Martin Selmayr: "Kein Debakel, sondern ein Wunder"

Der Vertreter der EU in Österreich, Martin Selmayr, über die Probleme bei der Bekämpfung der Pandemie in Europa, Bundeskanzler Kurz und die heimische Innenpolitik - sowie seine Mission als Radfahrer.

von Interview - Martin Selmayr: "Kein Debakel, sondern ein Wunder" © Bild: Matt Observe

Herr Selmayr, Sie sind seit November 2019 als Vertreter der EU in Österreich, wie haben Sie das Land während der Pandemie erlebt?
Ich habe die letzten drei Monate vor Corona hier noch erlebt und mich sehr wohl gefühlt. Das war auch nach Ausbruch der Pandemie der Fall. Ich habe die Maßnahmen auf regionaler und auch auf Bundesebene als ausgewogen und notwendig angesehen. Die österreichische Regierung und die Landesregierungen haben einen guten Job gemacht. Auch in den meisten grenzüberschreitenden Fragen haben wir gemeinsam recht zügig Lösungen gefunden. Da hat sehr viel Pragmatismus geherrscht, vor allem in der ersten Phase der Krise. Die war urplötzlich und brutal, da haben sich alle veranlasst gesehen, schnell die Parteipolitik außen vor zu lassen und an einem Strang zu ziehen.

Und in der zweiten Phase?
Die war schwieriger, sie dauerte lang, die Leute wurden müder, und die Politik geriet stärker unter Druck - wie überall auf der Welt. Es hat mehr Auseinandersetzen innerhalb der Politik und mit Partnerländern gegeben. Das habe ich auch gespürt. Deshalb war da meine Rolle als Diplomat und Vermittler auch wichtiger als in der ersten Phase.

Die Österreicher sind ja sehr EU-skeptisch. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
In der Tat: In ganz Europa ist die Zustimmung zur EU so hoch wie seit der Finanzkrise nicht. Im EU-Schnitt haben 48 Prozent der Bürger ein positives Image der EU und 17 Prozent ein negatives. In Österreich sind nur 34 Prozent positiv eingestellt und 27 Prozent negativ, das ist der schlechteste Wert in der EU. Noch ist nichts verloren, aber wir sehen hier ein Auseinanderklaffen zwischen der österreichischen und der gesamteuropäischen Situation.

Warum ist das der Fall?
Ich sehe zwei Gründe: In der zweiten Phase wurde Österreich von der Pandemie stärker getroffen als andere Länder. Das liegt an der starken Abhängigkeit von Tourismus und Dienstleistungen. Zudem wird in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer gerne ein Außenfeind gesucht. Und sehr häufig - und das gilt parteiunabhängig für alle Ebenen - findet man den in Brüssel. Während aber in anderen EU-Staaten sich die Regierungschefs hingestellt und gesagt haben: "Uns kann es nur gut gehen, wenn es unseren Nachbarn gut geht", war das Narrativ hierzulande zumindest teilweise: "Österreich macht eh alles am besten, und da sollen die aus Brüssel uns bitte nicht reinpfuschen." Die Krise hat sicherlich gezeigt, dass Österreich vieles gut gemacht hat. Das gilt aber auch für andere Länder. In so einer Situation gibt es niemanden, der alles gut oder alles schlecht macht. Und am Ende lässt sich diese globale Krise nur gemeinsam in den Griff bekommen.

© Matt Observe Selmayr ist ein glühender Europäer. Im Vorfeld des nächsten EU-Rats sieht er die Politik gefordert

Beim Thema Impfen war das besonders ersichtlich, da ging offenbar einiges daneben ...
Da möchte ich schon betonen: Das war kein Debakel, sondern ein Wunder. Wir haben jetzt vier erfolgreiche Impfstoffe am Markt, Wissenschaft und Forschung in Europa haben tolle Arbeit geleistet. Derzeit sind in der EU mehr als 300 Millionen Impfdosen angekommen und im Juli werden 70 Prozent der EU-Bevölkerung geimpft sein. Das ist sonst nur in den USA der Fall, in China sind derzeit lediglich 40 Prozent geimpft. Das haben wir nur geschafft, weil EU und nationale Gremien eng zusammengearbeitet haben. Hätten wir das nicht gemeinsam gemacht, wären große Länder wie Deutschland oder Frankreich wohl auch alleine zurechtgekommen, kleinere aber wahrscheinlich nicht oder erst sehr viel später.

