Die Schreibsucht der Dilettanten

Verlage werden überschwemmt mit Manuskripten

von Kaffee trinken © Bild: iStockphoto.com/pixdeluxe

Entschuldigen Sie, aber sind Sie der hier in der Zeitung?“ Er hielt das Magazin aufgeblättert mit beiden Händen und zeigte mir die Seite mit meinem Foto. „Nein, der sieht mir nur ähnlich“, antwortete ich. „Sie machen sich lustig über mich.“ Ich antworte nicht, schob die Kaffeetasse zur Seite und legte meine Zeitung auf den Marmortisch.

„Ich lese ja sonst das Magazin nicht, aber heute hab ich es vom Zeitungstisch genommen, und ich blättere so durch, plötzlich denk ich mir, den hab ich doch gesehen, der sitzt dort.“ Um das Magazin offenzuhalten, presste er mit dem Arm eine abgewetzte Aktentasche gegen ein viel zu warmes, wollenes Sakko. Die Schweißtropfen rannten ihm über die runden, rosigen, frisch rasierten Wangen. „Ich will Sie auch gar nicht stören, ich sehe schon, Sie lesen die ‚Neue Zürcher‘, eine hervorragende Zeitung, ich hab denen einmal einen Text geschickt, leider haben sie wie alle anderen nie geantwortet.“ Er nahm den Sessel an der Lehne, der mir gegenüber stand, zog ihn zurück und sagte: „Sie gestatten doch?“ Und setzte sich.

Ich schaffte es nicht, zu antworten, ihn wegzuschicken. Jedes Mal, wenn ich es versuchte, sprach er vor mir und ließ mich nicht zu Wort kommen. „Wissen Sie, Schreiben, ja Schreiben, das war immer so eine Fantasie von mir, ein dringendes Bedürfnis.“ Er öffnet seine Tasche, die noch Schnallen aus Metall hatte, und nahm einen ganzen Packen Papier heraus. „Und jetzt mit der Pandemie, immer zuhause sitzen, jetzt endlich kam ich dazu, meine Ideen zu Papier zu bringen.“ Er lachte. „Zu Papier bringen, das sagt man doch noch so, dabei schreibt man am Computer!“ Jetzt, dachte ich mir, jetzt, oder die nächsten zwei Stunden sind verloren, jetzt, wo er beginnt, die Seiten zu ordnen, muss ich ihn loswerden.

Liebesgeschichte

„Es tut mir leid, ich habe wirklich keine Zeit, ich lese die Zeitung als Recherche für meinen nächsten Beitrag und bin ziemlich unter Zeitdruck“, sagte ich. „Das ist ja interessant, da komme ich ja zum richtigen Zeitpunkt“, antwortete er und riss die Augen auf. „Um was geht es denn, vielleicht kann ich etwas dazu beisteuern?“

„Ich kann darüber nicht reden, das macht mich nervös“, sagte ich und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. Er schmeckte bitter und kalt.

„Das versteh ich, das mit der Nervosität, ich hab mich ja auch nicht getraut, aber dann, na ja, ich sagte zu mir, schreib einfach, jetzt hast du Zeit, keiner darf ins Büro, schreib endlich deinen Roman, und hier ist er.“ Er begann, die Papiere weiter zu ordnen, und redete dabei ununterbrochen. „Ein Liebesroman, wissen Sie, ein tragischer, aber es geht gut aus, zum Schluss dann, also, ein verheirateter Mann, aber unglücklich, verliebt sich in die schöne Assistentin von seinem Chef, es ist aussichtslos, und er leidet.“ Er lachte. „Eine rührende Geschichte, manchmal kamen mir die Tränen beim Schreiben.“

Er wiederholte sich mit denselben Worten, sagte manche Sätze mehrmals hintereinander und blätterte und blätterte. Ich versuchte wieder, ihm zu erklären, dass ich keine Zeit hätte. Er ignorierte mein Flehen, sprach von der quälenden Liebe seines Helden, der bereit sei, alles aufzugeben, wüsste jedoch nicht, wie er es der Angebeteten erklären sollte, versuchte es mit Komplimenten, mit Geschenken. Plötzlich hatte ich ihn verloren und hörte Stimmen irgendwo im Raum, weit weg, undeutlich und kaum zu verstehen. „Nun, was sagen Sie? Die Idee ist doch großartig, so aus dem Leben gegriffen, ich will Ihnen ein Kapitel vorlesen, dann haben Sie eine bessere Vorstellung.“ Er nahm ein Blatt und begann zu lesen.

Aschenbecher

Plötzlich fiel mir Tschechow ein. In einer Geschichte beschreibt er, wie ein Schriftsteller im Café sitzt und eine stattliche Dame, rundlich, mit Goldketten behängt, ihn anspricht. Sie habe eine Erzählung geschrieben, erklärt sie ihm. Vergeblich ersucht er sie, ihn in Ruhe zu lassen. Nachdem sie all seine Bemühungen ignoriert und ohne eine Atempause ihm ihre Erzählung beschreibt, greift er in einem Anfall von Wahnsinn nach dem gläsernen, schweren Aschenbecher, der auf dem Tisch steht, und schlägt in ihr auf den Kopf. Sie taumelt, fällt zu Boden und ist tot.

