Worum es in der Oper wirklich geht

Wieder Erfreuliches vom Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele: Auch Gorki gelang vorzüglich. Dazu: eine Salzburger Autobus-Anekdote, die mich beunruhigt hat

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Saß da im Autobus zur Außenstelle Perner- Insel eine avancierte Schweizer Kollegin neben mir und ließ mich an ihrer Begeisterung über die Produktion von Cherubinis "Médée" im Großen Festspielhaus teilhaben. Da dieser Befund dem meinen widerspricht, begann ich vorsichtig nachzufragen: "Die Philharmoniker unter Hengelbrock fanden Sie nicht etwas fad?" Ja, stimmte mir die Kollegin zu. Die Philharmoniker hätten in der Tat reichlich Akademisches aus dem Graben befördert. "Und die Sänger?", wollte ich wissen. Seien, abgesehen von der tüchtigen Einspringerin Elena Stikhina, alle unter Festspielniveau gewesen. Inwiefern denn eine schlecht dirigierte und provinziell gesungene Opernpremiere die Begeisterung eines Kritikers erregen könne, forschte ich zart. Bestürzung ist noch der geringste Ausdruck für das, was ich damit generiert habe. Die bühnenfüllenden Schwarz-Weiß-Filme hätten wohl einen solchen Sog erzeugt, dass man den Rest vergessen habe. Nicht zu reden von der effektvollen Simultanbühne und der ergreifenden Prosa, die dem Jet-Setter Jason von der gepeinigten Migrantin auf die Mailbox praktiziert werde.

Diese Diagnose beunruhigt mich. Gewiss: Cherubinis Musik ist schwach. Aber als Filmmusik ist sie zu schade. Gewiss: In Salzburg herrscht wieder das künstlerische und intellektuelle Weltformat, das man einem Hochpreisunternehmen abfordern darf. Und nochmals gewiss: Teodor Currentzis hat zu Festspielbeginn einen denkwürdigen "Idomeneo" dirigiert. Aber schon dieser "Idomeneo", dessen Umsetzung durch Peter Sellars ich außerordentlich geglückt fand, laboriert an der defizitären Besetzung.

Nun ist die Direktkonkurrenz Bayreuth tatsächlich ein szenisches Versuchslabor, in dem einander Genie und Dilettantismus ein ständiges Duell liefern. Aber die verbliebenen Elite des Wagner-Gesangs liefert sich hier in relativer Geschlossenheit auch expliziten Zumutungen aus. Wobei teils theoretisch (Anna Netrebko sagte ab), teils praktisch (Piotr Beczala sang wirklich) sogar noch zwei Wagner-Außerirdische zum "Lohengrin"-Team um Christian Thielemann stießen. Um nun Missverständnissen vorzubeugen: Salzburg hat heuer in Opernbelangen noch Massives und Attraktives vor sich. Unter anderem die Wiederaufnahme der idealformatigen "Salome" des Vorjahrs, in der das Beste passiert ist, was Festspiele leisten können: die Entdeckung des Weltstars Asmik Grigorian. Und nächstes Jahr, zum Hunderter, ist das Beste ohnehin gerade gut genug (womit die Anforderungen eines Hochpreisfestivals umfassend definiert sind). Aber dass eine interessante Regie, wie Simon Stone sie der "Médée" angedeihen ließ, das Musikalische substituieren könnte: Das stelle ich nicht nur der Schweizer Kollegin in Abrede.

Unvermischte Freude bereitet mir bisher das Schauspielprogramm dieses Jahres. Die große Regisseurin Mateja Koleznik hatte Gorkis "Sommergäste" erkrankungsbedingt absagen müssen, und der junge Regisseur Evgeny Titov setzte in das schon bestehende Bühnenbild aus verschiebbaren Räumen eine wahre Meisterinszenierung. Der Revolutionär Gorki war da dem Kollegen Tschechow auf der Spur: Eine Landpartie saturierter Lebensversager, Karikaturen ihrer selbst, fault dem Ende ihrer Welt entgegen. Bei Titov feiern sie eine laute, zum Grauen peinliche Party (man wähnt sich, nur die Besetzung ist besser, in einer ibizenkischen Oligarchinnennichtenvilla). Aber in den dunklen Nebenräumen sterben Menschen vor Einsamkeit, wird eine hoffnungslose Ehe aufrecht erhalten, ein Selbstmord ohne Überzeugung vereitelt und ein anderer vollzogen. Hier wird von einem großartigen Ensemble aus vollem, blutendem Herzen Theater gespielt -eine Art Rückbesinnung, die das Salzburger Schauspielprogramm bisher insgesamt auszeichnet.