Schlaglichter aus Griechenland

Astypalea, die Schmetterlingsinsel, nicht größer als der 22. Bezirk in Wien

von Astypalea © Bild: iStockphoto

Griechenlandurlauber könnte man in verschiedene Gruppen einteilen. Jene, die gerne mit Direktflug ihren Ferienort erreichen, den Strand vor dem Hotel mit reservierter Liege und Schirm bevorzugen und abends in der frisch gestrichenen Altstadt durch die engen Gassen spazieren, gefüllte Weinblätter, griechischen Salat und knusprig gebratenen Tintenfisch genießen, die hier viel besser schmecken als beim Griechen zuhause. Und andere, die eine mühsame Anreise wählen, eine Insel suchen mit Ferien wie auf den Super-8-Filmen der Eltern, die nur mit der Fähre oder einem kleinen, zweimotorigen Propellerflugzeug zu erreichen ist, das mal fliegt und dann wieder nicht. Eine solche Insel ist Astypalea. Mit 100 Quadratkilometer etwa so groß wie der 22. Bezirk von Wien, wo allerdings 200.000 Bewohner leben im Gegensatz zu den 1.300 Einwohnern in Astypalea. Die Insel wird Schmetterlingsinsel genannt, sieht auf der Landkarte eher aus wie zwei ungleich große Elefantenohren, die durch eine schmale, fünf Kilometer lange Landbrücke verbunden sind, ist die westlichste Insel der Dodekanes und bildet mit 45 unbewohnten Inseln eine eigene Gemeinde in der südlichen Ägäis.

Beim Anflug taucht eine trockene, baumlose Landschaft auf, mit brauner Erde und winzig grünen Flecken der wenigen, niedrigen Büsche. Fast schon erlösend das dunkelblaue Meer, das die felsige Küste mit kleinen Buchten umkreist. Einmal pro Tag landet hier ein Flugzeug aus Athen. Der Flughafen erinnert an die Größe meiner Volksschulklasse, in der Mitte geteilt für ankommende und für abfliegende Passagiere.

Zwei Taxis

Auf dem Parkplatz vor dem Flughafen steht ein kleines Auto, das einmal weiß war, mit meinem Namen im Fenster. Der Schlüssel steckt. Es ist das Mietauto. Die Insel bietet zwei Buslinien, eine fährt von der Mitte nach Osten, die andere nach Westen mit alten, klapprigen Autos, und es gibt zwei Taxis. Nicht zwei Taxiunternehmen sondern eben nur zwei Taxis.

Vom Flughafen aus erreicht man in 20 Minuten Chora, die einzige Stadt der Insel. Ein wunderschöner Haufen von weißen Würfeln, die sich so zufällig um einen Hügel gruppieren, als hätte einer der griechischen Götter eine Kiste davon auf dem Berg einfach ausgeleert. Fensterrahmen, Türen und manchmal auch Linien auf den Stufen müssen blau sein, so verlangt es die Bauvorschrift. Auf dem Hauptplatz der autofreien Stadt stehen vier Windmühlen, jede mit einem schmalen Eingang. In einem ist das Tourismusbüro, in einem anderen die Stadtbibliothek mit Bücherregalen an der Wänden des einzigen, hohen, runden Raums. Die Bibliothekarin reicht mir ein Buch auf Deutsch: "Zeiten der Heuchelei" von Petros Markaris, ein Kriminalroman. Ein Tourist hätte es in einem Restaurant liegen lassen. Sonst gibt es in Chora zwei Bäckereien, etwa zehn Restaurants, ein paar Souvenirläden, mehrere Lebensmittelgeschäfte, eines für Sonnenbrillen und eines für Bekleidung. Durch enge, steile Gassen -in manchen könnten gegenüber lebende Hausbewohner einander die Hand reichen -erreicht man die Burg über der Stadt. Bereits im 8. Jahrhundert errichtet, immer wieder von Seeräubern erobert, zerstört und wieder aufgebaut. Einst lebten hier bis zu 4.000 Bewohner aus Angst vor Piraten auf engstem Raum in mehrstöckigen Häusern, jeweils eine Familie in einem Zimmer auf einer Ebene.

Auf einem Abhang auf der Rückseite der Burg ein eingezäuntes Gebiet mit kleinen quadratischen Feldern und zerbrochenen Tonkrügen: Kylindra, der größte Kinderfriedhof der Antike. 1996 durch Zufall entdeckt, konnten bisher 3.000 Gräber identifiziert werden. Warum zwischen 700 und 200 v. Chr. von den umliegenden Inseln Ungeborene und tote Babys in Tonkrügen, deren Vorderseiten ausgeschnitten und nach Einbettung der Kinder wieder verschlossen wurden, hier begraben wurden, dazu gibt es nur Vermutungen.