Während des Prozesses gelingt es dem Schriftsteller, seine Verzweiflung derart überzeugend zu erklären, dass er freigesprochen wird. Das war allerdings vor langer Zeit im zaristischen Russland. Mich würde man nie freisprechen, selbst wenn ich mein Leid ebenso eindrucksvoll beschreiben würde. Außerdem gibt es keine Aschenbecher mehr auf den Kaffeetischen. Und mit meiner Kaffeetasse könnte ich ihn nicht erschlagen.

„Wozu?“, unterbrach ich ihn. „Was meinen Sie?“ „Warum muss heute jeder schreiben, und warum konfrontieren mich so viele mit ihren Texten, schicken sie per E-Mail, manche mit der Post?“ Er wich zurück. „Schreien Sie nicht so, muss ja nicht jeder hören im Kaffeehaus“, flüsterte er. „Doch, ich muss schreien, sonst hört mich keiner der Schreibenden. Ich bin sicher, da sitzen noch zehn hier im Café!“ „War es nicht auch eine innere Stimme, die Ihnen sagte, Sie sollten schreiben?“, fragte er.

„Ach, hören Sie doch auf mit der Mystifizierung, es ist ein Beruf, eine mühsame, quälende Arbeit, voller Zweifel schickt man jeden Text ab und wartet auf die Reaktion wie ein Schüler auf die Rückgabe der Schularbeit“, antwortete ich. „Für mich ist es das kreative Element der Identität, der künstlerische Ausdruck der Persönlichkeit, die …“ „Wovon leben Sie eigentlich?“, fragte ich ihn. „Ich bin Rechtsanwalt“, sagte er. „Erfolgreich?“ „Partner in einer großen Kanzlei“, sagte er satt und zufrieden. „Wozu dann das Schreiben? Wenn schon unbedingt, dann schreiben Sie doch Tagebuch“, sagte ich.

„Sie haben kein Verständnis für die Menschen, die sich künstlerisch verwirklichen wollen!“ Nun wurde er lauter. „Nein, habe ich nicht“, sagte ich. „Es gibt keinen Respekt mehr vor dem Scheiben, jeder, der einen Satz formulieren kann, sieht sich als Schriftsteller, seit der Covid-Isolation bekommen die Verlage zehnmal mehr Manuskripte, warum nicht Schach spielen oder Briefmarken sammeln, warum unbedingt Schreiben? Wenn Sie während der Isolation mit dem Geigenspielen begonnen hätten, würden Sie sich jetzt bei den Philharmonikern bewerben?“ „Sie schreien ja schon wieder!“, sagte er. Dann packte er den Stoß Papier und schob ihn in seine Tasche.

Talent

„Sie glauben wahrscheinlich, ich hätte kein Talent“, sagte er mürrisch und presste die Tasche wieder gegen sich. „Ich weiß es nicht, aber machen wir einen Versuch. Sehen Sie irgendein Bild hinter mir an der Wand?“, fragte ich ihn. „Ja, mehrere, da ist ein …“ „Warten Sie, ich dreh mich nicht um, suchen Sie sich eines aus und beschreiben Sie es“, forderte ich ihn auf. „Das ist einfach, auf einem da sitzen vier Männer an einen Tisch und trinken Bier.“ „Das ist alles?“, fragte ich ihn. „Viel mehr ist da nicht zu sagen, sind ganz normale Männer, die halt ein Bier trinken“, antwortete er.

„Ist der Tisch alt, neu, rund, eckig, oval, hoch, tief, die Platte aus Holz, Marmor, ist da ein Tischtuch, eine Vase, die Tischbeine glatt, mit Furchen, der Boden Parkett, Fließen, Stein, ein Teppich? Und die Männer, wie unterscheiden sie sich? Alter, Kleidung, Frisur, Bart, in welcher Zeit leben sie, Gesichtsausdruck, wer sieht fröhlich, ängstlich, traurig, nachdenklich, gleichgültig aus? Sitzen sie im Freien, unter einem Schirm, in der Sonne, in einem Raum, in einem Gasthaus, zuhause? Wie sehen die Gläser aus? Alle gleich, unterschiedlich voll usw.? Darum geht es beim Schreiben, wenn ich Ihnen zuhöre, sollte ich das Bild sehen, ohne mich umzudrehen, Sie müssen den Leser an der Hand nehmen und ihn durch ihre Beschreibungen führen.“

Er war inzwischen aufgestanden. „Sie verstehen mich nicht, ich schreibe, weil es mein Bedürfnis ist, mein Vergnügen, und das lass ich mir nicht nehmen!“ „Und warum lesen Sie mir den Text dann vor?“ Er war schon bei der Tür und hörte meine Frage nicht.