Mein rechter Opa

Kinder streiten, während Erwachsene einfach nur verurteilen

von Mann Hut © Bild: iStockphoto/elkor

Stefan schob seinen Sessel zurück und ging langsam, fast zögernd vor zur Tafel. In der linken Hand hielt er ein Blatt Papier. Er presste es gegen sein Bein, als würde er versuchen, das Geschriebene zu verbergen.

"Nun, Stefan, mit wem hast du gesprochen in deiner Familie?", fragte ihn die Deutschlehrerin und versuchte, ihm mit einem Lächeln Mut zu machen. Stefan blickte auf das Papier und begann, langsam, stotternd zu sprechen, als würde er irgendwo nach den richtigen Worten suchen.

"Ich habe für mein Referat, wir sollten ja mit einem Familienmitglied sprechen, über die Flüchtlinge, also, ich hab mit meinem Opa gesprochen."

"Das ist aber nett, und eine gute Idee, jetzt sind wir schon alle ganz gespannt", sagte die Lehrerin. Stefan zuckte mit den Achseln, schwieg eine Weile und sagte: "Der hat aber ganz komische Ansichten." Er schaute auf die Lehrerin.

"Es geht doch bei der Aufgabe darum, andere Menschen zu befragen, nach ihren Meinungen und Ansichten, natürlich kannst du das hier vortragen, der Opa bekommt ja keine Note!" Die Kinder begannen, zu lachen, einige riefen "Opa kriegt einen Fünfer","Opa wird sitzenbleiben", bis die Lehrerin die Klasse zur Ruhe ermahnte und Stefan aufforderte, mit seinem Referat zu beginnen.

Oma war Lehrerin

"Mein Opa ist schon 70 Jahre alt. Meine Oma auch. Beide sind in Pension. Meine Oma war Lehrerin, und der Opa hat viele Berufe gehabt und in vielen Ländern gearbeitet. Sie gehen gerne wandern, und mein Opa spielt Tennis. Ich hab dem Opa mein Referat erklärt und ihn gefragt, ob er mit mir reden will. Er hat gelacht und gesagt, sicher können wir darüber reden, aber meine Meinung wird wahrscheinlich deiner Lehrerin nicht gefallen." Stefan hörte auf zu sprechen und schaute wieder auf die Lehrerin. In der Klasse war es plötzlich still, alle schauten auf Stefan, dann auf die Lehrerin und wieder zu Stefan.

"Es ist die Meinung deines Opas und muss ja nicht deine sein", sagte die Lehrerin.

"Mein Opa sagt, es sind schon zu viele da, und die meisten, die da sind, passen nicht zu uns." Stefan starrt auf seinen Zettel, weicht den Blicken der Kinder und der Lehrerin aus.

"Mein Opa sagt, wenn Österreich anders wird, kommen keine Touristen mehr, aber die brauchen wir. Die kommen nach Wien wegen der Oper, Schönbrunn, den Museen, den Lipizzanern, und wegen den Palatschinken und dem Schnitzel." Die Kinder lachten wieder. Stefan, ermutigt durch das Gelächter, wiederholte: "Ja, wegen dem Schnitzel, hat der Opa gesagt, kommen sie alle!"

Die Lehrerin versuchte, die Klasse zu beruhigen, und Stefan fuhr fort: "Wenn jetzt immer mehr Fremde kommen, sagt der Opa, die hier leben wollen, wie sie zu Hause gelebt haben, dann werden sie auch Wien verändern wollen, damit sie sich hier wohlfühlen. Dann hat der Opa gesagt " Stefan blickte auf den Zettel und stockte.

"Und?", fragte die Lehrerin. "Ich weiß nicht, ob ich das lesen soll", sagte Stefan leise.

"Lies ruhig, wir werden das dann diskutieren, ist ja gut, dass wir auch einmal diese Seite hören", sagte die Lehrerin in einem Tonfall, der die Klasse verstummen ließ.

"Der Opa hat gesagt, wenn sie in der Oper Bauchtänzerinnen zeigen, und statt Schnitzel wird Kebab in den Restaurants serviert, und die Lipizzaner werden zu Würsteln gemacht, dann kommen auch keine Touristen mehr, die ja Österreich sehen wollen,nicht den Basar von Bagdad oder Istanbul." Jetzt waren die Mitschüler und Mitschülerinnen nicht mehr zu halten. Sie lachten und johlten, sprangen von den Sesseln und wiederholten immer wieder die Sätze von Stefan, der jetzt jede Scheu abgelegt hatte und laut weiterlas.

