Sexy bis zur Unkenntlichkeit

von Dr. Monika Wogrolly © Bild: Matt Observe/News

Wer ist diese Frau auf der Facebook-Seite meiner alten Bekannten? Hat jemand Valeries Facebook-Konto gehackt? Sich ihrer Seite, ihres Namens und ihrer Identität bemächtigt? Oder hatte Valerie einen Unfall, und der neue Anblick ist das Ergebnis einer Gesichtstransplantation?

Ich zeige eins der aktuellen Facebook-Selfies meiner Bekannten Valerie dem plastischen Chirurgen Thomas Rappl. Und dann ein Foto von ihr, wie ich sie kenne. Vor einem Jahr sah sie sich noch ähnlich, mit Lachfältchen, dezent durchschimmernden Falten von den Mundwinkeln abwärts, aber noch durchaus entspannt wirkend und attraktiv, sympathisch, anziehend. Mediziner Thomas Rappl geht auf dem Vorher-und Nachher-Bild die Gesichtsregionen durch. Ist Valerie ein anderer Mensch geworden? Sehr anders, sagt Rappl mit einem sympathischen Stirnrunzeln. Aber kommen wir zu Valeries Stirn: Absolut geglättet und faltenfrei mit einem Augenbrauenlifting für einen offenen klaren Blick. Von der neuen Version von Valerie fühle ich mich jedoch eher wie mit Vogelblick angestarrt. Die Augenfarbe ist ihre, immerhin, aber der Gesichtsausdruck ohne die markanten Schlupflider, die sie schon immer hatte und die keineswegs Symptom des Verfalls gewesen sind, wirkt kalt und synthetisch. Von den Fake-Wimpern und viel höher als ihre natürlichen gesetzten permanenten Augenbrauen ganz zu schweigen. Viele operierte Frauen sehen so aus, als ob sie alle blutsverwandt wären mit analoger Lippendicke, Nasenform und gepolsterten oder angehobenen Wangen, geschmälertem Kinn. All das ist auch bei Valerie der medial indoktrinierten Idealform angeglichen. Der minimale Höcker ist weg aus ihrer jetzt perfekten Nase, ihre Wangen sind glatt wie Schwimmflügel, und ihre Lippen, die sehr schmal und gotisch waren, sind ums Dreifache im Volumen gewachsen. Es wirkt so, als hätte sie einen dauerhaft fettigen Mund und würde bei entspannter Gesichtsmuskulatur erschrocken dreinsehen oder staunen.

Was soll ich von der alterslosen Frau, vielleicht einer Nichte dritten Grades von Valerie, halten? In meinen Augen hat sie sich heimlich davongemacht. Solch einer ganz ihren eigentlichen Typ auflösenden Rundum-OP unterziehen sich Menschen, die unterschiedliche Motive haben:

  • Wettbewerb: so auszusehen, wie man offenbar heute aussehen muss, um geliebt zu werden und erfolgreich zu sein.
  • Selbstwert: sich selbst wieder zu gefallen und das Äußere mit der OP und den Eingriffen zu sanieren oder optimieren.
  • Ewige Jugend: dem Alter zu trotzen und jugendlich frisch zu sein.

Es gibt noch andere Motive wie von jungen Internet-und Social-Media-Berühmtheiten, die mit ihrem selbstgeschaffenen Aussehen die absolute Freiheit und Selbstbestimmtheit proklamieren: Grenzenlose Machbarkeit nach dem Motto: "Und wenn es mir gefällt, spiele ich Gott und erschaffe mir mein Wunschaussehen". Die radikal rundum operierte Influencerin Katja erscheint neben dem hingegen offenbar nur im gewohnten Aussehen konservierten Dieter Bohlen bei einem TV-Format als eine Ikone der Selbstbestimmung, indem sie sich mit Mitte zwanzig kaum noch ähnlich sieht und laut Medienberichten damit Aufmerksamkeit für ihre sozialkritischen "Contents" provozieren will. Und sich und ihrer Botschaft mit unnatürlich dicker, ja bewusst comicartiger Lippe umso mehr Aufmerksamkeit sichert. Das pseudoliberale Gesetz der Selbstfürsorge dahinter: So lange man niemandem damit schadet, soll man sich doch optisch transformieren lassen, wie man will.

