Der Kampf
für die Kinder

Der bevorstehende Schulstart sorgt für Verunsicherung, Angst vor neuerlichen Schulschließungen geht um. Dabei sind Schule und Bildung enorm wichtig - nicht nur für die Kinder, sondern für die gesamte Gesellschaft

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Schule - Der Kampf
für die Kinder

Viele Eltern zittern seit Monaten auf den Schulstart hin und beobachten argwöhnisch die Infektionsentwicklung. Stehen jetzt, pünktlich zum Schulstart und ausgelöst durch das rege Urlaubsgeschehen der letzten Wochen, die nächsten Schließungen an? Müssen wieder einmal die Kinder daran glauben? Der Verdacht, dass zu wenig an die Jüngsten in der Gesellschaft gedacht wird und der Stellenwert von Bildung irgendwo knapp hinter dem Menschenrecht, Tennis zu spielen, rangiert, nagt. Das Misstrauen ist groß. Bei Eltern, die sich als Flipperball in einem Spiel fühlen, das sie nicht beeinflussen können. Bei Lehrerinnen und Lehrern, die sich mit ihren Ängsten nicht ernst genommen fühlen. Dabei, sind sich Experten einig, muss diesmal alles anders sein als im Frühling. Denn regelmäßiger Schulbetrieb ist enorm wichtig. Nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, die Kinder und ihre Eltern, sondern für das ganze Land.

In Italien öffnen die Schulen am 14. September mit reduzierten Klassengrößen von nur 15 Schülern. Um trotzdem unterrichten zu können, wird das pädagogische Personal aufgestockt und der Unterricht soll teilweise in angemieteten Kinos, Theatern und Museen stattfinden.

Viele deutsche Bundesländer schreiben den Schülerinnen und Schülern das Tragen von Masken vor. Und es wird, angeregt durch eine Studie der Universität der Bundeswehr in München, über die Anschaffung von Raumluftreinigern diskutiert, die die Virenkonzentration in Innenräumen deutlich senken können. (Kleines Manko: eines der in der Studie verwendeten Geräte kostet stolze 3.500 Euro.)

Regeln zum Schulstart

Und in Österreich? Der Schulbetrieb soll am 7. September "möglichst normal" starten, gab Bildungsminister Heinz Faßmann bekannt. Die Hygieneregeln (z. B. alle 20 Minuten lüften, zur Not müssen die Kinder in der Klasse den Anorak anlassen) sollen eingehalten, kranke Kinder nicht in die Schule geschickt werden. Der Minister empfiehlt außerdem, Unterricht im Freien stattfinden zu lassen. Das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes wird außerhalb des Unterrichts verpflichtend, sobald die Corona-Ampel auf Gelb springt. Leuchtet sie rot auf, ist wieder alles vorbei: Schule zu, ab nach Hause und Homeschooling.

Hier liegt der größte Schwachpunkt in Faßmanns Konzept, kritisieren etwa die Oppositionsparteien. Solange die Kriterien für die Corona-Ampel nicht definiert sind -und sie befinden sich gerade erst in Ausarbeitung -, ist unklar, wie der Schulherbst wirklich aussehen wird. Beispiel Wien: Müssen Schulkinder aus Favoriten zu Hause bleiben, weil irgendwo in der zehn Kilometer entfernten Donaustadt ein Corona-Cluster ausgebrochen ist, der die Wiener Zahlen explodieren lässt? Zusätzlich zu den beschriebenen Maßnahmen möchte das Bildungsministerium ein flächendeckendes Corona-Monitoring einrichten. Alle drei Wochen sollen 15.000 Schülerinnen und Schüler, 1.200 Lehrpersonen und 250 Schulen in ganz Österreich getestet werden. Der SPÖ reicht das nicht: Sie fordert, alle Kinder mit kostenlosen Gurgeltestkits auszustatten, um bei allgemeinen Erkältungssymptomen rasch Klarheit gewinnen zu können.

"Nationale Priorität"

"Die Schule ist als Ort der Wissensvermittlung und Gemeinschaftsbildung nicht zu ersetzen", sagt Faßmann, und: "Auch wenn die Infektionszahlen in den letzten Tagen angestiegen sind, ich will ab Herbst einen Regelbetrieb in den Schulen."

