Shenzhen: Die Welt von übermorgen

Vom Fischerdorf zur Hightech-Boomtown: Shenzhen gilt als eine der innovativsten, jüngsten und nachhaltigsten Metropolen der Welt. Wer wissen will, welche Technologien uns künftig prägen werden, muss in die 20-Millionen-Stadt schauen, sagt China-Experte Frank Sieren. Er warnt: Im neuen Silicon Valley läuft man sich gerade erst warm. Und er rät Europa: genau hinschauen, nicht nur entspannt abwarten.

von Hightech-Boomtown - Shenzhen: Die Welt von übermorgen © Bild: Getty Images
Der Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer Frank Sieren lebt seit 27 Jahren in China und gilt als einer der führenden deutschsprachigen China-Experten. Sieren hat bereits mehrere Bestseller (z.B. "Zukunft? China!"*) veröffentlicht und u. a. für Zeitungen wie die "Süddeutsche Zeitung" und Zeitschriften wie "Die Zeit" und "Der Spiegel" geschrieben.
© Gregor Koppenburg

Nach drei Jahren ist erst mal Schluss. Die Stadt Wien stellt den Testbetrieb für autonom fahrende E-Busse in der "Smart City" Seestadt Aspern wieder ein. Ein weiterer Einsatz sei nicht geplant, heißt es. Man beobachte den Markt aber weiter. Nun, für eine weitere Beobachtungen bietet sich ein Blick in die Welthauptstadt der Innovation an. In Shenzhen, 17 Kilometer Luftlinie von Hongkong entfernt, sind etwa autonom fahrende Taxis längst gang und gäbe. Und nicht nur das. Noch in den 80er-Jahren ein verschlafenes Fischerdörfchen, gilt Shenzhen heute als Welthauptstadt der Innovation. Ein Streifzug durch eine junge, innovative, nachhaltige - und ja, auch eine bis in den letzten Winkel überwachte Stadt.

Herr Sieren, Shenzhen hat die drittgrößte Wirtschaftskraft in China, die Börse ist wertvoller als die Londoner und der Hafen viermal so groß wie der von Hamburg. Huawei sitzt hier und jede Menge anderer Unternehmen mit bahnbrechenden Erfindungen. Shenzhen ist eine der jüngsten Städte der Welt, eine Stadt der Superlative sowieso. Was sollten unsere Leser noch wissen?
Diese Stadt ist das neue Silicon Valley! Immer mehr Innovationen kommen aus dieser Stadt. Wir müssen lernen, uns sehr früh mit diesen Innovationen wie autonomem Fahren, Passagierdrohnen oder Arztrobotern zu beschäftigen, weil die für unsere Leben durchaus relevant sind. Je früher wir uns damit beschäftigen, desto mehr Spielraum haben wir, diese Innovationen an unsere Gesellschaften, Werte und Vorstellungen anzupassen. China war ja lange nur die Fabrik der Welt: Wir haben die Dinge erfunden, und die Chinesen haben das in einer Topqualität hergestellt. Jetzt entwickeln die Chinesen wieder selber, wie in früheren Jahrhunderten. Da kommt noch viel auf uns zu. Sie laufen sich gerade erst warm.

Wie weit ist uns China voraus? Sehen wir noch die Rücklichter?
Natürlich haben sie uns nicht in allen Bereichen überholt. Aber es ist zum ersten Mal seit langer Zeit - China war ja schon einmal Innovationsmacht -, dass sie relevante, bahnbrechende Innovationen haben. Die besten E-Batterien kommen inzwischen aus China. Das Zentrum dieser Technologie liegt in China -und zwar in dieser Stadt namens Shenzhen. Ein anderes Thema ist 5G, also die Vernetzung und das Internet der Dinge. Das ist für den europäischen Mittelstand von großer Bedeutung, aber auch für unseren Alltag. Das 5G von Huawei ist das fortschrittlichste 5G weltweit. Auch beim autonomen Fahren sind die Chinesen vorn. Sie haben den Vorteil, dass sie sehr viel schneller mit den sehr vielen Menschen, die sie nun mal haben, Daten generieren können und damit in der Lage sind, ihre Technologie und ihre Software über künstliche Intelligenz zu verbessern. Aber wir sind noch nicht komplett abgehängt. Nur wenn wir den Fortschritt und die Innovation in anderen Teilen der Welt weiter ignorieren, verlieren wir an Wettbewerbsfähigkeit. Wir sitzen dann nicht mehr am Tisch, wenn die neue Weltordnung ausgehandelt wird.

