Wir essen keinen Zucker mehr

Vor 200 Jahren protestierten Kinder in England gegen Sklaverei.

von Schlaglichter - Wir essen keinen Zucker mehr © Bild: Matthew Horwood

Aufgebrachte Demonstranten warfen vor einigen Monaten die Bronzestatue Edward Colstons, der durch Sklavenhandel wohlhabend wurde und mit Spenden versuchte, seinen Ruf wieder herzustellen, in der englischen Stadt Bristol in den Fluss. Eine Welle der historischen Aufarbeitung der Epoche der Sklaverei ging durch Großbritannien und die USA bis zur Universitätsstadt Evanston im Norden von Chicago, die jeder Familie, die nachweisen konnte, von afrikanischen Sklaven abzustammen, einen symbolischen Betrag von 25.000 US Dollar als Entschädigung zahlte.

Eine junge Generation zeigt heute stolz und lautstark ihr kritisches Bewusstsein und versucht, sich als moralische Alternative zur gleichgültigen Vergangenheit zu präsentieren. Straßennamen sollen geändert, Bücher aus Bibliotheken verbannt, Lehrpläne umgeschrieben und Spielpläne von Theatern und Opernhäuser von rassistischen Autoren und Komponisten „gereinigt“ werden. Doch wie so oft in der Geschichte der Menschheit: Bei genauerem Hinsehen entdeckt man Ereignisse, die das „neu“ plötzlich „alt“ aussehen lassen, manchmal als Wiederholung einer Wiederholung. Bei aller Berechtigung der neu entdeckten Empörung existierte in vergangenen Zeiten unter wesentlich schwierigeren Umständen bereits ein Protestverhalten, das wichtige realpolitische Veränderungen auslöste und deren Umsetzung ermöglichte. Oft kam die Initiative von einer völlig unerwarteten Seite.

Vor mehr als 200 Jahren – dokumentierten Historiker der Universitäten Exeter und Oxford – konfrontierten Kinder und Jugendliche das britische Establishment mit einem Zucker-Boykott als Protest gegen die unmenschliche Behandlung der Sklaven und die profitable Rolle der Engländer im Sklavenhandel. „Triangular Trade“ lautete der Name dieser Geschäfte im System eines Dreiecks. Schiffe verließen die Häfen Bristol, Liverpool und London in Richtung Westafrika, tauschten Glas, Wolle, Messing, Tücher, Feuerwaffen und Alkohol gegen eine Ladung von Sklaven, die man für gutes Geld über den Atlantik an die karibischen und amerikanischen Zielorte brachte. Dort wurden die Schiffe mit Baumwolle, Zucker, Rum, Tabak und anderen begehrten Produkten beladen, alles nahezu kostenfrei erwirtschaftet und nach England zurückgebracht – zu traumhaften Gewinnspannen für Unternehmer und Shareholder.

Dem Sklavenhandel verdankt England im 18. und 19. Jahrhundert zum Teil seinen Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht, das Aufblühen der Städte, der wunderbaren Landhäuser, zahlreicher Banken wie der Bank of England oder der Versicherungsagentur Lloyds.

Verweigerung der Geburtstagstorte

Mit der Französischen Revolution begann in Europa – vor allem in England – eine Protestbewegung gegen die Sklaverei. Die Rolle der Kinder blieb bisher in den Dokumentationen über die Beendigung des Sklavenhandels unerwähnt. Historiker der beiden britischen Universitäten fanden in Biografien, Zeitungsausschnitten, Briefen und Tagebüchern zahlreiche Hinweise, dass die Auflehnung gegen die Sklaverei in England zu einem maßgeblichen Teil von der jungen Generation ausging. Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts protestierten Schulkinder, viele von ihnen nicht einmal zehn Jahre alt, mit demonstrativer Verweigerung von Süßigkeiten und Kuchen mit der Begründung, dass Zucker durch Misshandlung von Sklaven hergestellt und nach England gebracht werde.

Zum ersten Mal in der Geschichte versuchte eine Gruppe der Gesellschaft, durch Konsumverweigerung eine politische Veränderung zu erzwingen oder zumindest eine Diskussion darüber auszulösen. Die wenigen Aktivisten gegen die Sklaverei nahm damals kaum jemand zur Kenntnis, politisch hatten sie keinen Einfluss. Bis Kinder und Jugendliche auf Berichte über die erschreckenden Bedingungen der Verschleppung und Behandlung von Sklaven – viele von ihnen im Alter der englischen Schulkinder – aufmerksam wurden.

