Schützenhöfer: "Wir sind außer Tritt. Das muss man leider sagen"

Im letzten Sommerinterview als Landeshauptmann findet Hermann Schützenhöfer mahnende Worte an seine Partei und an die Politik. Er warnt vor "Beliebigkeit" in der Gesellschaft und der "persönlichen Befindlichkeit als Maß aller Dinge"

von Hermann Schützenhöfer © Bild: Ricardo Herrgott
Hermann Schützenhöfer, 70, absolvierte eine Kaufmannslehre in einer Greißlerei und arbeitete nebenbei als Lokaljournalist. 1970 stieg er über die JVP in die Politik ein, 1981 wurde er Landtagsabgeordneter, 1994 Klubobmann. 2000 wechselte er in die Landesregierung. 2006 übernahm er nach einer schweren Wahlniederlage der ÖVP deren Führung. 2015 überließ ihm Franz Voves trotz Vorsprungs bei der Wahl das Amt des Landeshauptmanns.

Mit Ihnen und dem Tiroler Günther Platter treten zwei Langzeitlandeshauptleute zurück. Eine Zeitenwende?
Mein Übertritt in den Ruhestand war lange geplant. Ich habe mit meiner Familie und Christopher Drexler schon vor längerer Zeit besprochen, dass ich zur Hälfte der Periode das Zepter übergeben möchte. Ich habe nie daran gezweifelt, dass er das wird. Er ist 20 Jahre jünger, ein intellektueller Typ, aber durchaus schon beliebt.

Er galt schon lange als Ihr "Kronprinz", man hatte fast den Eindruck, ihn erwartet ein "Prinz-Charles-Schicksal".
Spätestes ab meinem 60. Geburtstag wurde ich immer wieder gefragt: "Warum machen Sie das noch?" Ich habe mich davon nicht irritieren lassen. Ich habe lange überlegt, ob ich bei der letzten Wahl überhaupt kandidiere. Aber ich bin ehrgeizig genug, um die Bestätigung vom Wähler zu wollen, denn ich bin ja mit Hilfe von Franz Voves (früherer SPÖ-Landeshauptmann, Anm.) Landeshauptmann geworden. Etwas Einmaliges in der Zweiten Republik. Die Wählerinnen und Wähler haben das aber eindrucksvoll bestätigt. Und ich könnte mich nicht in den Spiegel schauen, hätte ich danach eine andere Koalition gewählt als jene mit der SPÖ. Ich weiß, Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, aber mir ist immer gesagt worden: "Vergiss nicht, wo du herkommst und wer sich für dich eingesetzt hat."

Hermann Schützenhöfer
© Ricardo Herrgott

Ist diese Handschlagqualität in der Politik in den letzten Jahren verloren gegangen?
Vieles ist in Zweifel geraten. Aber ich bin von meinem Vater geprägt, der gesagt hat: "Ein Handschlag muss zählen. Du brauchst nichts unterschreiben." Heute gibt es Vereinbarungen - etwa zwischen Bund und Ländern -und sie werden nicht eingehalten. Für mich zählt der Handschlag und es ist eine große Enttäuschung, ja eine Kränkung, wenn sich jemand nicht daran hält.

Wieso ist das nicht mehr so? Eine Generationsfrage?
Ja, es ist wohl eine Generationsfrage. Und ich glaube, dass die Pandemie Österreich verändert hat, weil wir es nicht geschafft haben, einen Schulterschluss zustande zu bringen. Ich habe in 52 Jahren in der Politik nie so viele Morddrohungen gehabt wie in den letzten beiden Jahren. 80 Prozent hängen mit der Impfpflicht zusammen.

Sie haben diese schon früh verlangt. Kaum war sie beschlossen, hatte man den Eindruck, die Politiker wollen eine Impfpflicht gar nicht.
Was soll ich machen? Ich bin ja nicht gescheiter als die Ärzte, mit denen ich regelmäßig meine Runden gehabt habe, und die haben gesagt: "Bitte treiben Sie eine Impfpflicht voran." Es ist mir zuerst nicht gelungen. Als wir sie dann im November beschlossen haben, war es schon zu spät.

