Schlaglichter aus Ikaria

Wo die Menschen vergessen zu sterben

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

„Ihr könnt ja eine Handlung entwickeln, in der der Held sich ausgerechnet auf dieser Insel umbringt, mit den meisten Hundertjährigen“, sagte ich zu den beiden Männern am Nebentisch im Café Mikro in Armenistis, dem einzigen Ferienort auf der griechischen Insel Ikaria, mit zwei Hotels, einigen Bed&Breakfast Quartieren, fünf Restaurants mit identischen Speisekarten, einer Bäckerei und ein paar Geschäften mit Honig, Kräutertee, Strohhüten und T-Shirts.

Zwei Engländer diskutierten über ein Filmprojekt, in das sie die hohe Lebenserwartung der Bevölkerung in eine Handlung einbauen wollten. Sie lachten beide und der größere mit langen, blonden Haaren, am Hinterkopf zu einem Knoten verbunden, sagte: „Not a bad idea“, und luden mich ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. „Wie könnten wir das Phänomen erklären, dass hier viele so alt werden?“, fragte der Kleinere der beiden mit dunklen Haaren und einem dichten Vollbart. „Es gibt so viele Theorien dazu, doch keine erklärt es überzeugend“, antwortete ich.

Polizisten

Ikaria in der Nähe der türkischen Küste gehört zu den ‚Five Blue-Zones‘ der Welt, wo Bewohner und Bewohnerinnen im Durchschnitt zehn bis fünfzehn Jahre länger leben. Die Insel ist etwa halb so groß wie Wien, hat mit 8.000 Einwohnern eine Bevölkerung wie Zell am See, eine Polizeistation mit zwei Polizisten und ein Feuerwehrauto. Hier leben prozentuell mehr Menschen über 90 als an irgendeinem anderen Ort der Welt.

Eine Theorie besagt, dass der schwierige Zugang ohne natürlichen Hafen die Bevölkerung über Jahrhunderte zwang, eine – von Importen unabhängige – Diät zu entwickeln, mit Gemüse, Kräutern, Obst und sehr wenig Fleisch. Sie produzieren ihren eigenen Honig und die verschiedensten Kräuterteemischungen.

Feste

Alexia vom Café Mikro, die uns zuhörte, hatte eine andere Theorie: „Es ist der Wind, der ewige Wind, den keine andere Insel hat, der hat magische Kräfte.“ Ihr widersprach eine Frau hinter der Theke, die wie ihre Mutter aussah, und meinte, es sei die Verbundenheit in der Bevölkerung, die nächtelangen Feste, das gemeinsame Essen und Tanzen. Jede Geburtstagsfeier beginne um acht Uhr abends und würde nicht vor acht Uhr früh enden.

Es erinnerte mich an die Bemerkung eines Freundes aus Athen, der mir erklärte: „Wir stellen uns die vielen Inseln manchmal als Familie vor, dann ist Ikaria der Verrückte, Unberechenbare und Charismatische unter uns.“

Alles scheint hier anders zu sein. Während die Inseln, die wir überflogen, flach, trocken, von der Sonne verbrannt aussahen, ist Ikaria gebirgig, dicht bewaldet, mit Wasserfällen und Seen. Die Felsen fallen steil ins Meer, unterbrochen mit kleinen, meist völlig leeren Sandbuchten.

In mehreren felsigen Buchten steigt heißes, radioaktives Wasser aus dem Bo den. Die Heilquellen sind seit der Antike bekannt. Sie gelten als weltweit stärkste, radioaktive Solequellen, kommen mit 45 bis 60 Grad aus der Erde und sind schwimmend oder über Felsen kletternd erreichbar, wo man plötzlich von heißem Wasser im Meer überrascht wird.

Flügel

An der Südküste liegt das Dorf Chrysostomos. Es sollte der bekannteste Ort von Ikaria sein, doch weder eine Hinweistafel noch eine Straße hilft, den Weg zu finden. Über einen staubigen Weg erreicht man die Küste, wo in etwa 50 Metern Entfernung ein schwarzer Fels aus dem Wasser ragt. Hier stürzte Ikarus – laut griechischer Mythologie – ins Meer. Aus Kreta fliehend mit Daedalus, seinem Vater, mit Flügeln aus Federn und Wachs, wagte sich Ikarus trotz Warnungen zu hoch hinaus, bis die Sonne das Wachs schmolz und er ins Meer stürzte. Auf der Insel, die heute seinen Namen trägt, wurde er begraben.

Wissenschaftler übernahmen den Namen des übermütigen Helden, wie der Ökonom Danny Miller mit seinem Buch ‚The Icarus-Paradox‘. Er beschreibt, wie erfolgreiche Unternehmen plötzlich zusammenbrechen, wenn sie vergangenheitsbezogen, einem verändernden Markt sich nicht rechtzeitig anpassen. In der Psychologie spricht man vom ‚Ikarus-Komplex‘ bei einer narzisstischen, extrem karriereorientierten Persönlichkeit, die in der Überzeugung lebt, dass für sie kein Ziel unerreichbar sei.

