Amerikas Krieg mit sich selbst

"Pro-Life" wird zu politischer Propaganda

von Abtreibung Proteste Pro Choice © Bild: iStockphoto.com/Joel Carillet

Simone de Beauvoir sagte über die Abtreibung: "Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft, die so heftig bestrebt ist, die Rechte des Embryos zu verteidigen, sich um die Kinder nicht kümmert, sowie sie auf der Welt sind." Wie verdammt recht sie hatte. Vertreter der "Pro-Life"-Bewegungen schützen die Rechte der Embryos und verweigern den Müttern und Kindern ihre Rechte. Sie befürworten die Todesstrafe auch für Mütter, lehnen Hilfsprojekte für Alleinerzieherinnen ab, ebenso freie Kindergärten und freie Ausbildung, allgemeine Gesundheitsversorgung und bezahlten Mutterschutz nach der Entbindung.

In den USA, wo ein Protokoll über eine mögliche Entscheidung des Supreme Courts an die Öffentlichkeit gelangte, prallen gegenwärtig die Meinungen aneinander. Der Entschluss des Obersten Gerichtshofes würde bedeuten, dass die Bundesstaaten über das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung entscheiden könnten. Damit beginnen bereits die Probleme, eine so wichtige gesetzliche Regelung auf Provinzebene zu verschieben. Ein paar Meter über der Grenze im nächsten Bundesstaat könnten andere Regelungen gelten - mit extremen Unterschieden von völlig freier Entscheidung bis Verbot und Kriminalisierung. Amazon hat als erstes Unternehmen die Übernahme von Reisekosten zugesagt, wenn Frauen von einem Bundesstaat in einen anderen fahren müssten, um das Recht auf Abtreibung in Anspruch zu nehmen.

Pragmatismus

Die emotionale Diskussion in den USA um die Abtreibung lässt keine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte zu. Pragmatismus und rationale Argumentation prallen am religiösen Fanatismus ab, der zu politischer Propaganda wurde. Zu Beginn waren es die Katholiken, zu ihnen gesellten sich die christlichen Fundamentalisten, die mit evangelikaler Tradition politische Entscheidungen beeinflussen. Schon ihre Sprache ist verräterisch. Abtreibungsgegner sprechen von "Unfettered Good" beim Recht auf Abtreibung, was so viel bedeutet wie "uneingeschränktes Recht", nicht notwendige Hilfe, und bringen es in Verbindung mit einer verklemmten Vorstellung von "zügellosem Sex", der durch freie Abtreibung gefördert werde.

Schwer nachvollziehbar in Europa ist die mächtige Position des politisch besetzten Supreme Courts, der zu einer Interpretation der Verfassung bei Beurteilung des Rechts auf Abtreibung berechtigt ist. Eine Verfassung, die zu einem Zeitpunkt geschrieben wurde, als Frauen weder das Recht auf Eigentum noch das Wahlrecht hatten. Interpretationen der Verfassung in Bezug auf die heutige Zeit erscheinen oft willkürlich und ideologisch motiviert.

Supreme Court

Die Gegner einer Entscheidung des Supreme Courts haben wenig Möglichkeiten. Mit derzeit sechs konservativen Richtern gegen drei liberale ist eine ideologische Umbesetzung nicht realistisch. Wenn ein Richter oder eine Richterin stirbt oder in Pension ginge, könnte er oder sie ersetzt werden, und selbst dann würden die Republikaner im Kongress einem "Pro-Choice"- Kandidaten nicht zustimmen.

Präsident Biden hat daher keinen Einfluss. Sein Versprechen, sich für "Pro-Choice" einzusetzen, ist ohne Bedeutung. Erstens ist er selbst Katholik - der zweite in der Geschichte der USA - und von seiner eigenen Kirche unter Druck, und zweitens fehlt ihm die Unterstützung im Senat für eine Gesetzesänderung. Die Demokraten bräuchten 60 Abgeordnete und haben derzeit 50. Nicht nur in den USA, auch in Großbritannien und der EU kam es zu Protesten und Demonstrationen.

Doch es meldeten sich auch andere zu Wort. Vor allem in angloamerikanischen Zeitungen wurde die mangelnde, schlecht organisierte und teilweise widersprüchliche Unterstützung der Frauen durch progressive Gruppierungen, Politiker und Aktivisten kritisiert. Diese verrannten sich in absurden Diskussionen, wer überhaupt eine "Frau" sei, bis zu irritierenden Behauptungen -übernommen von der Trans-Bewegung -, jeder und jede könne je nach seinen und ihren Gefühlen entscheiden, ob er oder sie "Frau" oder "Mann" sei, könne jede Toilette aufsuchen, in der er oder sie sich wohl fühle, und an Frauen-oder Männer-Sportwettkämpfen teilnehmen.

