Schlaglichter aus Tel Aviv

Wo Zukunft bereits Gegenwart ist

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Über Start-ups und elektronische Entwicklungen aus Israel wird immer wieder in den Medien berichtet. Als Kritiker der israelischen Politik gegenüber Palästinensern aufriefen, israelische Produkte zu boykottieren, waren das Orangen, Datteln und Cremen mit Salzen des Toten Meeres. Aktivisten in Deutschland gingen in Supermärkte und rissen Lebensmittel mit der Bezeichnung 'Herkunftsland Israel' aus den Regalen. Ihr iPhone hätten sie ebenfalls zu den Orangen auf den Boden werfen müssen. Würde der Boykott ernst genommen werden, dürften sie kein Mobiltelefon, keinen Computer, kein Auto und kein Flugzeug benutzen, zahlreiche chirurgische Eingriffe ablehnen, auf moderne Sicherheitssysteme, Routenplaner und elektronisches Banking verzichten. Fast überall stecken oft nur kleine elektronische Teile, die in Israel entwickelt wurden. Meist haben die Gründer neuer Start-ups ihren Wehrdienst in einer Technologieeinheit der Armee geleistet und dort Erfahrungen gesammelt. Während meines Besuchs in Tel Aviv letzte Woche hatte ich die Möglichkeit, einige dieser Unternehmen zu besuchen. Die modernen Technologien, die wir als Selbstverständlichkeit in elektronischen Geräten erleben, haben fast jeden Bereich des Alltags erreicht.

Versicherung

Das Unternehmen 'Auto 3P' versucht, die Arbeitsweise der Versicherungen bei Autounfällen völlig neu zu strukturieren. Bisher wurden beschädigte Fahrzeuge nach Unfällen begutachtet und die Schäden durch Fachleute bewertet. Die IT-Spezialisten von 'Auto 3P' analysierten die Abhängigkeit eines Zusammenstoßes von Geschwindigkeit, Winkel des Aufpralls und Material. Sie sammelten Millionen von Daten der verschiedensten Automarken und Unfälle, bis sie erkannten, dass mit hoher Genauigkeit der Schaden abhängig von Material, Aufprallwinkel und Geschwindigkeit berechnet werden könnte. Kommt es zu einem Unfall, werden alle Informationen über einen kleinen Device im Auto gesammelt, weitergeleitet und ausgewertet, sodass der technische und finanzielle Schaden innerhalb von Sekunden vorliegt -bevor das Auto noch eine Werkstatt erreicht. Diese kann die Reparatur bereits vorbereiten, eventuelle Ersatzteile bestellen. Niemand muss die Autos fotografieren, begutachten und die Schäden schätzen. Das Unternehmen arbeitet bereits an einem nächsten Schritt, aufgrund der Datensammlung von Unfällen Rettungsfahrzeuge über mögliche Verletzungen zu informieren, bevor sie den Unfallort erreichen.

Drohnen

Drohnen sind heute überall anzutreffen. Von Filmaufnahmen bis zu Paketlieferungen und dem Einsatz in kriegerischen Auseinandersetzungen. Während Flugzeuge, die Waren und Passagiere befördern, auf Flughäfen parken, beladen, aufgetankt und instand gehalten werden, haben Drohnenhersteller auf diese notwendigen Stationen vergessen. Das israelische Unternehmen 'Strix Drones' schließt diese Lücke und baut Flughäfen für Drohnen. Dort holen sie Pakete, Munition und andere Waren ab, laden Batterien auf oder werden auf ihren Einsatz vorbereitet. Die Drohnen-Flughäfen mit einer Landeplattform sind beweglich und können überall abgestellt werden. In vielen Ländern - wie den USA zum Beispiel - verbieten Behörden die Landung von Drohnen im offenen Raum. Pakete können zwar abgeworfen, jedoch nicht abgestellt werden. Amazon plant in den USA gemeinsam mit 'Strix Drones' Millionen von Lande-Türmen in Wohngebieten, auf deren Plattform Drohnen ein Paket ablegen. Dieses wird im Turm in einem Behälter deponiert, der von außen durch einen Code zugänglich ist. Über das Mobiltelefon bekommt der Empfänger die Information, dass im Turm ein Paket wartet.

Das israelische Militär hat die Flughäfen weiterentwickelt. Wenn feindliche Drohnen sich nähern, werden diese nicht mehr abgeschossen. Der eigenen Drohne kann ein Netz installiert werden, das über der feindlichen Drohne abgeworfen wird. Die so gefangene Drohne wird zurück zum Flughafen gebracht, um zerlegt und analysiert zu werden.

