130 Millionen Schüler und ein Lehrer

Silicon Valley revolutioniert den Unterricht

von Sal Khan © Bild: Rachel Murray/Getty Images for The LA Promise Fund's "Hello Future" Summit

Der heute 45-jährige Sal Khan arbeitete nach dem Studium bei einer Investmentgesellschaft in Boston, als ihn die Eltern seiner Cousine Nadia verzweifelt anriefen. Die Tochter sei eine Katastrophe in Mathematik, der Lehrer hätte gedroht, sie würde wahrscheinlich den Highschool-Abschluss nicht schaffen und damit auch keine Aufnahme an einer Universität.

Khan vereinbarte mit Nadia tägliche Telefonate. Nach jeder Mathematikstunde sollte sie ihn am Nachmittag anrufen, und er werde gemeinsam mit ihr die Hausaufgaben machen. Nadia sträubte sich anfangs, rief tagelang nicht an, als jedoch ihre Noten schlechter wurden, entschloss sie sich, das Nachhilfeangebot anzunehmen. Ein Jahr später schloss sie das Abitur mit Auszeichnung ab und gewann als Mitglied des Teams ihrer Highschool einen Mathematik-Wettbewerb.

Nadia erzählte allen stolz von ihren Erfolgen, ihre Eltern sprachen mit anderen in der Verwandtschaft, mit Onkeln und Tanten, die ebenfalls Kinder hatten mit Schwierigkeiten in Mathematik, und bald meldeten sich andere Cousins und Cousinen bei Khan mit der Bitte um Unterstützung. Erst waren es drei, dann zehn und nach ein paar Wochen bereits 20, sodass Khan es neben seiner beruflichen Verpflichtung nicht mehr schaffte, mit allen zu telefonieren. Er schuf eine Webpage mit einer eigenen Software, doch die Kinder der Verwandten waren nicht begeistert, sie wollten mit ihm persönlich sprechen.

YouTube

Ein Kollege riet ihm, auf YouTube ein Video mit den Erklärungen zu veröffentlichen. Khan weigerte sich zu Beginn und erklärte in einem Interview: "Ich dachte damals YouTube sei gut, wenn man eine Katze zuhause hat, die Klavier spielen kann, oder einen Hund auf einem Skateboard." Er versuchte es dennoch, und seine Schüler waren begeistert. Eine schrieb ihm, es sei noch besser als die Telefonate, weil sie es unterbrechen und wiederholen könnte.

Khans einfache Erklärungen der kompliziertesten mathematischen Aufgaben erreichten mehr und mehr Kinder außerhalb seiner Familie. 2008, nur vier Jahre, nachdem er seiner Cousine Nadia geholfen hatte, nutzten bereits Zehntausende seine Videos. Bis eines Tages Bill Gates während einer Konferenz auf die humorvolle Frage, ob er als Mathematikgenie auch seinen Kindern bei Hausaufgaben helfe, antwortete, die würden lieber die Videos eines gewissen Sal Khan benutzen, der könne es besser erklären. Nach dieser Botschaft schaffte Khan die Doppelbelastung mit Beruf und Unterricht nicht mehr. Hunderttausende Schüler und Schülerinnen aus der ganzen Welt meldeten sich bei ihm, und er war nahe daran, das ganze Projekt aufzugeben, als Google sich bei ihm meldete und ihm einen Vertrag anbot, eine kostenlose Onlineschule für Mathematik aufzubauen.

Khan Academy

Khan gründete die "Khan Academy", und Google bot ihm eines der ungenutzten Büros in Kalifornien. Heute unterstützt die "Khan Academy" mehr als 135 Millionen registrierte Benutzer in 190 Ländern in 51 Sprachen. Mit dem Lockdown vieler Schulen und immer mehr Kindern, die zuhause arbeiten mussten, explodierte die Anzahl der regelmäßigen Nutzer innerhalb weniger Wochen von 30 auf 90 Millionen pro Tag. Khan, der seine Hilfe immer noch kostenlos anbot, wurde zum "Superstar" in Silicon Valley. Wohlhabende Geschäftsleute wie Eric Schmidt, Elon Musk, Carlos Slim und Bill Gates unterstützen ihn, betonten immer wieder, wie sehr Kahn auch ihren eigenen Kindern geholfen hatte, und lobten seine Unterrichtsmethoden als bahnbrechend und revolutionär.

Khan selbst hatte keine einfache Kindheit. Er wuchs mit seinen Geschwistern in Metairie, einem ärmlichen Vorort von New Orleans, auf. Sein Vater verließ die Familie, als Khan drei Jahre alt war. Er litt an schweren Depressionen und starb sehr früh. Seine Mutter arbeite in einem Supermarkt. Seine Schulkollegen beschrieb Khan als großteils "weiße" Kinder, die ein paar Jahre später im Gefängnis landeten oder bei wohlhabenden Eltern in deren Geschäften.

