Ein "Rosenkavalier" und ein Hilferuf, persönlich an Sie

Wann waren Sie zuletzt in der Volksoper? Die jüngste, riskante Premiere steht dafür. Und lassen Sie, um Gottes Willen, die Theater nicht im Stich. Zumindest aus virologischer Sicht gibt es keinen Grund, sie zu meiden.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Einen gar nicht üblen "Rosenkavalier" in der Volksoper kann ich Ihnen empfehlen, ohne dass ich mit seiner Empfehlenswürdigkeit a priori gerechnet hätte. Wo doch einen Bezirk weiter südöstlich der Originalklang daheim ist, ein Richard- Strauss-Orchester, das seit der Entstehungszeit des Werks nicht seinesgleichen hat. Dazu Otto Schenks Inszenierung, die seit April 1968 über die Zeiten und Kulturkreise beispiellos blieb. Auch, weil in jeder Kostümfalte die Musikgeschichte nistet: Böhm, Bernstein, Kleiber, Thielemann, Welser-Möst, nicht zu reden von den Sängern. Ich habe mir im Staatsopern-Archiv meinen eigenen Debüt-"Rosenkavalier" vom 20. September 1969 ausgehoben. Äußerst lehrreich, wie sich da unter dem inspirierten Routinier Hans Wallat Weltklasse mit einer exquisiten Hausbesetzung mischte. Damals war sogar noch beides in Personalunion verfügbar: Leonie Rysanek, meine erste Marschallin, reiste aus Bayreuth und von der Met an und gehörte doch ins Ensemble ihrer Geburtsstadt, wo ihr Landsmann Otto Edelmann, ein epochemitbestimmender Ochs, seine Weltkarriere ausklingen lassen konnte. Renate Holm, die Sophie, war ein Fernsehstar und sang herrlich, und die Kroatin Gertrude Jahn, der Octavian, verkörperte das Ideal einer Hausbesetzung, von der man heute nur träumen könnte.

Ich war von der Schönheit des Erlebten derart überwältigt, dass ich nach fast vier Stunden Stehparterre zu Fuß heim nach Dornbach rannte, weil ich die Mitpassagiere im Dreiundvierziger ungern mit einer Heul-Performance unterhalten wollte.

Solche Entäußerungen wollten sich bei mir am vergangenen Sonntag (naturgemäß nach weit mehr als 100 "Rosenkavalieren" seit 1969) nicht einstellen. Eher war ich noch in der ersten Pause zu erheblichen Unfreundlichkeiten gegenüber dem Orchester unter Hans Graf entschlossen. Musste man denn just diese wahrhaft vertrackte Partitur an den Gürtel transferieren? So nahm sich das Vorspiel aus, als wäre es mit Blockbuchstaben an die Wand geschrieben. Aber das Stück hat eine solche Magie und Betörungskraft, dass die Aufführung mindestens auf den letzten zehn Metern, mit und nach dem Terzett, auch im Graben blühte.

Da entwickelte auch Josef Ernst Köpplingers zunächst schätzenswert solide Inszenierung eine ans Herz rührende, fein sentimentale Melancholie. Und besetzen kann man das Werk an der Volksoper beachtlich. Jacqueline Wagner, Thielemanns Eva und Elsa, ist eine erstklassige Marschallin, Lauren Urquhart eine konkurrenzfähige Sophie, Emma Sventelius ein guter, wenn auch eine Spur keifstimmiger Octavian; Morten Frank Larsen, so wie auch Karl-Michael Ebner, luxusbesetzt; und Stefan Cerny Abwägungssache. Als Gestalt ist dieser Ochs auch ein Coup der Regie: ein Slimfit-Prolet in Genagelten, wie sie uns zuletzt politischerseits heimgesucht haben, dazu Inhaber einer riesengroßen, tiefensicheren, aber auch blechernen und unedlen Bassstimme.

Suchen Sie es sich also aus, rufen Sie Bravo oder runzeln Sie die Stirn - aber gehen Sie, um Gottes Willen! Gehen Sie, wonach Ihnen der Sinn steht: wenn Sie größere Menschenansammlungen scheuen, in eine durchschnittliche Vorstellung des Burgtheaters; wenn Sie quasi eine Privatvorstellung für sich und Ihre Lieben wünschen, ins Volkstheater; wenn Sie (zum Beispiel) nicht älter als 27 sind, auf eine Jugendkarte in die Staatsoper, wo man dem Ausfall amerikanischer und japanischer Touristen mit Fortüne und Einfallsreichtum begegnet und sich das Publikum von morgen holt. Versäumen Sie nicht den tollen "Bockerer" in der "Josefstadt" und schließen Sie - womit wir wieder beim Thema im engeren Sinn sind -die Volksoper von Ihrer Begeisterung nicht aus. Es kann nicht sein, dass in der Stadt der Uraufführung die "Zauberflöte" keine Zuschauer findet (nehmen Sie nur kein Kind dorthin mit, das ist ein langes, rätselhaftes, alles andere als kindgerechtes Mysterienspiel).

Das Haus ist in guter Verfassung, laboriert aber derzeit, wie die "Josefstadt", an seinem Atout: Das Stammpublikum ist treu, aber nicht blutjung, und deshalb in Angst um Gesundheit und Leben. Gerade unter diesen Umständen ist das Theater allerdings der zweitempfehlenswerteste Aufenthaltsort nach der Hochsicherheitsquarantänestation: Sie befinden sich unter ausnahmslos Genesenen oder zwei Mal Geimpften, und wenn Ihnen danach ist, reißt Ihnen keiner die Maske vom Gesicht (ich trage sie prinzipiell). Wäre doch eine Schande, wenn wir Kulturverliebten uns von einem zweitklassigen Virus die Theater niederbomben ließen.