Chicago: "Mit Corona ist
es schlimmer geworden"

Autor Peter Sichrovsky über die US-Metropole Chicago, wo es eine absurde Gleichzeitigkeit von Luxus und Elend gibt.

von Schlaglichter - Chicago: "Mit Corona ist
es schlimmer geworden" © Bild: Getty Images

"Welcome back!” Der Beamte blickte in den Computer, studierte meine Green Card und sagte: „Mit der Green Card sollten Sie einmal pro Jahr in die USA kommen. Wo waren Sie die letzten zwei Jahre?“

Ich stammelte etwas von Infektionsgefahr und anderen Ausreden, zeigte ihm den Impfpass und erklärte, ich hätte auf die Impfung gewartet. Er winkte ab und sagte: “It’s nice to have you back.”

„Verdammt“, dachte ich mir, „wie ist mir das abgegangen, diese ‚oberflächliche‘ Freundlichkeit, wie sie so gerne kritisiert wird, im Vergleich zu ‚tiefgründiger‘ Unfreundlichkeit, auf die Österreicher anscheinend stolz sind.“ Ein kurzer Satz, einfach so hingeworfen, und man fühlt sich tatsächlich gut.

Chicago ist der schwerfällige Koloss unter den Städten der USA. Sogar das Basketballteam Chicago Bulls mit dem besten Spieler aller Zeiten, Michael Jordan, hat einen roten Stier als Symbol. Diese von internationalen Touristen kaum besuchte Stadt ist die ökonomische Pumpe der USA mit vier Millionen Beschäftigten und einem GDP doppelt so groß wie das von Österreich. In der Hitliste der ökonomisch weltweit wichtigsten Städte liegt sie an fünfter Stelle. Unternehmen wie Boeing, Abbott, United Airlines, Kraft Heinz, Hyatt, Siemens, IBM haben hier ihre Zentren und Produktionen. Die Drogeriekette Wallgreens beschäftigt 250.000 Mitarbeiter.

Lake Michigan hat die Dimension eines Meeres. Im Winter können die Temperaturen minus 30 Grad erreichen, im Sommer 45 Grad. Chicago, als Stadt der Extreme, hat mit der University of Chicago und 90 Nobel- preisträgern eine der besten Unis der Welt und liegt gleichzeitig in der Kriminalstatistik im Spitzenfeld. Pro Tag werden zwei Personen erschossen, vier Frauen vergewaltigt, 20 Bewohner überfallen, in 30 Wohnungen wird eingebrochen und 50 Autos werden gestohlen. In manchen Stadtteilen ist die Zahl der Morde pro Einwohner höher als in Caracas, Venezuela, mit der höchsten Mordrate der Welt. Chicago ist Amerika pur in seiner besten und übelsten Form.

Corona und Plünderungen

Das Taxi setzt mich am Lake Shore Drive ab, der Straße nördlich des Zentrums direkt am See, wo ich in der Wohnung eines Freundes die Woche verbringe.

„Ich hab schon Kaffee und Kuchen vorbereitet, du kommst ja schließlich aus Wien“, begrüßt er mich. Fred ist 55 Jahre alt und arbeitet für eine der größten Consulting- Gruppen. Ich öffne die Tür zum Balkon mit dem wunderbaren Blick auf den Lake Michigan und das Zentrum. Von überall sichtbar das gigantisch schwarze John Hancock Center, 1969 erbaut mit 100 Stockwerken und einem Schwimmbad in der Mitte des Hochhauses. Eines der vielen faszinierenden Gebäude in Chicago. „Wir hatten ein schwieriges Jahr“, erzählt Fred und reicht mir einen schrecklich süßen Kuchen. So herrlich Steaks und Hamburger hier sind, so grausam sind die Süßspeisen.

„Die Pandemie mit viel zu spätem Lockdown und die Plünderungen im Zusammenhang mit der ‚Black Lives Matter‘-Protestbewegung. Es hat kein Geschäft gegeben, das nicht zerstört und ausgeraubt wurde. Die Armee hatte die Stadt übernommen, mit Müllwagen die Straßen blockiert. Noch am selben Tag haben Unternehmen der Hispanics den Geschäften angeboten, alles zu reparieren. Ein paar Tage später war jeder Laden wieder offen. Die eine Minderheit hat mit der Reparatur der Zerstörung der anderen ein Riesengeschäft gemacht.“ Fred beginnt zu lachen.