Dennoch hat es viel Kritik gegeben, auch in Österreich.
Es war ein gemeinsamer Beschluss, den Impfstoff europäisch zu kaufen. Und noch dazu ein freiwilliger Beschluss, zu dem niemand gezwungen wurde. Als es im Februar und März nicht so schnell losging, wie man es sich gewünscht hat, war allein die EU schuld. Jetzt, wo es gut läuft, scheint das für viele eine rein österreichische Leistung zu sein. Beides ist falsch, es war eine gemeinsame Leistung. Österreich hat sogar den Co-Vorsitz des EU-Impfstoffbeschaffungsgremiums geführt und das auch insgesamt gut gemacht. Wenn auf die EU eingeprügelt wird, geht es meistens um andere Probleme, von denen abgelenkt werden soll. Und das ist natürlich schade. Wenn man Europa dauernd zum Sündenbock stempelt, muss man sich nicht wundern, dass es dann manchmal schwieriger wird, wenn man Partner in den Nachbarstaaten braucht. Europa ist eine langfristige Investition, bei der die Beziehungen auch gepflegt werden müssen. Grundsätzlich habe ich Verständnis dafür, dass man schimpft, wenn die Zeiten einmal rauer sind. Was wir uns aber immer wünschen, ist, dass man weniger schimpft, mehr impft und besser zusammenarbeitet. Da können alle einen Beitrag leisten.

»In so einer Situation gibt es niemanden, der alles gut oder schlecht macht«

Wie ist Ihr Verhältnis zu Bundeskanzler Kurz?
Der Bundeskanzler ist unbestreitbar ein großes politisches Talent. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, er war immer sehr freundlich zu mir, und ich finde, er hat viel Gutes für Österreich und auch für Europa getan. Ich würde mir natürlich wünschen, dass er zunehmend von einem erfolgreichen österreichischen auch zu einem erfolgreichen europäischen Politiker wird.

In Deutschland wird er gerne auch mal als Vorbild für die dortige Politik gesehen ...
Von den einen so, von den anderen so. Das kommt darauf an: Kurz hat die österreichische Politik modernisiert und dafür Respekt und Anerkennung verdient. Die Frage ist: Was wird daraus mittel-und langfristig? Die muss in Österreich beantwortet werden.

Österreich befindet sich derzeit in einer politisch schwierigen Phase, man denke nur an die umstrittenen Chats und das damit verbundene Sittenbild ...
Ich will das im Einzelnen nicht kommentieren. Es hat mich aber überrascht, dass es hierzulande eine ungewöhnlich polarisierte politische Auseinandersetzung gibt. Man ist hier entweder Freund oder Feind, dazwischen scheint es nichts zu geben. Das ist eine Entwicklung, bei der man aufpassen sollte, dass nicht die in der Demokratie stets notwendige Kompromissfähigkeit und der Respekt für den Andersdenkenden verloren gehen. Ich verstehe noch nicht wirklich, wie man sich in einem Land wie Österreich, dem es so gut geht, innenpolitisch so sehr zerfleischen kann.