Vier Frauen im Meer

Außerhalb der Stadt auf dem Weg zur Strandgemeinde Livadi das schönste Hotel der Insel, Hotel Pylaia, wie ein kleines griechisches Dorf angelegt mit Terrassen und Balkonen. Als ich früh am Morgen vor dem Frühstück nach Livadia zum Stand gehe, fallen mir mehrere Punkte im Meer auf. Vom Ufer aus erkenne ich vier Frauen, bis zu den Hüften im Wasser. Sie unterhalten sich, stehen einfach da mit verschränkten Armen und reden und lächeln mir zu, als ich an ihnen vorbeischwimme.

Auf den beiden Schmetterlingsflügeln, einer im Osten, einer im Westen von Chora, über teils asphaltierte oder Schotterstraßen erreichbar, die vielen kleinen Buchten mit Sand oder Kiesstränden. Manche mit einfachen Restaurants, die auch Schirme und Liegen anbieten. Bei zwei Wochen Urlaub könnte man jeden Tag an einem anderen Strand verbringen.

In Analipsi auf dem Weg zum östlichen Schmetterlingsflügel ein schöner Sandstrand und eine einfache Holzhütte mit ein paar Tischen und Stühlen, wo als Spezialität der Orangenkuchen angepriesen wird. Zwei Schwestern führen das Restaurant, eine kocht, eine serviert.

Ihre Schwester hätte heute keine Lust gehabt, zu backen, antwortet die andere Schwester, als wir ein Stück Kuchen bestellen. Sie seien beide müde von der langen Saison, jetzt, Mitte September, hätten sie seit Juni keinen freien Tag gehabt.

Im nördlichen Eck von Mesa Nisi, dem östlichen Schmetterlingsflügel, liegt die kleine Gemeinde Vathy mit vier Häusern, 15 Bewohnern und einer winzigen Gaststätte. Auch dort arbeiten zwei Frauen. Die ältere Mutter, die mit einem Fahrgestell zum Kühlschrank geht, Fisch und Fleisch herausnimmt, zurück vor dem Herd das Gestell zur Seite schiebt und zu kochen beginnt, und die Tochter, die das Gemüse putzt.

"Wir haben heute nicht genug zu essen", erklärt uns die Tochter. Wir hatten uns eben gesetzt und studierten die Speisekarte. Es hätten sich sechs Leute angekündigt, die in einer Stunde kommen würden, und mehr habe sie nicht. Vor der Küche auf einem Tisch liegen Schreibpapier und ein paar Bleistifte. Auf einer schwarzen Tafel steht mit Kreide geschrieben: "Lesen Sie die Speisekarte. Schreiben Sie auf den Zettel, was Sie essen wollen, und Ihren Namen. Wir rufen den Namen, wenn das Essen fertig ist. Kommen Sie in die Küche und holen Sie das Essen."

365 Kirchen

An einem Abend wird vor unserem Hotel eine neue Kirche eingeweiht. Im Garten eines Einfamilienhaus hat der Besitzer eine kleine, weiße Kapelle errichtet. Wir beobachteten ihn, wie er tagelang das Dach blau streicht. Ein paar ältere Frauen und Männern singen, immer nur eine Person kann die Kapelle betreten, in der Bilder hängen und Kerzen brennen, und ein Priester verteilt Brot. Angeblich gibt es 365 Kirchen auf Astypalea, manche nur schwer erreichbar über steinige Straßen. Für jeden Tag des Jahres eine Kirche.

Wunschlose Gleichgültigkeit

Nur wenige Besucher kommen nach Astypalea, die meisten aus Athen, die das Wochenende hier verbringen. Sie suchen ein verlorenes, einfaches Leben, das sie zuhause längst aufgegeben haben, bewundern die Gelassenheit und Ruhe der Menschen in den Restaurants, Geschäften und Hotels, die seit Generationen den gleichen Familien gehören. Als Fremder hat man nach ein paar Tagen das Gefühl, schon öfter hier gewesen zu sein. Es kommt einem plötzlich alles so bekannt und vertraut vor. Abends im Restaurant erkennt man Gäste, die nachmittags am selben Strand waren. Am nächsten Tag auf einem anderen Strand die Gäste, die letzten Abend am Nebentisch saßen.

Nichts auf Astypalea ist außergewöhnlich oder besonders eindrucksvoll. Weder die Strände noch die Restaurants oder Hotels. Das Meer ist tiefblau und klar wie auf anderen Inseln. Sehenswürdigkeiten gibt es kaum. Dennoch, irgend etwas ist hier anders, und ich bin immer noch am Überlegen, was es ist. Vielleicht sind es die sich ewig wiederholenden, eintönigen Tage eines Urlaubs, der dahinplätschert wie ein langsam fließender Bach und die Besucher in eine wunschlose Gleichgültigkeit, eine Art traumlose Trance versetzt, aus dem sie erst wieder erwachen, wenn sie das Flugzeug besteigen, um die Insel zu verlassen.