© Kevin Frayer/Getty Images Keine Spur von Hightech: Der Firmencampus von Huawei bei Shenzhen ist in Nachbauten von zwölf europäischen Sehenswürdigkeiten bzw. Regionen von Paris bis Bologna untergebracht

Shenzhen ist die Welthauptstadt der Elektromobilität. Keine andere Stadt verfügt über so viele E-Taxis und E-Busse. In Wien hat man gerade einen Testbetrieb für autonom fahrende E-Busse eingestellt. Der Markt soll jetzt weiter beobachtet werden. Was lässt sich denn in Shenzhen beobachten?
Autonom fahrende Taxis sind längst gang und gäbe. Da sitzt kein Sicherheitsfahrer mehr drin. Die Taxis sind seit Anfang Januar in dieser großen Stadt alleine unterwegs. Das hat enorme Vorteile. Wenn diese Technologie ausgereift ist - und sie ist schon ziemlich weit -, wird es zum Beispiel praktisch unmöglich sein, einen Fahrradfahrer umzufahren. Weil das Auto diesen Radfahrer gar nicht an sich ranlässt und dem sofort ausweicht. Diese Fahrsoftware wird auch nie müde, ist nie abgelenkt, nie wütend. Insofern wird das Autofahren viel sicherer, viel verlässlicher. Man kann das Autofahren auch besser planen. Es gibt weniger Staus. Meine Freizeit beginnt in dem Moment, wo ich mich in ein Auto setze, weil ich mich nicht mehr um den Verkehr kümmern muss. Das ist eine Entwicklung, die unser Leben stark verändern wird. Sie wird so einschneidend sein wie der Übergang von der Pferdekutsche zum Auto. Nun wird nicht das Pferd überflüssig, sondern der Fahrer.

Auch der Weltmarktführer für Drohnen sitzt in Shenzhen ...
Ja. Das ist die chinesische Firma DJI. Sie hat etwa 70 Prozent des Weltmarktes und sitzt am Stadtrand von Shenzhen. In der Nachbarstadt Guangzhou sitzt Ehang. Das Unternehmen zählt zu den führenden Flugtaxiherstellern. Da können vier Leute drinnen sitzen und die fliegen auch schon zu Testzwecken in der Stadt herum. Wenn es darum geht, Pakete zu verteilen, sind die Drohnen schon im Alltag im Einsatz. Das wird praktiziert, ist aber noch kein Massenprodukt. Mit einem autonomen Taxi bin ich schon gefahren. Mit einer Drohne aber noch nicht geflogen. Das werde ich demnächst tun.

Wie das Auto in Zukunft aussehen wird, kann man ebenfalls eher in Shenzhen sehen, schreiben Sie. Erzählen Sie mal!
Das moderne Auto besteht hauptsächlich aus drei Komponenten: einer sicheren, langlebigen, schnell aufladbaren Batterie, digitaler Vernetzung und Design. Beim Design sind wir in Europa noch weit vorne. Aber Designer kann man einkaufen. Die Frage wird sein, ob man überhaupt noch ein Auto besitzen wird. Es kommen chinesische Marken wie Lynk &Co auf den europäischen Markt, die sagen: "Für 500 Euro im Monat kannst du das Auto mieten und wir übernehmen alle Kosten außer Benzin." Das sind etwa 1,2 Prozent des Kaufpreises. Man hat keine Reparaturkosten und braucht keine Versicherung. Und man kann sein Auto untervermieten, wenn man es nicht braucht. Die haben nämlich eine Tausch- und Mietbörse. Ich kann mit meinem Auto also auch noch Geld verdienen, und alles wird vom Hersteller organisiert.