Baugewerbe

Laut Yehudi Raveh, Chairman einer Investment-Gruppe für Infrastruktur, gehört das Baugewerbe zu den rückständigen Industriegruppen. Gebäude werden immer noch so gebaut wie vor vielen Jahren und eine Automatisierung hat kaum stattgefunden. Sein Unternehmen hat sich auf Neuentwicklungen auf dem Gebiet des Anstreichens und Ausmalens spezialisiert. Auf einem Video zeigt er eine bewegliche Figur mit Armen und Bürsten. Nach der Übertragung der Informationen der Dimensionen eines Raumes oder der Außenwände eines Gebäudes und der Farbe, kann der malende Roboter mit wilden Bewegungen seiner Arme in etwa zehn Prozent der Zeit Flächen mit einer Genauigkeit von einem Millimeter bemalen. Selbst in privaten Wohnungen könnte der Roboter am Abend programmiert werden, und am Morgen kann die Familie in die frisch ausgemalte Wohnung einziehen.

Sicherheit

Eindrucksvoll und zum Teil erschreckend sind die Entwicklungen der Kontrolle des privaten Bereiches. Auf Druck der Versicherungen -um Aufenthalt in Krankenhäusern und Altersheimen einzuschränken - wird nach Lösungen gesucht, älteren Menschen die Möglichkeit zu geben, weiter im eigenen Heim zu leben. Das Unternehmen 'Essence' installiert elektronische Systeme in Wohnungen, die Gesundheit, Sicherheit und Versorgung garantieren. Die individuell eingerichteten Systeme können die Einrichtung und Bewegungen beobachten, und körperliche Daten übertragen. Ist die Person am Morgen aufgestanden, wie oft auf die Toilette gegangen, Frühstück gegessen, gestürzt, den Herd vergessen abzuschalten und sind genügend Lebensmittel im Kühlschrank. Gleichzeitig können Blutdruck, Herzfrequenz, Blutzuckerspiegel, Zusammensetzung des Urins und Sauerstoffgehalt im Blut gemessen werden. Jede Information muss bewilligt werden, ebenso der Informationsfluss, ob dieser zu einem Arzt, einem Betreuer oder Verwandten geht.

'Essence' bietet dazu moderne Sicherheitssysteme, die alle herkömmlichen wie Ausstellungsstücke aus Museen aussehen lassen. Bei einem Einbruch in ein Geschäft oder eine Wohnung bläst ein kleiner Behälter dichten Nebel in die Räume, sodass die Einbrecher weder die Wertsachen noch den Ausgang finden. Auf dem Mobiltelefon fern der Wohnung kann gezeigt werden, wenn ein Paketbote läutet, Kinder früher von der Schule heimkommen, ein Fenster offen ist, die Klimaanlage noch läuft oder demnächst ein Dachziegel, der locker ist, vom Dach rutschen könnte.

Finanzierung

Im Vergleich zur Bevölkerung ist Israel nicht nur führend bei der Gründung von Start-ups, sondern auch bei der Finanzierung. Kapital aus der ganzen Welt fließt in israelische Unternehmen mit einer beeindruckenden Entwicklung -2020 auf 2021 stiegen die internationalen Investitionen um 136 Prozent. 74 neue Unternehmen sammelten 2021 mehr als 100 Millionen Dollar, doppelt so viele wie 2020. In Österreich gelang dies bei einer etwa gleich großen Bevölkerung keinem einzigen Start-up. Insgesamt bekamen 2021 neue Start-ups 14,7 Milliarden Dollar, um 310 Prozent mehr als 2020.57 Unternehmen wagten den Börsengang 2021, dreimal so viele wie 2020.

Ein Vergleich zu Österreich und anderen EU-Staaten zeigt den eindrucksvollen Vorsprung Israels. 426 israelische Unternehmen sind an der Börse, aus Österreich 68. Die durchschnittliche Finanzierung von Start-ups pro Einwohner liegt in Israel bei etwa 1.000 US-Dollar, in Österreich bei 100.

Der Erfolg hat seinen Preis. Der Quadratmeterpreis für Wohnungen liegt in Tel Aviv bis zu 35.000 Euro, damit kostet eine Dreizimmerwohnung für eine Familie etwa drei Millionen Euro. Der Reichtum der Erfinder, Investoren und Eigentümer lässt einen großen Teil der Bevölkerung auf einem Niveau zurück, auf dem der Alltag kaum noch zu finanzieren ist. Hinter der Glitzerwelt des IT-Wohlstands bleibt die Gesellschaft der Bauarbeiter, Krankenschwestern, Lehrerinnen und Taxifahrer weit zurück. Wie in Hollywood von Filmkarrieren träumen hier alle von erfolgreichen Start-ups -auch wenn 90 Prozent der Neugründungen bereits im ersten Jahr scheitern.