Alleinerzieherin

Drei Viertel der Frauen, die 2019 Abtreibungskliniken aufsuchten, waren Afroamerikanerinnen bei sieben Prozent der Bevölkerung. Jetzt entscheiden vorwiegend "weiße" Männer und Frauen, ob das weiter möglich sein könnte. Jene, die es betrifft, werden ignoriert und übergangen. Wie mag eine Mutter, Alleinerzieherin mit drei Kindern sich fühlen, wenn sie mit der Aufforderung konfrontiert wird, sich nicht mehr als "Frau" sondern Trans-korrekt als "Uterus-Trägerin" bezeichnen zu müssen. Lautstarke Aktivisten von Minderheiten beeinflussen Sprache und Entscheidungen politischer Vertreter, die aus Angst vor Angriffen mit oft peinlichen "Kniefall-Argumenten" versuchen, sich als Unterstützer dieser Randgruppen zu beweisen. In den USA identifizieren sich etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung als "Trans", dennoch bedeutet die Position ihnen gegenüber sehr oft Aufstieg oder Fall einer öffentlichen Persönlichkeit.

Die von Präsident Biden nominierte erste schwarze Richterin für den Supreme Court, Ketanji Brown Jackson, wich der Frage eines Journalisten aus, wer für sie eine Frau sei, mit der Antwort: "Ich bin keine Biologin." Und sie soll die Verantwortung übernehmen, die "Free Choice"- Bewegung im Supreme Court zu vertreten? Trans-Aktivisten verfolgen und kritisieren jede Äußerung, die eine Definition von "Frau" in Verbindung mit Schwangerschaft, Geburt und Menstruation versucht. Es sei diskriminierend und vertrete ein "antiquiertes, männerorientiertes" Frauenbild. Jeder könne "Frau" sein, behaupten sie, unabhängig von biologischen Realitäten.

Trans-Korrekt

Vor dem Gebäude des Supreme Courts standen Demonstrantinnen mit Postern: "Justiz, verschwinde aus meiner Vagina!" die gleiche Bewegung reagiert aggressiv auf die Behauptung, eine Frau habe ein Vagina, ein Mann einen Penis. Man sollte besser von "Uterus-Träger" oder "Menschen mit oder ohne Menstruation" oder "Penis-Träger" sprechen. Begriffe wie "Muttermilch" sollten durch "Menschenmilch" ersetzt werden. Statt "Mutter" und "Vater" sei besser den Unterschied mit "geburtsfähiger Partner" zu beschreiben. Die Zukunft einer Trans-korrekten Kommunikation könnte vielleicht so klingen, dass bei gesellschaftlichen Anlässen der Mensch an unserer Seite als "Partner/Partnerin mit oder ohne Menstruation" oder als "gebär-und nicht gebärfähiger Partner" vorgestellt wird.

Man erinnere nur an das Schicksal der Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling, die wegen ihrer Haltung zu Transgender attackiert und boykottiert wurde. Die weltbekannte Schriftstellerin hatte einen Artikel kritisiert, in dem Frauen als "Menschen, die menstruieren" bezeichnet werden. Rowling machte sich lustig auf Twitter und schrieb, dafür gebe es doch sicher ein Wort, in Anspielung auf das englische Wort "Women": "Helft mir. Wumben? Wimpund? Woomud?"

Um das Wort "Frau" zu vermeiden, schrieb Francesca Hong, Abgeordnete der Demokraten in Wisconsin: "Birthing bodies have the right to freedom", was etwa heißt: "Gebärende Körper haben das Recht auf Freiheit." Das ist die oft absurd und inhaltslose Rhetorik der Verteidiger von "Pro Choice". Diese hilflose Form der Agitation für "Frauenrechte" ohne "Frauen" ist nicht nur peinliche Heuchelei, sondern auch chancenlos gegenüber der geschlossenen, konservativen Front "Pro-Life". Die "Pro-Life Movement" mit perfekter Organisation und Tausenden freiwilligen Aktivisten löste sich Mitte der 70er-Jahre von der rein kirchlichen Struktur, entdeckte die Politik als Vehikel, und etablierte sich innerhalb der Republikaner. Die Partei erkannte sehr schnell, dass eine religiös motivierte Anti-Abtreibungs-Propaganda den Mangel an konservativen Ideen und Strategien ersetzen könnte, und übernahm das Pro-Life-Konzept als Grundlage politischer Positionierung -mit dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der Bundesstaaten der USA in den nächsten Jahren Abtreibung verbieten könnte.