Sex ohne Nähe

Unter "Cybersex" werden sexuelle Interaktionen zwischen mindestens zwei Personen verstanden, die räumlich voneinander getrennt sind und über Computer miteinander über Sex reden, schreiben oder anderweitig online sexuell aktiv sind.

von Liebes Leben - Sex ohne Nähe © Bild: Nathan Murrell

Othmar bekennt sich zu seiner Cyberliebe und schwört auf textbasierten Cybersex. Neben dem Chat nutzen Othmar in Österreich und Mary in Australien die audio- und videounterstützte Übertragung. Und gerade das bringt ihnen eine neue Freiheit der Kommunikation und muss kein Mangel sein. Durch die Covid-19-Pandemie wurden Liebesbeziehungen und sexuelle Interaktionen zunehmend in den virtuellen Raum verlagert. Es gibt schon viele Menschen, die sich als Paar verstehen, ohne einander jemals real und "nicht nur online" begegnet zu sein. Ein neuer Realitätsbegriff etabliert sich, wenn das Internet immer mehr Kontaktmöglichkeiten eröffnet -und häufig weitaus unkompliziertere als im "realen Leben". Die Mensch-Computer-Beziehung ersetzt immer mehr die physische Nähe und den unmittelbaren Körperkontakt: Wenn man statt mit Menschen mit sexuellen Wunschprogrammen in Beziehung tritt und die Last der Verantwortung für den Partner, die bei räumlicher Nähe gegeben wäre, wegfällt, bedeutet das für viele mehr Autonomie und Leichtigkeit. Othmar betrachtet seine Situation mit Mary durchaus pragmatisch: Man müsse viel mehr miteinander sprechen, um in Beziehung zu bleiben. Man erspare sich Flugtickets wie bei einer gängigen Fernbeziehung und müsse mit seiner Cyberbeziehung nicht großartig in die Oper oder essen gehen. Sie haben aber ebenso wie physisch verbundene Paare romantische Candle-Light-Dinner, wobei Othmar in Wien und Mary in Sydney sich etwas Leckeres nach Hause liefern lassen. So speist man zusammen, ehe Mary vor der Webcam für ihren fernen Geliebten einen erotischen Strip hinlegt. Und dann, ja dann haben sie da ihre geheimen Strategien entwickelt Und das nun schon seit knapp zwei Jahren. Der Cybersex ist für beide so erfüllend, dass sie nicht darunter leiden, so weit voneinander entfernt zu sein. Wir sind ja im Internet einander nah und eins miteinander, sagt Othmar. Er äußert sogar Ängste, dass eine körperliche Begegnung ihre Glücksblase zerstören und die Beziehung entzaubern könnte.

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Wie intim virtuelle Beziehungen werden, hängt von der Bereitschaft und Gabe der Beteiligten ab, sich darauf einzulassen. Vom einmaligen Selbsterfahrungsexperiment bis zur langfristigen Cybersexbeziehung ist alles möglich. Die Qualität einer körperlosen Cybersexbeziehung hängt vom Setting der ersten Begegnung ab: Handelt es sich um eine zufällige Internetbekanntschaft, kann sich eine enge persönliche Beziehung daraus entwickeln. Bei gezielt aufgesuchter Cyberprostitution ist ein "reales Kennenlernen" eher unwahrscheinlich.

Wozu körperlose Nähe? Mit Cyberpornografie und Sex im Netz geht oftmals das Gefühl einher, aus dem Alltagskorsett des Pflichtbewusstseins auszutreten und in eine Welt unendlicher Möglichkeiten und eigentlich ja gesellschaftlicher Tabubrüche unbeschwert von jetzt auf gleich einzutauchen. Und durch eine rein virtuelle Nähe werden meist vollkommen unverbindlich Glückshormone ausgeschüttet. Empirische Studien widersprechen dem Vorurteil, Cybersex sei eine mangelhafte Surrogat-Sexualität, der sich nur einsame und beziehungsgestörte oder bindungsängstliche Menschen zuwenden. Der Vorteil: Keine Übertragungsgefahr sexueller Krankheiten, aber unendlich viele Wege, Fantasien auszuleben -ob mittels "Dirty Talk" oder erotischer Aufträge und Wünsche an das geliebte Gegenüber. Ein weiteres Plus: Körperliche Gewalt, Übergriffe und ungeplante Schwangerschaften sind bei Cybersex ausgeschlossen, weshalb diese Form von Sexualität oft das Gewissen entlastet: wenn schon fremdgehen, dann "nur" im Internet und virtuell. Achtung: Auch hier herrscht Kränkungsgefahr! Denn auch wenn Sie "körperlos fremdgehen", sobald Sie Ihr Liebesleben verheimlichen und ins Internet auslagern, ist das psychologischer Betrug, und es besteht dringend Gesprächsbedarf.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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