Dennoch, man vermisst in Österreich den lauten Aufschrei, das klare Bekenntnis zu Schule und Bildung, den großen politischen Kraftakt. In Italien wurden vor Kurzem alle Nachtclubs geschlossen und eine verschärfte Maskenpflicht eingeführt, um den Schulstart im Herbst nicht zu gefährden. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson erklärte die Wiedereröffnung der Schulen zur "nationalen und formulierte in einem Gastbeitrag für die "Mail on Sunday": "Die Schulen nur einen Augenblick länger geschlossen zu lassen als unbedingt notwendig, ist sozial untragbar, wirtschaftlich nicht aufrechtzuerhalten und moralisch nicht zu vertreten." Wo bleibt der offene Brief von Kanzler Sebastian Kurz?

Keine Lobby

Kinder haben keine Lobby. Den Shutdown im Frühling nahmen alle Beteiligten ächzend und weitgehend schweigend hin, doch jetzt werden die Stimmen lauter, die darauf pochen, alles für die Wiederaufnahme des regelmäßigen Schulbetriebs zu tun. Der Public Health Experte Martin Sprenger war einer der wenigen, die schon im Frühling auf die Kollateralschäden des Corona Managements der Bundesregierung hinwiesen. Er plädiert nach wie vor für mehr Unaufgeregtheit im Umgang mit dem Virus: "Man sollte in den Kindergärten und Volksschulen unbedingt wieder den Normalbetrieb aufnehmen. Normalbetrieb heißt, den Eltern vielleicht deutlicher mitteilen, dass ein Kind zu Hause bleiben soll, wenn es krank ist, noch bewusster auf Händehygiene achten, wo nötig, den Abstand waren. Alle skandinavischen Länder machen es genau so, sehr unaufgeregt, ohne große Ängste. Ganz anders als bei uns. Und bitte: Verschonen wir die Kindergärten und Volksschulen vorjeglichem Test Aktionismus." In den höheren Schulen, meint Sprenger, sollte das Ampelsystem mit transparenten Kriterien umgesetzt werden.

Schulschließungen seien dagegen "absolut die allerletzte Möglichkeit": "Eine Schulschließung hat gewaltige Auswirkungen, nicht nur auf den Bildungserfolg, die Gesundheit und die Ungleichheit, sondern es entsteht auch ein Betreuungsbedarf, der bedeutet, dass eine erwerbstätige Person nicht arbeiten geht, was wiederum Auswirkungen auf ein Unternehmen oder den Arbeitgeber hat. Das ist eine ganze Kette. Und zu glauben, dass man Infektionsketten abschneidet, indem man Schulen schließt und die Kinder dann zu den Großeltern in Betreuung kommen, ist auch so ein Irrglaube. Es können Nebenwirkungen entstehen, die oft heftiger sind als das, was man eigentlich verhindern wollte."

Sprenger vermisst vor allem eine transparente Kommunikationsstrategie seitens der Regierung. "Man hätte den Sommer, der sehr ruhig verläuft im Krankenhausliegen im Moment weniger als 100 Leute, davon 20 in der Intensivstation , für Kommunikation im Bildungssystem nutzenkönnen. Hat man aber nicht. Und was ist die Konsequenz? Die Lehrergewerkschaft fordert Maskenpflicht für Kinder und Lehrer, der Bildungsminister kündigt ein Ampelsystem ohne transparente Kriterien an, jede Schule hat andere Ansichten, das Chaos ist vorprogrammiert. Man müsste jetzt Stammtische und Diskussionsrunden, auch online oder im Fernsehen, veranstalten. Aber so, wie die Kommunikation derzeit läuft, findet eine unglaubliche Polarisierung zwischen Verharmlosung und Apokalypse statt. Wir haben es in den letzten fünf Monaten nicht geschafft, die Diskussion zu versachlichen."

Diese Polarisierung, meint Sprenger, habe System und betreffe nicht nur die Kluft im Bildungssystem, sondern auch alle anderen Teile der Gesellschaft. "Die Pandemiespaltet die Generationen, sie spaltet beider Frage der Masken, sie spaltet bei der Frage der Impfung, sie spaltet sozial, weil das Erkrankungs- und Sterberisiko sozialungleich verteilt ist, die Ärmeren trifft es viel härter als die Reicheren. Wir habeneine unglaublich zunehmende soziale Ungleichheit. Es wäre Aufgabe der Politik, diese Gräben gar nicht erst entstehen zulassen oder sie zumindest zu schließen. Das tut sie aber nicht. Aus irgendwelchen Gründen spaltet sie noch weiter."

