Kostümierung ein Fortschritt erzielt worden wäre, ist infrage zu stellen. Aber Eidinger ist großartig, ein gewaltiger Exzentriker und Auratiker. Und wenn ihn Edith Clever als Tod antritt, wird sogar Welttheater jenseits von Perchtoldsdorf geboten.

ELEKTRA

Als die Kunst von den Toten erwachte

Diese "Elektra" verkörpert auch außerkünstlerisch allerhand: Vor einem Jahr, am 1. August 2020, ging über ihr nach endloser Sperre der (diesfalls nicht vorhandene) Vorhang auf. Schon Monate zuvor hatten Sommerspiele aller Größenordnungen in verzagter Vorsorge die Produktion eingestellt. Aber in Salzburg blieb man beharrlich, und als das öffentliche Leben wieder hochgefahren wurde, zauberte man ein Programm von essenzieller Schönheit und Wesentlichkeit in die sich belebende Landschaft. Auch im Künstlerischen blieb die Aufführung nichts schuldig, und das lag (und liegt auch zur stürmisch akklamierten Wiederaufnahme) zunächst am Orchester. Die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst verkörpern hier eine Art Originalklang, der anderswo kaum aufrufbar ist. Das Herzinfarktstück in seiner archaischen Grausamkeit und tödlichen Schönheit bricht als Urgewalt über die Felsenreitschule herein. Am Ende hängt man in den Seilen, wie es sich für eine herausragende "Elektra"-Aufführung gehört.

Krzysztof Warlikowskis Inszenierung hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Sie führt dorthin, wo das Werk in der Tat stattfindet: auf einen Schlachthof im Familienbesitz. Die Besetzung verkörpert für heutige Verhältnisse - nicht, dass man nicht schon andere erlebt hätte - das Bestverfügbare. Ausrine Stundyte bewältigt die gigantische Herausforderung der Titelpartie in stimmlicher und gestalterischer Hochverfassung, Tanja Ariane Baumgartner ist eine souveräne Klytaemnestra, Vida Mikneviciute eine Chrysothemis von der Durchschlagskraft eines Laserstrahls und Christopher Maltman ein gewaltiger Orest.

RICHARD THE KID &THE KING

Abspielstation für degeneratives Stadttheater

Die Pernerinsel wurde 1991 als Salzburger Zweitschauplatz etabliert, weil sich der weltformatige Theaterchef Peter Stein verbreitern, aber sein ebensolcher Intendant Gerard Mortier die Festspielhäuser nicht hergeben wollte. Mittlerweile hat die Schauspielsparte allerdings viel Wahrnehmbarkeit eingebüßt, und nicht erst seit diesem meteorologischen Katastrophensommer steht der Nutzen der Immobilie im hochwassergefährdeten Hallein infrage. Als Abspielstation für importiertes deutsches Stadttheater in der Verfallszeit der Postdramatik ist die Pernerinsel jedenfalls überdotiert.

Angekündigt war das aus den Königsdramen "Heinrich VI." und "Richard III." destillierte Porträt des Shakespeare'schen Titelwüstlings: Ein entstelltes, gedemütigtes Kind werde sich auf offener Bühne zum Scheusal auswachsen. Die Festspiele haben mit Strehlers "Spiel der Mächtigen" und Luk Percevals "Schlachten!" in dieser Hinsicht schon einiges vorgelegt. Ein vergleichbarer Ewigkeitswert wird Karin Henkels Hamburger Inszenierung allerdings verwehrt bleiben. Shakespeare'sche Textrudimente werden da durch den Wolf gedreht und mit einem nicht versiegenden Schwall brachialteutonischer Rülpsrückstände auf sterbenslangweilige vier Stunden gestreckt.

Dem überraschenden Generalthema dieses Salzburger Theatersommers folgend, tauschen wieder Männer und Frauen das Fach. Im Fall der Titelheroine ginge das schon in Ordnung (auch Hamlet wurde oft von Frauen verkörpert). Lina Beckmann gibt nicht schlecht einen plumpen Balg auf dem Weg zum Horror-Clown im Stephen-King-Format. Rundum aber waltet die Mühsal schriller Transvestitenarien, dazu errötenmachender Wanne-Eickler Abiturientenhumor mit Karaoke-Einlage.

DON GIOVANNI

Grandiose Höllenfahrt ins Nichts der Geschichte

Dem Dirigenten Teodor Currentzis und dem Regisseur Romeo Castellucci hat Markus Hinterhäuser einst mit Fortüne das Gelingen seiner noch jungen Intendanz anvertraut. Zum pandemisch verzögerten Jubeljahr führt er sie nun zueinander. Und welch ein "Don Giovanni" ist da gelungen!

Ein sakraler Raum, noch in tiefer Stille. Eine Entrümpelungsbrigade transportiert das religiöse Interieur ab, und aus dem leeren Raum tritt Giovanni seinen Weg in die Hölle an. Die Hölle, so viel ist klar, ist das Nichts, denn dem schon vom Tod gezeichneten Mann ist kein stolzer Abgang ins Gedächtnis der Nachwelt vergönnt: Er kann jederzeit mit seinem Diener Leporello, sogar mit dem Bauernburschen Masetto verwechselt werden. Mit Giovannis Aufbruch in den Abgrund setzt hart, klar, in einem wahren Höllentempo die Ouvertüre ein. Currentzis und sein Ensemble musicAeterna folgen einer aufregenden Tempodramaturgie, und die meist vernachlässigten Rezitative gewinnen surreale Dringlichkeit.

Schon ganz zu Beginn wird Giovanni von den Erinnyen, den Rachegöttinnen, umkreist. Sie werden ihn später auf dem Friedhof ohne Beteiligung eines steinernen Kasperls halb zu Tode würgen. Die Personen haben oft ihre Obsessionen in der Gestalt von Symbolen und Allegorien geschultert. Diese Bilder sind von enormer Wucht und doch von solcher Schönheit und Schlüssigkeit, dass sie sich rätselhaft diskret in den Dienst des Ganzen stellen.

Davide Lucianos Giovanni, von der Regie mit Bedacht um die Draufgängerglorie gebracht, lässt dennoch nichts vermissen, Vito Priante ist ein guter Leporello, Mika Kares ein verlässlicher Komtur. Der Clou unter den Männern ist allerdings der herrlich singende Ottavio von Michael Spyres. Diese groteske Gestalt -ein Würstel, dem die schönsten Arien zugedacht sind - wird zum surrealen Popanz erhöht. Nadezhda Pavlovas Anna ist eine Vokalartistin von raumverdrängender Expressivität. Und Federica Lombardis Elvira bleibt die Inhaberin der schönsten Mozart-Stimme unserer Zeit.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 30/2021.