© MVRDV 2018 – (Winy Maas, Jacob van Rijs, Nathalie de Vries) Nichts ist unmöglich: Die weltbesten Architekten und Stadtplaner toben sich derzeit in Shenzhen aus - egal, ob im Wohn- und Bürobau, bei Einkaufszentren oder Mixed-Use-Komplexen wie den "gestapelten Terrassen"

Warum gelingt es den Chinesen, so vorauszudenken?
Das ist die pure Not der Entwicklungsgeschwindigkeit. Die sind nicht schlauer als wir, aber sie sind mehr. Also gibt es auch mehr Schlaue. Und sie haben einen viel größeren Entwicklungsdruck -zum Beispiel beim autonomen Fahren, weil eben die Städte voll sind und dieses Land mit sechs Prozent wächst. Alle wollen ein Auto haben, viele haben noch keines. Also ist der Druck viel größer, auf Batterie umzustellen. In Shenzhen fahren alle Taxis - 23.000 - und alle Busse - nämlich 16.000 -seit einigen Jahren schon auf Strom. Jetzt kommen die Lastwagen dran. Die Umweltverschmutzung war so groß, dass der Staat gesagt hat: "Jetzt ist Schluss." Und es gibt in diesem Land -und das ist auch ein Unterschied zu Europa - eine viel größere Offenheit für neue Technologien. Einen größeren Hunger nach Neuem. Man fragt sich nicht: "Will ich das? Muss das sein? Ich will aber selber Auto fahren."

»Wir müssen lernen, uns früh mit Innovationen wie autonomem Fahren, Passagierdrohnen oder Arztrobotern zu beschäftigen«

Mehr Offenheit und mehr Neugier würden uns fürs Erste reichen?
Wir müssen die Start-up-Kultur ausbauen und eine Mentalität schaffen, wo man Ideen ausprobieren und Fehler machen kann. Diese Mentalität muss wieder in die ganze Gesellschaft ausstrahlen. Wenn wir das nicht tun, ist Europa irgendwann der Freizeitpark der Asiaten. Das geht, wie man in Österreich sieht. Da gibt es ganze Täler, die leben sehr gut davon, dass sie der Freizeitpark sind. Und wir müssen früher hingucken und auch früher sagen: "Stopp, das wollen wir, das wollen wir nicht." Und nicht: "Wie können wir die chinesische Technologie verhindern, weil die aus einem politischen System kommt, das uns nicht passt?" Wir müssen diese Technologie an unser Wertesystem adaptieren.

Keine Metropole ist so eng mit dem Thema künstliche Intelligenz verwoben wie Shenzhen. Was heißt das im Alltag?
Das bedeutet, dass etwa beim autonomen Fahren ein Computer die Erfahrung von unzähligen Fahrern hat und nicht nur von einem. Aufgrund dieser vielen Erfahrungen trifft der Computer Entscheidungen, von denen wir unter Umständen gar nicht mehr nachvollziehen können, wie sie entstanden sind. Ein anderes Beispiel ist die Medizin. Es gibt in China inzwischen Arztroboter, die sehr viel besser in der Lage sind, Erstdiagnosen zu machen, weil sie im Grunde das Wissen von Zehntausenden Spezialisten und Diagnosen screenen und zusammenfassen können. Der Arzt hat dann mehr Zeit, sich um den Patienten zu kümmern.

© VCG via Getty Images Roboter sind im Alltag schon relativ häufig anzutreffen. Sie kochen, sie weisen den Weg, sie desinfizieren Straßen und sie erstellen Diagnosen im Krankheitsfall

Roboter haben auch in den Küchen das Sagen, oder?
In der Nähe von Shenzhen gibt es ein Restaurant, da kochen Roboter. Das findet jemand, der gewohnt ist, zu einem gemütlichen Italiener zu gehen, erst mal etwas abschreckend. Aber der Roboter kocht nicht irgendwelches Fast Food, sondern der kocht alte, traditionelle Gerichte. Der Roboter kocht dieses Gericht ungefähr tausendmal auf Anweisung eines menschlichen Kochs, bis die Software so ist, wie es sein muss. Das schmeckt wirklich supergut. Und es schmeckt immer gleich. Der Vorteil ist, dass dadurch die Tradition alter Gerichte bewahrt wird und die Gerichte nicht verloren gehen. Was fehlt, ist der persönliche Kontakt zum Koch oder zur Besitzerin des Restaurants. Aber unter Umständen kommt am Ende eine Synthese heraus, nämlich dass es immer noch einen Chefkoch gibt, der die Roboter überwacht, die in einer viel besseren Qualität das Essen herstellen können, als das ein normaler Koch mit guter oder schlechter Laune überhaupt kann.