Verstärkte Unterschiede

Christiane Spiel, Professorin für Bildungspsychologie an der Universität Wien, hat in den letzten Monaten mit ihrem Teamerhoben, wie Kinder und Jugendliche in den letzten Monaten gelernt haben. Auch Spiel sagt: "Ein neuerlicher Shutdown sollte auf jeden Fall vermieden werden. Schule hat als zentrale Aufgabe das Lernen zu organisieren; sie ist aber auch ganz wichtig für das Lernen von und mit anderen. Denn Schule hat ja nicht nur eine Qualifikationsaufgabe, sondern auch eine Sozialisationsaufgabe. Außerdem kann die Lehrperson, wenn ein Kind zu Hause etwas macht, überhaupt nicht beurteilen, wie lang das Kind dafür gebraucht hat, ob ihm jemand geholfen hat." Und die Studie der Wiener Forscher zeigt auch: "Die Freude auf die Schule, auf Klassenkameraden, auf Lehrpersonen, auf die direkten Rückmeldungen etc. ist bei den Schülerinnen und Schülern schon sehr groß."

Die Kinder und Jugendlichen kamen mit der Schulschließung unterschiedlich gutzurecht, sagt die Bildungspsychologin, abhängig davon, wie gut sie zu Hause unterstützt werden: "Die Unterschiede, die bereits da waren, werden verstärkt. Das ist immer so, wenn es Risikoperioden und Krisen gibt. Die Schere geht auf, die Heterogenität nimmt zu." Und hierliegt eine der brisantesten und unberechenbarsten Folgen der Schulschließungen: die hohe Dunkelziffer von Kindern und Jugendlichen, die in den letzten Monaten kaum erreicht wurden. "Wenn ich allein die Zahl derer, die in unserer Befragung angegeben haben, es gehe ihnen immer schlechter, hochrechne, wäre ich bei mindestens 40.000 bis 50.000", sagt Christiane Spiel. "Wenn wir jedoch berücksichtigen, wie viele nicht an der Studie teilgenommen haben, weil sie gar keinen Internetzugang oder kein digitales Endgerät haben, sind das schon ganz erhebliche Zahlen. Es ist die Pflicht der Gesellschaft, etwas zu tun, damit diese Kinder nicht langfristig Probleme bekommen. Das ist auch aus volkswirtschaftlichen Gründen wichtig. Wir müssen Kinder so ausbilden, dass sie auf dem Arbeitsmarkteine Chance haben."

Kosten durch Bildungsausfall

Einer amerikanischen Studie zufolge könnten vier Monate verlorener (Aus )Bildung in den USA 2,5 Billionen an künftigen Einnahmen kosten. Für Österreich existieren solche Berechnungen gar nicht. Dass Schwächen im Bildungssystemfrüher oder später auch volkswirtschaftlich wirksam werden, sollte aber auch hierzulande kein Geheimnis sein.

Spiel analysiert: "Bei der Wirtschaft sieht man die negativen Effekte sofort. Aufträge fallen weg, Menschen werden arbeitslos, Firmen müssen zusperren. Die Effekte im Bildungsbereich zeigen sich erst sehr viel später und stehen daher oft nicht so im Blick der Politik. Dabei ist Bildung das Wichtigste für unsere Wirtschaft. Wir haben in Österreich keine Bodenschätze, das Wohlergehen des Landes ist von der Bildung und dem Wissen der Menschen abhängig. Mit Blick auf die Zukunft ist es daher eine Notwendigkeit, dass wir hier investieren, auch wenn die Effekte nicht sofort sichtbar sind. Wenn Kinder jetzt Benachteiligungen erleiden, zeigt sich das vielleicht ökonomisch in sieben, acht Jahren. Aber man kann und muss jetzt etwas dagegen tun."

Und zwar, ganz konkret: "Man muss sich jetzt ganz besonders den Risikogruppen widmen. Es gibt vermutlich Kinder, die ein halbes Jahr gar nichts gemacht haben für die Schule und damit quasi aus dem organisierten Lernen ausgestiegen sind. Diese Kinderbrauchen jetzt besonders viel Aufmerksamkeit und Unterstützung. Und zwar nicht nur eine Woche, sondern über eine lange Zeit."