»Flagge zeigen, Haltung zeigen. Das ist verloren gegangen. Das tut mir sehr weh«

Wenn sich Politiker bei Gegenwind von ihren eigenen Beschlüssen abwenden, ist das nicht die Selbstaufgabe von Politik?
Das ist hart, was Sie da sagen. Aber es stimmt leider zum Teil. Zurzeit sagen ja einige, es ist gut, wenn die Alten endlich gehen und es neue Gesichter gibt. Aber ein 70-Jähriger kann sagen, ich gehe, wenn ich mich politisch nicht durchsetze. Ein Junger schielt auf die Wahl. Das ist ganz natürlich. Ich habe immer gesagt, Politik ist dazu da, das Richtige populär zu machen. Aber wenn mir das nicht gelingt, muss ich immer noch das Richtige tun. Flagge zeigen, Haltung zeigen. Das ist verloren gegangen. Das tut mir sehr weh. Ich habe das Glück gehabt, zu erleben, wie der Kommunismus zerfallen ist und Europa frei geworden ist. Das will nun einer in Russland rückabwickeln. Für mich ist das eine Mahnung - auch an unsere gute und tolle Jugend: Obacht geben, vorsichtig bleiben, mitmischen im politischen Geschehen, nicht nur kritisieren. Meine Hauptsorge ist, dass sich in unserer Gesellschaft eine Beliebigkeit einnistet. Dass für viel zu viele Menschen die persönliche Befindlichkeit das Maß aller Dinge geworden ist. Dass der geistige Wohlstand mit dem materiellen nicht mithalten kann. Damit zerflattert vieles, Wertvorstellungen gegen verloren. Die Hemmschwelle sinkt. Das ist es, was Österreich gesellschaftspolitisch gefährdet.

Zur sinkenden Hemmschwelle kommt, dass der politische Diskurs nicht mit Argumenten, sondern mit Untergriffen geführt wird.
Das System wankt, wenn zu viele Menschen über Soll und Haben nachdenken und zu wenige über Sein und Sinn. Und weil die Politik den Inhalt nach der Überschrift nicht mitliefert. Wir haben alle verlernt, dass wir Modelle vorlegen, dass es im Kopf zu arbeiten beginnt. Wir haben verlernt, zu beobachten und zuzuhören. Wir haben doch in der Pandemie gesehen, dass das persönliche Gespräch unersetzbar ist. Ich möchte in meinen letzten Tagen im Amt keine Belehrungen erteilen, aber: Das Wichtigste ist der Dialog. Gäbe es den Dialog, gäbe es keinen Krieg. Und der Dialog ist uns in Österreich auf Bundesebene fast verloren gegangen. In der Steiermark haben wir immer die Opposition über den Stand der Pandemie informiert. Sprachliche Grenzüberschreitungen wie auf Bundesebene hat es bei uns nicht gegeben. Es gab eine sachliche, harte Auseinandersetzung, aber keine persönlichen Verletzungen.

Hermann Schützenhöfer
© Ricardo Herrgott

An dieser Stelle müssen wir uns über die ÖVP unterhalten: Dass es keinen Dialog mit der Opposition gibt, war ein Markenzeichen von Sebastian Kurz. Wie sehen Sie Ihre Partei im Moment?
Na ja, die ÖVP ist ganz sicher nicht in einer guten Situation. Etwas anderes zu sagen, wäre ja eine Verweigerung der Realität. Wir sind in einer misslichen Lage. Aber ich habe in der Steiermark erlebt, dass wir ganz unten waren, als wir den Landeshauptmann verloren haben. Jetzt bin ich als Landeshauptmann oben. Was ich damit sagen will: Die Zeit der ÖVP wird wieder kommen - mit Karl Nehammer haben wir den Richtigen an der Spitze, der seine Sache gut macht. Aber wir haben zurzeit keinen guten Lauf, es gibt keine nennenswerten Befreiungsschläge, wir sind außer Tritt. Das muss man leider sagen. Jetzt wurde zwar ein Antiteuerungspaket beschlossen. Aber ich weiß nicht, ob uns das hilft. Denn das, was sich im Bereich der Justiz abspielt, schadet der ÖVP, schadet dem politischen Ansehen insgesamt.

Die ÖVP redet sich gerne auf "rote Netzwerke" in der Justiz aus. Jetzt schickt der Rechnungshof Wirtschaftsprüfer in die Partei. Dessen Präsidentin, Margit Kraker, war einmal Ihre Büroleiterin.
Sie ist eine der gescheitesten Persönlichkeiten, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Ja, die kann auch Haare auf den Zähnen haben, die hat als Büroleiterin sogar mir hin und wieder etwas zurückgeschmissen. Sie hat mir widersprochen. Wenn ich an der Spitze eines Landes oder der Republik den Widerspruch nicht mehr vertrage - und das spielt sich ja gerade zwischen Kraker und der Bundes-ÖVP ab - dann ist das nicht gut. Sie ist eine redliche Frau. Jetzt putzt man sich an ihr ab. Man kann über Rechnungshofberichte durchaus streiten und sagen: "Ich sehe das anders." Aber am Ende des Tages ist es der Rechnungshof, der sich Dinge genau anschaut. Und am Ende des Tages muss sich die Republik fragen: "Will ich dort eine Erfüllungsgehilfin?" Nein. Wollen wir dort eine Scharfmacherin? Nein. Wir wollen jemanden, der die Parteien auf Herz und Nieren überprüft. So jemanden brauchen wir und haben wir in ihr glücklicherweise.