© Matt Observe Selmayr fährt mit dem Fahrrad ganz Österreich ab: "Wichtig, auf die Menschen zu hören"

Wie erleben Sie die türkis-grüne Koalition?
Im Kreis meiner Freunde und Kollegen bin ich immer derjenige, der Österreich am stärksten verteidigt - und lerne gleichzeitig dabei, dass das Schimpfen, Granteln und Jammern ein bisschen auch zum Stil der österreichischen Politik gehört. Daran muss ich mich noch gewöhnen. Ich habe da eher einen konstruktiveren und optimistischen Zugang. In Wiener Diplomatenkreisen hatten wir erst vor Kurzem eine Diskussion, bei der viele darauf gewettet haben, dass diese Regierung nicht mehr lange besteht. Ich war der Einzige, der darauf gesetzt hat, dass die Koalition in ihrer jetzigen Zusammensetzung auch noch im Frühjahr 2022 regieren wird. Ich empfinde viele der maßgeblich an der Koalition Beteiligten trotz der Streitigkeiten als sehr pragmatisch. Das Ziel, Österreich moderner, digitaler und grüner zu machen, das ist ein europäisches Zukunftsprojekt. Das geht jetzt erst los, da hört man nicht einfach auf. Diesen Willen verspüre ich bei allen Handelnden.

Sollte ein verurteilter Kanzler zurücktreten?
Das ist eine innenpolitische Frage, die in jedem Land anders entschieden werden kann. Das hängt von den jeweiligen rechtlichen und ethischen Regeln ab. Ich finde, was der österreichische Bundespräsident vor Kurzem gesagt hat, gibt den europäischen Wertekonsens dazu wider - von der Unschuldsvermutung bis zur Frage des politischen Anstands.

»Verstehe nicht, dass man sich in einem Land, dem es so gut geht, innenpolitisch so zerfleischen kann«

Wie nehmen Sie Österreich auf EU-Ebene wahr?
Sehr aktiv. Tirols Landeshauptmann Günther Platter war zum Beispiel sehr oft in Brüssel - zugespitzt gesagt, jeden zweiten Tag. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte mit Platter sicher mehr physische Treffen als mit Angela Merkel. Das zeigt auch, dass die EU nicht nur auf die großen Staaten hört, sondern auch auf Bundesländer wie Tirol. In den Regionen Europas verlaufen viele Schnittstellen und Konfliktlinien, deshalb sollte man dort besonders gut hinhören. Landeshauptleute sind an den Problemen der Menschen vielfach auch näher dran als Bundespolitiker. Wenn sich jemand mit Ecken und Kanten, aber konstruktiv in die europäische Debatte einbringt, wird das in der EU als sehr positiv empfunden und verschafft Gehör und Einfluss.

Und die EU-kritischen Aussagen der Regierung?
EU-kritisch sind wir hoffentlich alle, denn es gibt kein Gemeinwesen, das perfekt ist. Weder Österreich noch die EU noch ein einzelner Staat. Wenn es kritische Worte aus Wien gibt, versteht die Kommission diese immer als fordernd und mahnend. Wir alle wollen Europa besser, schneller und einflussreicher machen. Das Verhältnis zwischen Wien und Brüssel ist außerordentlich gut, vor allem seit Beginn der türkis-grünen Regierung.

Fürchten Sie, dass sich das mit einer FPÖ unter Führung von Neoobmann Herbert Kickl und dessen radikalerem Kurs ändern könnte?
Man sollte vor Extremen nie Angst haben, sondern sie mit Werten und guten demokratischen Lösungen bekämpfen. Es gibt in Österreich kein größeres rechtsextremes Spektrum als in anderen Mitgliedsstaaten, das ist überall bei rund 20 Prozent. Und es ist Aufgabe der demokratisch gewählten Regierungen, dem entgegenzutreten. Wir machen uns da keine übertriebenen Sorgen.