Die USA werde Europa bei der Wirtschaftsentwicklung abhängen, da sei er sich sicher. Restaurants und Geschäfte seien geöffnet und die Unternehmen fordern die Mitarbeiter auf, zurück in die Büros zu kommen. Während kleinere und mittlere Unternehmen völlig unvorbereitet auf die Öffnungen warteten, investierten die großen Konzerne Millionen in die Entwicklung neuer Strategien und Strukturen für die Post-Corona-Zeit. Laut einer Umfrage seines Unternehmens erwarten 90 Prozent der Topmanager veränderte Herausforderungen für die Jahre nach Corona. Fred nennt als Beispiel Amazon, das er für ein nicht nur erfolgreiches, sondern auch besonders flexibles Unternehmen hält. „Sie haben ihr Karrieremodell mit Corona völlig umgekrempelt“, erzählt er. „Erfolgreiche Mitarbeiter werden nicht nur im hierarchischen System befördert. Ziehen sie es vor, als Spezialisten zu arbeiten, bietet man ihnen die ‚professionelle Karriere‘ ohne Aufstieg in der Hierarchie, jedoch mit gleicher finanzieller Entschädigung.“

Als wir uns auf den Weg zu einem Restaurant machen, frage ich ihn: „Du wohnst in einem Haus mit etwa 35 Stockwerken, vielleicht 100 Wohnungen, bisher sah ich keine schwarzen Mitbewohner, doch der ‚doorman‘ beim Eingang ist ein Schwarzer und in der Garage arbeiten Hispanics, was hat sich nach all den Demonstrationen geändert?“

Er lächelt verlegen, zuckt mit den Achseln und sagt: „Es ist mit Corona schlimmer geworden. Die Chancengleichheit verschlechtert sich. Die Unterschiede werden größer. Die Anzahl der Schwarzen, die studieren, geht zurück, während die der Asiaten und Hispanics steigt. Afroamerikaner sollten gefördert werden, wir finden jedoch keine gut ausgebildeten Fachkräfte. Viele verweigern auch die Impfung. Selbst die, die helfen wollen, erreichen sie nicht. Ich weiß nicht, wie sich das bessern soll.“

Wir erreichen das Steak-Restaurant mit einer großen Terrasse direkt am Chicago River, der in den Lake Michigan mündet. Hier zeigt sich Chicago von seiner schönsten Seite. Die bunten Lichter der Hochhäuser spiegeln sich im Fluss. An den Ufern reihen sich Cafés und Restaurants aneinander. Manche Hochhäuser stehen direkt am Wasser mit einem Bootsplatz unter den Garagen. Das laute Lachen im überfüllten Lokal und der Lärm von den Booten, die auf dem Fluss hin und her fahren, lassen Corona vergessen.

Wir warten an der Bar, bis unser Tisch frei wird. Über der langen Reihe bunter Flaschen hängt ein Fernseher an der Wand. Die Nachrichtensendung zeigt das Gesicht eines sechsjährigen Mädchens, das im Washington Park im Süden Chicagos erschossen wurde, als es seinen Hund ausführte. Die Polizei vermutet, es sei eine „verirrte“ Kugel gewesen. „Nicht einmal schießen können diese Idioten“, sagt ein dicklicher Mann in einem karierten Hemd, dessen Hinterteil über den Hocker hängt, auf dem er versucht zu sitzen, mit einem Glas Bier in der Hand zu seinen Freunden. Sie lachen.

Der Alltag dieser Stadt mit seiner absurden Gleichzeitigkeit von Luxus und Elend, einer Million Schwarzen in den südlichen und westlichen Bezirken und Straßenzügen, wo Türen und Fenster schwarze Löcher in ausgebrannten Häusern sind – nur zehn Minuten mit dem Auto von den Luxusrestaurants am Ufer des Chicago River und den Blues- und Jazzclubs, wo Schwarze die Getränke servieren und als Musiker auftreten.

Mitarbeiter verzweifelt gesucht

Die Pandemie hat die Unterschiede noch verschärft. Investitionen auf den Börsen verdoppelten ihren Wert, Spezialisten der „Onlinegeneration“ sind gefragter denn je und ihre Gehälter erreichen Fantasiewerte. Das Einkommen der Köche, des Servierpersonals, der Taxifahrer, Musiker, Schauspieler und Fensterputzer ist gleich geblieben.

Fast jedes Restaurant und Geschäft sucht auf Tafeln in den Fenstern neue Mitarbeiter. Nur wenige melden sich. Nach der verheerenden Arbeitslosigkeit sind keine Arbeiter zu finden. Die „Hire and Fire“-Kultur der US-Wirtschaft rächt sich. Tausende, die bei der Schließung der Lokale, Geschäfte und Hotels sofort entlassen wurden, haben Chicago verlassen und in Bundesstaaten Arbeit gesucht, die weniger streng mit Lockdown reagierten. Jetzt haben sie keine Lust zurückzukommen.

Doch was soll’s, diese kalte, schöne Stadt zwingt die Bewohner, in einer widersprüchlichen, jedoch aufregenden Realität zu leben, das ist auch ihr Charme. Wenig später genießen Fred und ich – ganz ohne Schuldgefühle – ein T-Bone-Steak, medium gebraten mit rosarotem Innenleben, saftig und weich wie eine frische Feige, wie man es nur in Chicago bekommt. Dazu überbackene Kohlsprossen und French Fries, die nach Trüffeln riechen und schmecken.