Kraker fordert strenge Transparenzgesetze. Sollte die ÖVP die rascher auf den Weg bringen?
Das ist deswegen so schwierig, weil sich die Parteien gegenseitig misstrauen. Die eine will das nicht, denn es könnte sie betreffen, die andere das nicht. Die SPÖ hat ja still und schweigend ihre Organisation so verändert, dass der Rechnungshof in manche Bereiche nicht hineinschauen kann. Der sagt nun beim Seniorenbund Oberösterreich: "Hallo, ich schau da rein, da ist etwas " Die Diskussion wird weitergehen. Es gehört bei allen Parteien etwas bereinigt. Ich kann nur raten, in jene Länder zu schauen, die das schon gut machen. Wir waren die Ersten mit einem Landesrechnungshof, einem Volksrechtegesetz, wir haben den Proporz abgeschafft, Regierung und Landtag verkleinert. Das tun andere nicht, dabei wäre es an der Zeit.

Damit wären wir bei einer Staatsreform und einer Föderalismusdebatte. Normalerweise sind es die Landeshauptleute, die sagen: "Wir geben nichts an Macht und Einfluss her."
Ich habe einmal bei einer Konferenz gesagt: Wir müssen tatsächlich nachdenken. Warum haben wir einen Teil der Lehrer, aber nicht jene der AHS? Warum sind nicht alle dem Land zugeordnet? Andererseits - aber das ist nicht durchsetzbar - müssen wir im Bereich Gesundheitsversorgung zugeben, dass es Fälle gibt, bei denen der Bund ein Einspruchsrecht haben müsste. Etwa, wenn es in Hartberg ein Spital gibt, und dann entscheidet das Burgenland, es baut ein paar Kilometer weiter, in Oberwart, eines. Also da gäbe es schon Dinge, die man vereinfachen kann. Andererseits sind die Länder und Gemeinden näher bei den Wählern. Die haben uns sofort am Krawattl, wenn ihnen etwas nicht passt. Während ein Minister am Wochenende zu Hause ist.

Hermann Schützenhöfer
© Ricardo Herrgott

Zur Energiekrise. Jüngere Menschen haben so etwas noch nie erlebt. Wenn man bedenkt, wie lange wir wegen der Klimakrise vom Ausstieg aus fossilen Energieträgern geredet haben, war man da zu lahm?
Es ist zu lange gut gegangen, wir haben über die Klimakrise sehr lange nobel hinwegdiskutiert. Es gab Unwetter, dann war es wieder zu warm, dann hat man wieder ein Buch ausgegraben, wo stand, vor 120 Jahren war es auch warm. Aber der entscheidende Punkt ist, die Klimakrise ist in den Köpfen der Menschen angekommen. Ich diskutiere regelmäßig mit Fridays For Future. Zuerst wollten sie nicht zu einem Politiker kommen. Ich hab gesagt: "Keine Medien." Dann waren sie da. Lauter junge, freche, tolle Leute. Ich hab ihnen gesagt, sie könnten alle meine Enkel sein. "Also betrachten Sie das als Opa-Enkel-Gespräch." Dann waren sie aufgetaut. Wissen Sie, was mich so fasziniert? Die reden mit mir nicht über die Senkung des Kerosinausstoßes, sondern darüber, was ich daheim im Kühlschrank habe. Also hab ich nachgeschaut. Meine Frau hat gesagt: "Du hast schon genug gegessen." Ich sag: "Ich schau, was wir da drinhaben." Wir sollten darauf schauen, dass wir das essen, was gerade in Österreich wächst. Die Leute sind dazu bereit. Ich habe das immer propagiert, dass wir die kleinen Greißler retten und dass es dort regionale Produkte gibt. Denn, wenn es sie gibt, sind sie der Hit und schon am Vormittag ausverkauft.

»Es ist zu lange gut gegangen, wir haben über die Klimakrise sehr lange nobel hinwegdiskutiert«

Sie sagen, die Klimakrise wurde weggeredet. Es war die ÖVP, die die Umweltminister gestellt hat. Ist es gut, dass das jetzt eine Grüne macht?
Leonore Gewessler ist ja durchaus umstritten. Aber nicht bei mir. Einmal hat sie mir gesagt: "Was soll ich machen? Global 2000 sagt, ich bin eine Verräterin, und dein Wirtschaftsflügel sagt das auch." Ich habe immer wieder bei internen Besprechungen gesagt: "Die ist nicht einfach, aber wir müssen das ernst nehmen." Ich habe mit ihr unsere größte Photovoltaikanlage eröffnet. Wir haben ein tolles Verkehrspaket, insbesondere Schiene, aber auch Straße. Auch wenn sie mir das eine oder andere Straßenprojekt runtergezupft hat, ich habe das nicht kritisiert, sondern nur um Evaluierung gebeten. Man muss sachlich diskutieren. Dieses Entweder-oder bringt uns nicht weiter. Ich arbeite gut mit ihr zusammen.