»Die sind nicht schlauer als wir. Aber sie sind mehr. Und sie haben einen viel größeren Entwicklungsdruck«

Servieren auch Roboter?
Natürlich. Das ist schon vollkommen normal. Wenn ich im Hotel meine Zahnbürste vergessen habe, rufe ich in der Rezeption an und ein Roboter kommt vorbei. Der kann klingeln oder anklopfen. Er bringt Essen, er sammelt Essen ein. Das gibt es in China schon relativ häufig.

Bleiben wir beim Essen. Der weltweite Markt für künstliches Fleisch soll bis 2025 um 80 Prozent wachsen - auf über 20 Milliarden US-Dollar. Chinesische Player haben auch hier die Nase vorn. Shenzhen ist das Testlabor, wie pflanzliches Fleisch zum Massenprodukt werden kann, schreiben Sie in Ihrem Buch.
Dazu muss man sagen, dass die Geschichte des künstlichen Fleisches, das ja pflanzliches Fleisch ist, in Amerika angefangen hat. Aber die amerikanischen Hersteller stellen hauptsächlich Hamburger-Pattys her oder Würstchen und sie haben das Problem, dass sich das Thema in den USA nur sehr schleppend gesellschaftlich durchsetzen lässt. In China ist die Situation anders. Dort hat die Politik verstanden, dass nicht alle Chinesen gleich viel Fleisch pro Kopf essen können wie die Amerikaner. Das schafft die Welt klimatechnisch nicht. Also greift der Staat ein, damit diese neuen Produkte marktfähig werden. Um die Produkte zu testen, ist natürlich Shenzhen besonders geeignet, weil die Stadt zu den jüngsten Städten der Welt gehört. Die jungen Leute -das Durchschnittsalter liegt bei 29 - sind gegenüber neuen Trends offener. In Shenzhen gibt es Unternehmen, die alte Rezepte - handschriftliche Rezepte - sammeln, die zum Teil aus buddhistischen Klöstern kommen und auch schon mal über 1.000 Jahre alt sind. Diese werden nachgekocht und mittels neuer Technologien zu Massenprodukten verarbeitet, um damit auch eine Vielfalt an pflanzlichen Fleischprodukten herzustellen, die man braucht, damit das überhaupt funktionieren kann. Das ist ein Thema, um das wir wegen des Klimawandels nicht mehr herumkommen. Eine superspannende Entwicklung -und der nächste große Trend aus Shenzhen. Das pflanzliche Fleisch hat das Zeug, eine globale Soft Power Chinas zu werden.

© Bloomberg via Getty Images Nirgendwo sonst ist die Dichte an Überwachungskameras pro 100.000 Einwohner so hoch wie in der 20-Millionen-Stadt Shenzhen

Viele Trends gehen freilich auch mit Überwachung und einem enormen Sammeln von Daten einher. Gewöhnt man sich daran, dass man ständig "gescreent" wird?
Man gewöhnt sich erstaunlich schnell daran. Aber es ist verstörend, wenn man sich vorstellt, dass man sich in Shenzhen praktisch in keiner Ecke der Stadt bewegen kann, ohne dass dich eine Kamera einfangen kann. In London gibt es fast genauso viele Kameras wie in Shenzhen. London ist die einzige Stadt in den Top Ten mit der größten Kameradichte, die nicht in China liegt. Das hat große Vorteile, weil die Stadt total sicher ist. Das hat aber den Nachteil, dass man diese Kamerabilder verwenden kann, um politisch Andersdenkende zu verfolgen. Aber ich glaube, auch in China wird es zunehmend eine Datenschutzbewegung geben. Die Frage ist allerdings, ob die Datenschutzbewegung sich schneller entwickelt als die umfassende Überwachung. Die ist dadurch begrenzt, dass es dabei um so ungeheure Datenmengen geht, dass selbst ein gut ausgestatteter Staat nicht alle Daten screenen kann. Aber es ist derzeit schon möglich, sich einzelne unliebsame Leute rauszupicken und die umfassend zu überwachen. Eine verstörende Vorstellung.