Die bekannte Schriftstellerin Mary Anne Schimmelpenninck, 1778 in Birmingham geboren, schrieb in ihrer Autobiografie, dass sie als Kind zufällig ein Buch gefunden hatte, dass die Zustände auf den Sklavenschiffen beschrieb, und gemeinsam mit ihren Geschwistern, Cousins und Cousinen beschloss, keinen Zucker und keine Torten mehr zu essen.

Lucy Aikin, erfolgreiche Autorin historischer Bücher, 1781 geboren, beschrieb die Standhaftigkeit dieser aufrechten Kinder humorvoll in ihrer Biografie. Der Zuckerboykott sei schwer zu ertragen gewesen, wenn bei einer Geburtstagsfeier nichts anderes als Süßigkeiten und Kuchen angeboten wurde. Gastgeber und Gäste hätten sich über die Verweigerung amüsiert, mit oft höhnischen Bemerkungen, als genüsslich die Geburtstagstorte verteilt wurde.

In den Tagebüchern der Malerin Katherine Plymley fanden Historiker detaillierte Schilderungen des organisierten Widerstands. Kinder verabredeten sich in den Schulen, bildeten Gruppen, die Listen mit Produkte zusammenstellten, die sie nicht benutzen oder konsumieren wollten. Teilweise zeigte das kuriose Auswüchse. Plymley beschreibt ihren siebenjährigen Bruder, der behauptete, auch Schuhcreme werde aus Zuckerrohr gemacht und sich von einem Tag zum anderen weigerte, seine Schuhe zu putzen.

Vom Sklaven zum Bestsellerautor

Olaudah Equiano, der als Zehnjähriger von Sklavenjägern gefangen, an die Küste transportiert und an Sklavenhändler verkauft wurde, überlebte die Überfahrt nach Barbados, wo er mehrere Jahre auf einer Plantage arbeitete. Sein späteres Leben gleicht einem Märchen. Nach Jahren als persönlicher Diener eines englischen Marineoffiziers konnte er sich freikaufen und engagierte sich in der Abolitionisten-Bewegung (Beendigung der Sklaverei) um Granville Sharp. Er heiratete eine Engländerin. Sie hatten zwei Töchter, die er nach dem Tod seiner Frau selbst großzog, führte ein bürgerliches Dasein und hinterließ den Töchtern ein ansehnliches Vermögen. Equiano erkannte als einer der Ersten die Bedeutung des Engagements der Kinder für seine Bewegung, besuchte Schulen und Familien und las aus seiner Biografie vor.

James Fox, einer der wichtigsten Kämpfer für die Freiheit der Sklaven, übernahm die Hartnäckigkeit der Kinder in seine Streitschrift, in der er 1791 die Engländer aufforderte, weder Zucker noch Rum zu kaufen, der in Westindien hergestellt wurden. Innerhalb eines Jahres unterstützen 300.000 Familien diesen Aufruf, der durch das Engagement der jungen Generation seinen Anfang nahm. Was zu Beginn wie naive Rebellion verwöhnter Kinder aussah, beeinflusste das kritische Bewusstsein der Familien und breitete sich zu einer Protestbewegung aus. Panton Corbett, der sich als Kind dem Zucker-Boykott angeschlossen hatte, unterstützte später als Abgeordneter des Parlaments ein Verbot des Sklavenhandels. Die Verweigerung von Produkten, die durch Sklaven hergestellt wurden, übertrug sich im Laufe der Verbreitung der Bewegung auf andere Lebensmittel und auch Kleidung. Es galt ab einem gewissen Zeitpunkt in der englischen „Upper Class“ als „nicht schicklich“, solche Produkte zu kaufen.

Die Initiatoren des Verbots der Sklaverei sammelten 400.000 Unterschriften, reichten Petitionen im Parlament ein und riefen zum Boykott aller durch Sklavenarbeit gewonnenen Produkte aus der Karibik auf. Erstmals wurde 1792 im Britischen Parlament die Abschaffung des Sklavenhandels beschlossen. Der Grund für die verzögerte Umsetzung lag in der Französischen Revolution. Napoleon hatte die 1794 abgeschaffte Sklaverei 1802 wieder zugelassen. 1807 einigten sich beide Häuser des Parlaments in England auf den „Slave Trade Act“, das Verbot des Sklavenhandels.

Am 28. August 1833 wurde der „Slavery Abolition Act“ (Verbot der Sklaverei) von der Regierung beschlossen. Neben dem antifranzösischen Patriotismus war für den Erfolg vor allem der Generationenwechsel verantwortlich. Kinder, die einst Zucker verweigerten, nahmen inzwischen einflussreiche Positionen als Politiker, Journalisten und Industrielle in der Gesellschaft ein.