Unter der Armutsgrenze

"Wir lebten unter der Armutsgrenze, hatten keine Krankenversicherung, und an Urlaubsreisen oder Ferien am Meer war nicht zu denken", beschrieb er seine Kindheit. Sein Interesse galt der Mathematik und anderen Naturwissenschaften. Schon während der Highschool bekam er die Erlaubnis, an der University of New Orleans Lehrveranstaltungen für Mathematik zu besuchen. "Mathematik ist die reinste Form aller Wissenschaften und Erkenntnisse, alles andere ist relativ. Jeder, der von der Farbe Rot spricht, stellt sich etwas anders vor, die Mathematik löst sich von individuellen Vorstellungen", erklärte er in einem Interview. Als erster Schüler in der Geschichte seiner Highschool wurde er am berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) aufgenommen und schloss sein Studium an der Harvard University ab.

DotCom Millionäre

2014 gründete Khan "The Khan Lab School" in Mountain View, südlich von San Francisco, mit Altersgruppen von Schulbeginn bis zum Highschool-Abschluss. Mit einem Schulgeld von 30.000 US-Dollar pro Jahr löste er sich von der Idee des kostenlosen Unterrichts (den er jedoch weiter online für Mathematik anbietet) und gründete eine Eliteschule für die Kinder der Dotcom- Millionäre. Es gibt in seiner Schule keine Noten und keine Hausaufgaben. Den Unterricht koordinieren ältere Schüler, die sich durch Begabung und Kenntnisse ausgezeichnet hatten und von der Schulleitung ausgewählt werden.

Student:innen könnten in jedem Fach die nächsthöhere Klasse belegen, wenn sie nachweisen, den Stoff verstanden zu haben. Dadurch wären unterschiedliche Entwicklungen je nach Schüler und Unterrichtsfach möglich. Sie könnten in Chemie bereits in der sechsten Klasse und in Mathematik erst im fünften Jahrgang sein. Entsprechend der Begabung und dem Interesse werden individuelle Programme zusammengestellt, und allen Schülern, ob sie nun schnell oder langsam lernen, wird Unterstützung angeboten.

Für "Schnelligkeit" gäbe es weder Lob noch Auszeichnung, beschreibt Khan sein Unterrichtsprinzip. Er habe schon Schüler erlebt, die besonders langsam in der Highschool gewesen waren und sich später zu den besten Studenten auf der Universität entwickelt hatten.

Highschool Abschluss

Khan, der trotz seines Erfolgs immer noch wie vor 20 Jahren im selben Einfamilienhaus lebt, spricht von einem modernen Schulsystem, das Lernen revolutionieren könnte, wie Amazon das Einkaufsverhalten veränderte. Das traditionelle Klassensystem mit gleichaltrigen Schülern und stundenweisem Unterricht durch eine Lehrperson ignoriere die individuellen Bedürfnisse, Entwicklungen und Interessen der Kinder. Es gehe in seiner Schule nicht um die passive Form des Lernens, nicht um eine disziplinierte Erwartungshaltung, sondern um die aktive Verarbeitung von Wissen.

Während der Pandemie schuf er Hilfsprogramme, die online für die verschiedensten Fächer abrufbar waren. Jeder konnte sich als Tutor bewerben, Mindestalter war 13 Jahre. Khan erzählte von einem 14-jährigen Tutor, der einem 52-Jährigen, der arbeitslos zuhause saß und den Highschool-Abschluss nachholen wollte, bis zum Diplom betreut und unterstützt hatte.

Für den Herbst dieses Jahres plant Khan die Gründung der "The World Khan School", einer internationalen Universität, die mit 200 Studenten beginnen soll, es könnten jedoch nach einem Jahr auch 200.000 sein. Neben Mathematik werden Biologie, Chemie, Ökonomie und Physik angeboten. Die Studenten würden untereinander vernetzt sein, Frontalunterricht sei eine Methode der Vergangenheit, erklärt er seine Universität.

Vor 20 Jahren begann alles mit Nachhilfe übers Telefon. Heute unterrichten und forschen seine ehemaligen Studenten und Studentinnen an den führenden Universitäten, sind Manager und Direktoren in Dutzenden von Unternehmen und gründeten erfolgreiche Start-ups.

Ob er einen besonderen Wunsch für die Zukunft habe, fragte ihn ein Journalist. Sein Traum sei, dass einer seiner ehemaligen Schüler einmal den Mars betreten würde, antworte Khan.