In der Coronapandemie war diese Überwachung durchaus nützlich. Die Überwachungshelme der Polizei, die "Robocops", sind mit einer Infrarotkamera ausgestattet, die die Körpertemperatur von Passanten messen kann ...
In der Coronapandemie hat das dazu geführt, dass eine 20-Millionen-Stadt wie Shenzhen mit gut 500 Coronaerkrankten und drei Toten aus dieser Krise rausgekommen ist. Die hatten sehr schnell Überwachungsapps: Wenn jemand krank wurde, konnte man umgehend feststellen, mit wem er in Kontakt war. Man hat zudem Überwachungsdrohnen eingesetzt, um zu kontrollieren, wer draußen rumlaufen darf und wer nicht. Das alles hat allerdings einen Preis. Persönliche Daten werden abgegriffen. Der Datenschutz wird vorübergehend verletzt. Wenn die Krise vorbei ist, müssen wir eine Debatte darüber führen, ob unser Verhältnis zu Datenschutz in Deutschland oder Österreich und Pandemiebekämpfung am Ende das war, was der Freiheit der Menschen am wenigsten geschadet hat, oder ob wir uns nicht in dieser Hinsicht doch vielleicht ein Stück weit in Richtung dessen bewegen müssen, was in asiatischen Ländern passiert ist. Da rede ich nicht nur von China, sondern auch von Demokratien wie Südkorea und Japan.

STADT DER SUPERLATIVE

Geschätzt 20 Millionen Menschen leben in Shenzhen. Das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren. 8.000 Menschen leben hier auf einem Quadratkilometer - das ist vergleichbar mit Mumbai.

Alle Taxis (21.000) und Busse (16.000) fahren mit Strom. Das ist weltweit einzigartig. Derzeit werden die Lkw umgestellt. Es gibt 60.000 Ladestationen, darunter auch eine der größten E-Auto-Ladetankstellen der Welt. 5.000 Fahrzeuge können hier gleichzeitig aufgeladen werden.

Für Radfahrer wurde entlang der Küste eine 14 Kilometer lange Fahrrad-Autobahn gebaut. Klassische Motorräder sind bereits seit 17 Jahren verboten.

Mit 360 Produzenten ist Shenzhen auch die Welthauptstadt der Drohnenhersteller. Der weltgrößte Produzent DJI versorgt 70 Prozent des Weltmarktes.

Das Foodom Robotic Restaurant wurde im Sommer 2020 eröffnet und ist das erste Roboterrestaurant in China. Hier sind alle Mitarbeiter Roboter.

Täglich werden in Shenzhen 15.000 Tonnen Müll produziert. Zum Vergleich: 1979 waren es 50 Tonnen, die auf Halden oder ins Meer gekippt wurden. Jetzt wird um 560 Millionen US-Dollar die größte Müllverbrennungsanlage der Welt gebaut.

Innerhalb eines Jahres werden in Shenzhen so viele Hochhäuser gebaut wie in den USA in zehn Jahren. Eine Million Quadratmeter Bürofläche kommen pro Jahr dazu. Mit 599 Metern Höhe ist das Hochhaus des Versicherers Ping An Insurance das höchste Bürogebäude der Welt.