Für andere Landeshauptleute gilt das offenbar nicht. Markus Wallner hat sie voriges Jahr als "Elefant im Porzellanladen" bezeichnet.
Na ja, wenn ich mein Gewicht anschaue, bin jedenfalls ich ein Elefant. Also: Wenn ich etwas kritisiere, dann mache ich das meist aus dem Unvermögen heraus, selbst eine Lösung zu finden. Beim Reden kommen die Leut zam. Wenn es ein Problem gibt, ruf ich sie an und sag: "Du, da müss ma reden. Komm zu uns, weil die Industrie durchdreht." Na, dann ist sie gekommen, eines Samstagnachmittags. Nur mit zwei, drei Leuten. Da sind die Fetzen geflogen, aber nachher haben wir einen Schluck genommen, und man redet. Ich habe vor 15 Jahren hier in der Steiermark eine Forschungsgruppe zum Thema Schadstoffausstoß bei Autos installiert. Da gibt es viel Entwicklung, wie man für Motoren Wasserkraft, Windkraft, Solar, Photovoltaik, Wasserstoff nützen kann. Da ist mittlerweile auch Leonore Gewessler gesprächsbereit. Und wenn sie jetzt kritisiert, dass manche Länder die Windkraft nicht ausbauen, da bin ich eigentlich bei ihr. Nur drei Länder haben Flächen für Windkraft ausgewiesen. Ja, Windenergie kann man nützen. Und diese ganze Debatte, nicht mehr lange von Russland abhängig zu sein - bis wir energieunabhängig sind, ist dieser Krieg dreimal verloren oder gewonnen. Aber wir werden sehr viel mehr Energie selber erzeugen können. Dafür brauchen wir ein Sondergesetz, das will sie und auch wir, dass solche Vorhaben rascher gehen müssen.

Sie haben schon vor Jahren den Mindestlohn durch Arbeit propagiert. Heute gibt es immer mehr Menschen, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können. Fürchten Sie soziale Unruhen?
Einen Teil dieser Verwerfungen erleben wir schon. Da hoffe ich auf einen nationalen Schulterschluss der Parteien und der Sozialpartner. Die Koalitionsform SPÖ/ÖVP oder umgekehrt, die es in einigen Bundesländern gibt, wird ja österreichweit verteufelt. Ich bin noch immer ein Anhänger dieser Zusammenarbeit, denn da habe ich die Sozialpartner am Tisch. Wenn wir die im Boot haben und der Schulterschluss mit den anderen Parteien zustande kommt, dann wird das nicht eintreten, dass es wirklich brennt in der Republik. Aber wenn die Stimmung angeheizt wird, ist die Gefahr vorhanden, dass sich in Österreich Zustände wie bei den Corona-Demonstrationen auch auf andere Felder ausdehnen. Es muss einen guten sozialen Ausgleich geben. Wir müssen schauen, dass wir den Sozialstaat für die, die ihn brauchen, retten, nicht für jene, die es sich richten. Die Hauptfrage in Zukunft wird nicht die Arbeitslosigkeit sein, sondern: Wie besetzen wir Stellen? Aber ich bin im Grunde optimistisch. Optimistischer, als ich es vor 35 Jahren war. Damals hat es geheißen, die Arbeit geht aus. Sie ist uns nicht ausgegangen, weil wir durch die Forschung in neue Arbeitsfelder vorgerückt sind. Das werden wir wieder schaffen. Es könnte freilich sein, dass eine nicht unheikle Verteilungsfrage auf uns zukommt, weil immer weniger Leute immer mehr schaffen. Aber da denke ich dann nur mehr mit und sag nichts mehr dazu.

Ab 5. Juli sind Sie Privatperson. Was haben Sie vor?
Das weiß Gott, an den hab ich immer geglaubt. Ich weiß es nicht. Ich hoffe, er meint es gut mit mir. Das Einzige, das ich mir wünsche, ist, dass ich abschalten kann. Danken muss ich meiner Frau, mit der ich 43 Jahre verheiratet bin. Ich hab damals zu ihr gesagt: Marianne, ob wir zusammenpassen, entscheidet sich an dem Tag, an dem ich in Pension geh. Denn dann bin ich daheim.

Es bleibt also spannend.
Ja, es bleibt spannend.

Das Interview erschien ursprünglich im News 24/2022.