1523 von Türken besetzt, befreite sich Ikaria 1912 selbst, nahm die 30 Mann starke türkische Garnison gefangen und rief die freie Republik Ikaria aus, bis es ein Jahr später von Griechenland übernommen wurde. Nach dem Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten 1946–1948 verbannten die siegreichen Nationalisten 10.000 Kommunisten nach Ikaria. Die Bewohner nahmen sie freundlich auf in dieser dünn besiedelten Insel.

Ein Teil der Kommunisten übernahm politische Ämter und schuf eine parteipolitische Basis, sodass selbst nach dem Zerfall der KP Griechenlands in die politische Bedeutungslosigkeit auf Ikaria die KP immer noch jede Wahl gewinnt. ‚Roter Fels‘ bezeichnen viele Griechen die Insel scherzhaft.

Theodorakis

In den 1970er-Jahren floh der Komponist Mikis Theodorakis nach Ikaria und versteckte sich in den Bergen im Dorf Vrakades in einem winzigen Steinhaus. 2021 starb er mit 96 Jahren und natürlich war für die Bewohner von Ikaria die ‚Blue Zone‘ verantwortlich für sein langes Leben. Für meine Rundreise durch die Insel empfahl mir die Frau an der Rezeption den Besuch eines Museums und schrieb den Namen eines Cafés auf einen Zettel. Dort sollte ich mich melden, der Besitzer werde versuchen, den Museumswärter zu erreichen, der mir das Museum aufsperren würde.

Das sind keine ungewöhnlichen Erlebnisse auf Ikaria. Hier könnte etwas passieren, muss aber nicht, ein Geschäft öffnet vielleicht um 10 Uhr vormittags, vielleicht um 11 Uhr, vielleicht heute überhaupt nicht. Jede Speisekarte ist eine Eintrittskarte für ein Ratespiel. Gibt es gegrilltes Lamm? Heute nur gedämpfte Lammschulter. Was ist mit den Sardinen? Vielleicht morgen. Griechischen Salat? Den haben wir immer. Was gibt es sonst? Moussaka natürlich, und Ziege mit Kartoffeln im Rohr gebraten, das steht aber nicht auf der Speisekarte. In der Ortschaft Nas an der Südküste, mit zehn Häusern und drei Gaststätten, feiert das Dorf eine Taufe. Im typischen Rhythmus der griechischen Musik tanzen Männer und Frauen, alt und jung, die Arme auf den Schultern der Tanzenden neben ihnen in einem Kreis, stundenlang, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Zeit hat keine Bedeutung, Tage sind wie Nächte, Nächte wie Tage, und das Leben ist ohne hin endlos lang.

Jedes Jahr am 6. August veranstaltet das Bergdorf Christos Ramon ein Fest zu Ehren des Dichters Simonides. Auf langen Tischen sitzen Einheimische und Touristen nebeneinander am Hauptplatz, Essen und Getränke sind frei, es wird bis zum nächsten Morgen getanzt und gesungen.

Taverne

Im Feriendorf Armenistis erreicht man über steile Stufen eine kleine Bucht mit einem Sandstrand und Sonnenschirmen mit einfachen Schilfdächern. Eine Gruppe älterer Frauen mit Sonnenhüten bildet einen Kreis im Meer. Ihr Lachen unterbricht die Stille des leeren Strandes. Daneben eine Taverne, wo während der zwei Wochen, die ich dort fast täglich schwimmen ging, drei bärtige, alte Männer wortlos an einem Tisch vor einem Glas Ouzo sitzen und aufs Meer starren. Als ich ihnen nach einer Woche freundlich zunicke, in der Hoffnung, angekommen und erkannt zu werden, lächeln sie ebenfalls. Dann schauen sie wieder aufs Meer.

Der verlangsamte Alltag der Insel zwingt den Besucher in einen ungewohnten Rhythmus. Belanglos plätschern die Tage dahin, Sehenswürdigkeiten und Museen sind bald vergessen. Während des Frühstücks auf der Terrasse beobachtet man die Wellen, die immer wieder gegen die Felsen schlagen, schlendert dann zum Strand, mittags zum Café Mikro, wieder zum Strand, schläft ein wenig im Sand, liest oder lauscht einem Hörbuch unter den schilfbedeckten Schirmen und geht abends unentschlossen vor den fünf Gaststätten auf und ab, alle mit den gleichen Angeboten. Erholung bedeutet hier Wiederholung, die Kontrolle über das Leben verlierend hat man nach zwei Wochen Ikaria ebenfalls das Sterben vergessen.