© Matt Observe Selmayr vor dem Green Screen der Kommunikationszentrale im EU-Haus in Wien

Zurück zum Coronamanagement und den Problemen am Deutschen Eck. Reagierte da Deutschland übertrieben?
Na ja, in der Situation haben viele Länder fragwürdige Maßnahmen an ihren Grenzen gesetzt. Eine Zeit lang auch gegenüber Slowenien zum Beispiel. Es ist verständlich, aber durchaus erstaunlich, dass man sich in solchen Situationen nicht nachgemeinsamen objektiven Kriterien und Empfehlungen richtet, in welche die Erfahrungen aus allen 27 Mitgliedsstaateneinfließen. Österreich hat etwa jetzt beschlossen, die gemeinsame Linie zur Bewertung von Risikogebieten zu verlassen und sich am Robert Koch Institut zu orientieren. Statt sich das raus zu picken, was diese Woche gerade passt, wäre es auf lange Sicht wohl besser, sich an gemeinsam vereinbarte europäische Kriterien zu halten. Da ist Österreich aber kein Einzelfall. Es gab erfreulicherweise auch Grenzen, die während der gesamten Zeit der Pandemieoffen geblieben sind etwa die zwischen Nordrhein Westfalen und Belgien und den Niederlanden. Eigentlich dürfte mansich erwarten, dass das ander deutsch österreichischen Grenze auch möglich ist. Und man miteinander telefoniert, bevor man Grenzen schließt oder unabgestimmte Quarantäneregelungen einführt.

Hängt das vielleicht auch mit dem komplizierten Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich zusammen?
Am deutsch österreichischen Verhältnis könnte man in der Praxis sicher noch vieles verbessern, Vielleicht sind sich beide Staaten aufgrund ihrer Kultur und Geschichte so nahe, dass man denkt, man braucht keine Koordinierungseinrichtungen. Die Erfahrung der Pandemiemonate hat aber gezeigt, dass dem nicht so ist. Ich finde es etwa sehr positiv, dass jetzt die Österreich Werbung von einer starken deutschen Frau geleitet wird und umgekehrt in Bayerneine Steirerin beim Tourismus die Zügel in der Hand hat. Das ist ein guter Ansatzpunkt, um künftig besser zusammenzuarbeiten. Deutschland und Österreich haben etwas Besseres verdient als die fünfte Auflage der "Piefke Saga".

Stichwort Grüner Pass. Da ist Österreich offensichtlich etwas hintennach.
Alle Mitgliedsstaaten haben da vergleichbare Herausforderungen. Der gelbe Impfpass der Weltgesundheitsorganisation ist in seiner reinen Papierausführung ja eigentlich ein vorsintflutliches Gebilde. Hier muss Europa, ja die gesamte Welt einen Digitalisierungssprung machen. Das grüne EU Zertifikat ist da ein Versuch. Das kann aber nur auslesen lassen, was irgendwo bereits digital erfasst worden ist. In allen Ländern hinkt die verlässliche digitale Eintragung dem Impfen hinterher. Deshalbwird es noch dauern, bis man in ganz Europa so weit ist.

Was gefällt Ihnen eigentlich an Österreich?
Dass es eines der schönsten Länder der Welt ist. Mir gefällt außerdem der tiefgründige Humor, der Österreich auch malschwierige Zeiten überstehenlässt. Ich freue mich sehr, derzeit mit dem Fahrrad durchganz Österreich fahren zu können, um mit den Menschen vor Ort wieder persönlich über Europa ins Gespräch zu kommen. Begonnen habe ich am 9. Mai, und ich fahre jede Woche in eine andere Gegend. Ich merke dabei, dass viele Menschen in der Krise viel nachgedacht haben. Sie wollen wieder Normalität zurück, aber auch einen Schritt weit etwas ändern. Und da ist es wichtig, dass wir gutzuhören. Während der Finanzkrise haben viele, die in der Verantwortung stehen, öffentliche Stimmungswandel verpasst, was teilweise zu Spaltung und Stärkung von populistischen Bewegungen geführt hat. Die EU ist zwar bislang recht gut durch die Pandemie gekommen. Noch ist sie aber nichtvorbei. Es ist noch viel zu tun. Deshalb ist es ganz wichtig, die Auffassungen der Bürgerinnen und Bürger in die Entscheidungen auf europäischer Ebene einfließen zu lassen. Das ist das Ziel meiner Radtour durch alle Bundesländer.

Das Interview erschien ursprünglich im News 24/2021.