Kindergärten

Schule wirkt nicht nur in die Zukunft, sondern auch sozusagen in die andere Richtung, in den elementarpädagogischen Bereich. So wie die Schulen zittern auch die Kindergärten der Herausforderung Herbstentgegen. Daniela Cochlar, Abteilungsleiterin der Wiener Magistratsabteilung 10und damit für die rund 350 städtischen Kindergärten zuständig, berichtet von ausgeklügelten Vorbereitungen. Ein kindergartenspezifisches Thema sind Eingewöhnungen, die diesmal über einen längeren Zeitraum hinweg teils erst im Oktober stattfinden. Beim Themenkomplex Husten Schnupfen Heiserkeit (kein Kindergartenkind ohne Rotzglocke in den kalten Monaten) gilt: Kranke Kinder dürfen nicht kommen, ein bisschen Schnupfen ist kein Problem.

Große Sorgen macht Cochlar das Thema Erreichbarkeit. Viele Kinder sind aus dem Corona Shutdown nicht mehr in den Kindergarten zurückgekehrt. Derzeit liegt die Auslastung bei selbst für den Sommerbetrieb extrem schwachen 26 Prozent. "Der erwartete Aufschwung nach Ostern ist nicht eingetreten. Manche Kinder waren schon sehr lange nicht mehr im Kindergarten. Das ist kein gutes Zeichen, denn Kindergarten ist keine Aufbewahrungs- , sondern eine Bildungseinrichtung und auch für die Sozialkontakte sehr wichtig." Die Pädagoginnen und Pädagogen der Stadt Wien suchen den telefonischen Kontakt mit Familien, die sie schon lange nichtmehr gesehen haben. Wenn jemand gar nicht erreichbar ist, wird die Kinder und Jugendhilfe informiert. Welche genauen Gründe das Fernbleiben hat, will Cochlarim Herbst erheben lassen.

Wichtig für einen normalen Kindergartenbetrieb sei aber jedenfalls ein geregelter Schulbetrieb. Denn wenn keine Schule stattfindet, tendieren Eltern dazu, auch ihre Kindergartenkinder zu Hause zu betreuen. "Es wäre ganz wichtig, dass die Schule gut und regelmäßig funktioniert, weil das ein wichtiger Taktgeber ist. Kinderbrauchen Kontinuität. Und je jünger sie sind, desto wichtiger ist die Verlässlichkeit." Die Interessen von Kindern sind im öffentlichen
Diskurs unterrepräsentiert, das wurde in der letzten Zeit offensichtlich. Der Kinderpsychologe Johannes Achammer sagt dazu: "Dass Kinder keine eigene Interessenvertretung haben, ist ein genereller und internationaler Missstand, der durch die Corona-Krise nur noch deutlicher zutage tritt. Bereits vorher gab und gibt es weiterhin keine ausreichende, staatlich gesicherte Versorgung in vielen Bereichen, sei es medizinisch, psychologisch oder sozial, besonders für Kinder aus finanziell benachteiligten Familien." Jetzt, meint Achammer, wäre es Zeit, zu handeln. Etwa mit einer mutigen politischen Vision: "Wünschenswert wäre ein eigenes Kinderministerium - oder Zukunftsministerium -, dessen Aufgabe es ist, die Erwachsenen von morgen auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu unterstützen."

Solange es keinen solchen obersten Kinder-Lobbyisten in Österreich gibt und solange die Pläne des Bildungsministers nicht mehr Vertrauen erzeugen, bleibt nur ein anderer, der gemeinsame Weg. Noch ein Rückblick zu der Pressekonferenz des Ministers. Ob man die Schulen offen halten könne, sagte da der Mikrobiologe Michael Wagner, sei letztlich eine Frage der gesellschaftlichen Solidarität. "Man muss als Gesellschaft auf Dinge verzichten, wenn man die Schulen offen halten will. Dann gehe ich halt nicht in eine Bar oder in eine Diskothek, oder ich singe nicht in einer Freikirche oder mache keine Kreuzfahrtreise oder gehe weniger ins Fitnessstudio. Wir allen können dazu beitragen, dass Schulen möglichst lange offen bleiben können, indem wir vorsichtiger sind, Covid-19 ernst nehmen und nicht so tun, als wäre die Pandemie schon vorbei."

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 34/20

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