"In Salzburg bei den Festspielen werden sie keinen Mozart spielen, sondern ein Muezzin wird von der Bühne zum Gebet rufen, sagt mein Opa, und in die Kinos und Theater dürfen nur mehr Männer rein. Alle Museen bleiben geschlossen, weil dort nackerte Frauen zu sehen sind, und die Denkmäler in Wien müssen abmontiert werden. Der Stephansdom wird eine große Moschee, und alle Bänke werden rausgenommen, weil ja die Moslems am Boden beten und nicht sitzen dürfen. Die Sacher- Torte wird zu Baklava mit Honig und Nüssen und "

"Es reicht", unterbrach ihn die Lehrerin.

Meinungen der Eltern

Doch die Klasse wollte mehr hören. "Nein, bitte weiter", schrien die einen, und andere riefen: "Nicht aufhören, nicht aufhören." Die Lehrerin wusste sich nicht mehr zu helfen, schlug mit der Hand auf den Tisch und schrie: "Ruhe!" Dann forderte sie Stefan auf, sich zu setzen.

"Aber ich bin noch nicht fertig, mein Opa hat auch gesagt ", versuchte er, weiterzusprechen, doch die Lehrerin unterbrach ihn und ermahnte ihn, zu seinem Platz zu gehen.

"Das ist nicht fair, wie ihr euch hier aufführt, wir haben ja Kinder hier in der Klasse, die aus anderen Ländern kommen", sagte die Lehrerin, als es ruhiger wurde.

"Die machen sich auch über uns lustig", sagte Stefan. Es wurde wieder lauter, sie wetteiferten mit den Scherzen der Kinder, als die Lehrerin plötzlich aufsprang und zu Stefan sagte: "Dein Opa, der ist ein Rassist!"

Stefan lächelte und antwortete: "Das hat mein Opa auch gesagt, er hat gesagt, wenn ich das alles vorlese, werden sie ihn einen Rassisten nennen, er wollte gar nicht, dass ich es vorlese, weil er hat gemeint, dann werden sie auch mich einen Rassisten nennen."

"Wieso Rassist", mischte sich ein Mädchen ein, "mein Vater redet auch so, er hat auch Angst, dass alles anders wird." Mehrere Kinder widersprachen: "Meine Eltern sagen, wir müssen helfen, die sind ja verzweifelt in Syrien und Afghanistan." Ein kleiner Bub, der bisher völlig ruhig war, erzählte von seinem Vater, der entlassen wurde und keine Arbeit fand, und behauptete, die Flüchtlingen würden mehr Geld bekommen als er.

Die Kinder konfrontierten einander mit den Worten der Eltern. Bis die Lehrerin, die langsam am Sinn der Aufgabe zweifelte, entschied, dass keine weiteren Referate gehalten werden und die Aufgaben schriftlich eingereicht werden sollten.

Ein schlankes Mädchen, etwas größer als die meisten anderen Kinder, meldete sich: "Sie haben doch gesagt, wir können nach dem Referat von Stefan darüber reden!"

Kompliziertes Thema

"Das ist ein kompliziertes Thema, und da kann es leicht zum Streit kommen", entgegnete die Lehrerin ausweichend. "Wir streiten den ganzen Tag, über alles Mögliche, mit Freunden, unseren Eltern und Geschwistern, warum können wir nicht über Flüchtlinge reden?", fragte das Mädchen, und es wurde wieder ruhig in der Klasse. Die Lehrerin fühlte sich ertappt in ihrer Hilflosigkeit.

Es meldeten sich andere zu Wort. Sie warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, wiederholten die unterschiedlichen Ansichten ihrer Eltern, manchmal voller Zweifel, dann wieder verteidigend, hörten einander zu und verzichteten auf Wertung der Worte und beleidigende Angriffe. Zwei oder drei, deren Familien als Flüchtlinge kamen, beschrieben das Schicksal ihrer Eltern. Die Lehrerin schwieg und hörte zu. Kurz, bevor es läutete, sagte sie, das sei eine besonders interessante Stunde gewesen, auch sie konnte etwas lernen und sei beeindruckt, wie ruhig und verantwortungsvoll alle über dieses heikle Thema gesprochen hätten. "Wenn nur Erwachsenen so mit einander könnten", sagte sie, bevor sie die Klasse verließ.

"Die Lehrerin hat gesagt, du bist ein Rassist", erzählte Stefan am nächsten Tag seinem Opa. Dieser lachte und sagte: "Hab ich dir doch gleich gesagt." Dann erzählte Stefan über die Stunde in der Schule.

"Ich hab völlig bewusst provoziert und dachte, vielleicht könnt ihr über dieses Thema offen sprechen. Erwachsene haben es verlernt, die müssen recht haben und verachten einander, es geht nicht um richtig oder falsch, sondern nur noch um gut oder böse, sie denken in Schubladen, die nach Meinungen gekennzeichnet sind, und stopfen alle hinein, je nachdem, was sie denken und reden, wenn Kinder streiten, verurteilen Erwachsenen", sagte der Opa.

"Das hat meine Lehrerin auch gesagt", antwortete Stefan.