Bei einer TV-Show begegnete ich schon einmal einem jungen Mann mit Teufelshornimplantaten unter der Kopfhaut und dreidimensionalen Echsenschuppen- Implantaten auf seinem Rücken. Er betrachtete sich wohl als Rebell und lebendes Gesamtkunstwerk. Dass gleich viel Selbstunsicherheit und der verzweifelte Appell nach Wahrnehmung, Geborgenheit und Liebe dahinter stehen mögen oder wenigstens nach negativer Aufmerksamkeit, wird selten mitgedacht. Und dass es ein Symptom unserer säkularisierten Zeit ist, sich selbst wie sein eigener Schöpfer oder seine Erschafferin nach den gängigen Idealvorstellungen und je nach Bedarf chirurgisch und kosmetisch umzuwandeln.

Wir leben in einer Zeit der sozialen Isolation und der kollektiven Einsamkeit, in der wir zugleich immer irgendwie vernetzt und verbunden sind. Irgendwann werden uns Handys aus Handflächen oder Fingern wachsen, haben wir selbst Antennen; von implantierten Chips brauchen wir gar nicht erst zu reden. Wo führt das hin? Wo kommt das her? "Perfektionismus", sagt Doktor Rappl nachdenklich. Was tun?

Fazit: Lassen Sie sich die Zornesfalte wegmachen, um nicht böse auszusehen, aber bleiben Sie innerlich und äußerlich auch im fortgeschrittenen Alter Sie selbst - in Ihren naturgegebenen Grundzügen. Aber noch besser: Üben Sie sich in Selbstakzeptanz und Lebensfreude, anstatt Ihr individuelles Aussehen für einen Standardlook zu opfern.

Bei Valeries Facebook-Selfies befällt mich tatsächlich ein Gefühl von tiefem Entsetzen und Trauer. Wo ist das Gesicht, das ich kannte, das Erinnerungen und Gefühle weckt? Und was ist in oder mit ihr passiert, dass sie sich nicht mehr so annehmen und akzeptieren konnte?

Schönheitsspezialist Thomas Rappl bringt meine Kritik auf den Punkt. Ein guter Beauty-Doc erhalte das natürliche Aussehen. Er optimiere den natürlichen Ausdruck. Aber erschaffe keinen neuen Menschen, der kaum noch an sich erinnern würde. Es gibt keinen Grund, sich nicht einmal mehr ähnlich zu sehen. Stars und Models werden gerade für Abweichungen von der Norm und kleine Makel in Erinnerung bleiben und bewundert.

Traurig, wenn man wie bei einer fortschreitenden Demenz im Fall der optischen Verwandlung mit seiner äußeren Erscheinung aus Scham, weil die Nase nicht perfekt ist, die Lippen zu schmal sind, schon zu Lebzeiten von dieser Erde verschwindet. Das ist wie eine universale Selbstkorrektur und Auslöschung, als wäre das natürliche Erscheinungsbild ein Fehler der Natur und müsste bis zur Unkenntlichkeit ausgebessert und an bestehende ästhetische Normen angeglichen werden.

Mal ehrlich: Wenn eine Person sich mit ihrem "normalen Aussehen" zu wenig sexy fühlt, bedeutet das einen inneren Konflikt, der nicht durch Äußerlichkeiten zu lösen ist. Viel wichtiger als neue Lippen oder Brüste ist die Fähigkeit zur Selbstakzeptanz, die Sie bitte schon Ihren Kindern vermitteln. Wenn Valerie diese Gabe gehabt hätte, würde jetzt nicht diese puppenhafte Fremde mit kalten Augen von ihrem Facebook-Konto starren, sondern eine schöne und entspannte Person mit dem Mut zu gesunden Grenzen.

Haben Sie noch Fragen?
Schreiben Sie mir bitte: praxis <AT> wogrollymonika.at