Warum bestraft sie ihn mit Abstinenz?

Wilhelm, 62, versteht die Welt und vor allem seine Langzeitbeziehung nicht mehr. Nach erfüllten Beziehungsjahren hat Sybille, 53, plötzlich keine Lust auf Sex. Die Frau, die eine Granate im Bett war, ist gleichsam über Nacht frigide geworden? Oder sind es die Wechseljahre? Ach was: Wilhelm ist sich ganz sicher, dass sie ihn mit Sexentzug bestraft.

von Liebes Leben - Warum bestraft sie ihn mit Abstinenz? © Bild: Nathan Murrell

Und so ganz unrecht haben Menschen wie Wilhelm nicht, wenn sie eine geheime Botschaft in der Verhaltensänderung vermuten wie: "Nimm mich (wieder) wahr!" Der Appell kann auch anders lauten. Er erfolgt, wenn etwas erwartet oder versprochen, dann ignoriert und nicht eingehalten wurde. Und dann, ja dann ist das Ende jedes Dialogs und offen ausgetragenen Konflikts erreicht. Der Konflikt ist damit aber noch lang nicht ausgeräumt. Kennen Sie dieses Unbehagen, wenn man mit dem vertrautesten Menschen nicht reden kann?

Dann wissen Sie genau, wie sich das anfühlt: Sie wollen ihm etwas sagen, nicht irgendwas, sondern die zentrale Botschaft der Liebe, Sie wollen Ihre Wünsche und Bedürfnisse vermitteln, aber es stockt. Es geht einfach nicht. Sie spüren, Ihre Worte würden wie ein Mückenschwarm auf einer Radtour am Neusiedler See höchstens unverständlich und lästig auf Ihren Partner wirken, nicht richtig oder, noch schlimmer, überhaupt nicht gehört und empfangen werden. Dieses Sackgassen-Gefühl in Beziehungen ist frustrierend, aber wahr!

Das lenkt den Blick auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein, der in der Gegend von Kirchberg am Wechsel und St. Corona als Volksschullehrer aktiv war. Aber eigentlich kennt man ihn als Sprachphilosophen des "Tractatus logico-philosophicus", in dem es heißt: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Gut, es gibt konstruktives Schweigen, eine sinnvolle Abstinenz, zum Beispiel Handyfasten. Und Sie werden lachen, aber manchmal wirkt es Wunder, von außen, zum Beispiel von einer Paartherapeutin, Sexkarenz, also längerfristige sexuelle Abstinenz, auferlegt zu bekommen.

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Und dann geschieht nämlich oft das vollkommen Unerwartete: Auf einmal geht die Post ab. Und werden negative Gefühle, die sonst die Beziehung lähmen, offen ausgesprochen und bestenfalls in der Paartherapie versprüht. Die Sexabstinenz ist eine "paradoxe Intervention", eine gerade in der Sexualtherapie bewährte Methode, Menschen wieder erotisch zusammenzubringen. Sybille eröffnet Wilhelm in der gemeinsamen Paartherapie, dass er sich ein für alle Mal abschminken könne, sich nur die Rosinen aus dem Kuchen zu picken und Sex mit ihr zu haben, ohne Verantwortung zu übernehmen und ihr keinerlei Zukunftsperspektive zu verschaffen.

Und Wilhelm? Der fällt aus allen Wolken. Sybille hat ihn die ganzen Jahre nichts davon wissen, geschweige denn spüren lassen. Er und sein bestes Stück haben ihr doch immer gedient. Und damit war alles gut gewesen? Und Sybille? Die Kalkulation, sich ihm grenzenlos hinzugeben und dann im Gegenzug grenzenlos geliebt und geheiratet zu werden, geht nicht auf. Denn es war getreu Wittgenstein nie darüber gesprochen, sondern hartnäckig geschwiegen worden. Verbale Abstinenz ist somit eine Katastrophe! Scheidungsgeschädigt leidet Wilhelm unter Bindungsangst und will mal lieber unverbindlich. Er versteht Sybilles Sexentzug als Strafe, nicht als Appell.

Die beiden vereinbaren getrennte Wege. Und vielleicht wird ihnen ja in der Beziehungskarenz klar, was sie aufgegeben haben und ob es sich nicht lohnt, nochmal Schwung zu nehmen, statt für eine Freundschaft plus nochmals für die wahre Liebe.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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