Shenzhen hat einen starken Zuzug. Was kann man in Sachen Stadtplanung lernen?
Viel. Dazu muss man allerdings eine Einschränkung machen. Die hatten dort einen großen Vorteil, weil sie nämlich von null angefangen konnten. Zu den innovativsten Hochhäusern der Welt gehören die Hochhäuser, die derzeit in Shenzhen gebaut werden. Dort sind die besten Architekten weltweit dabei, neue Konzepte auszuprobieren. Also wie müssen Wohnungen aussehen, die ein Homeoffice haben? Kann man Wohnen und Arbeiten in einem Hochhaus unterbringen? Der Stararchitekt Ole Scheeren zum Beispiel hat ein Hochhaus flach gelegt, weil er gesagt hat, in kleinen, aufeinandergestapelten Etagen entsteht keine "Kiezkultur", wie man in Berlin sagt. Also hat er Etagen von der Größe von zwei Fußballfeldern entworfen und in sechs Etagen übereinandergestapelt. Diese Etagen sind diagonal durchzogen durch eine Art Fußgängerzone. Was es auch gibt: ganz neue Formen von Bildschirmen bzw. Mischungen von Bildschirmen und Papier. Das sind ganz dünne Folien, die von der Firma Royole erfunden wurden. Da kann man durchgucken und trotzdem beispielsweise Fernsehen schauen. Einen Bildschirm wird man folglich nicht mehr brauchen. Man wird einfach eine Folie irgendwo hinlegen und kann sogar darauf tippen. Wenn man überhaupt noch tippen wird. Die Innovationsspezialisten in Shenzhen gehen davon aus, dass wir nur noch sprechen werden und die Sprache dann von einer Software verschriftlicht wird. Bei internationalen Sprachen ist man schon so weit, dass man sich nur einen Knopf ins Ohr tun kann und dann eine simultane Übersetzung bekommt. Ich kann mich also mit einem Finnen oder Koreaner ganz normal unterhalten, weil mir das simultan übersetzt wird. Das sind Entwicklungen, wo man ein Gefühl bekommen kann, wo es hingeht.

© VCG via Getty Images Autonom fahrende Taxis sind längst gang und gäbe. Auch Flugtaxis fliegen bereits zu Testzwecken in der Stadt herum

Und wohin geht die Reise? Schließlich ist das, was wir gerade in Shenzhen sehen, erst der Anfang.
Die Reise geht in die Richtung, dass China wieder so innovativ sein wird, wie es eigentlich die meiste Zeit in seiner Geschichte war - also ein Zentrum der globalen Innovation. Nur in den letzten 200 Jahren ist das Land aus dem Tritt gekommen. Und warum ist es aus dem Tritt gekommen? Weil die chinesische Politik, aber auch die Öffentlichkeit so überheblich und lethargisch war, dass sie Innovationen in anderen Teilen der Welt nicht wahrgenommen hat. So kam es, dass die Chinesen mal eben die industrielle Revolution verpasst haben. Dadurch wurden sie wirtschaftlich schwächer. Das Geld ging aus. Wenn Sie fragen, wohin unsere Reise geht, muss man ganz klar sagen, wenn wir auch so überheblich wären und die Innovation ignorieren, dann ist es möglich, dass wir wirtschaftlich in Schwierigkeiten geraten. Wir müssen üben, uns früher mit Innovation zu beschäftigen, und nicht sagen: "Das will ich nicht." Oder wie Donald Trump versuchen, die Innovation zu verhindern. Wir müssen eine neue Offenheit entwickeln und akzeptieren, dass die Innovationen nicht mehr nur aus dem Westen kommen wie in den letzten 200 Jahren, sondern wie früher aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Und eben immer mehr aus China.

Wohnen, Bewegen, Überwachsen, Vernetzen, Essen: Anhand verschiedener Kapitel stellt Frank Sieren in "Shenzhen. Zukunft Made in China"* (Penguin Verlag, 22,70 €) das Silicon Valley von China vor.

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Und wo hat Europa noch die Nase vorn?
Grundsätzlich sind wir in Europa bei der Grundlagenforschung noch viel weiter als China. Die Chinesen sind sehr gut, daraus Massenprodukte zu machen und sie dabei weiterzuentwickeln. Die Chinesen haben ja auch 5G nicht erfunden. Oder die Autobatterie. Wenn wir unsere Grundlagenforschung mit dem Pragmatismus der Chinesen zusammentun, kann das eine tolle Synthese werden. Aber wir müssen wieder neugieriger werden und offener für Veränderungen. Nur so können wir das, was uns an Werten lieb und teuer ist, bewahren. Das klingt ein wenig widersprüchlich. Aber ein anderer Weg ist nicht in Sicht.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 31+32/2021.