Wieviel Bildungselend
steckt in Österreich?

Er hat die Philosophie wieder ins Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins gerückt. Nun verabschiedet sich der Maßstäbe setzende Universitätslehrer Konrad Paul Liessmann mit einem fulminanten Bändchen in den Unruhestand: „Die kleine Unbildung“ kombiniert Schlüsselsätze Liessmanns mit Cartoons von Nicolas Mahler. Ein Interview über Bildungselend, Barbarei und Altersironie

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Sachbuch - Wieviel Bildungselend
steckt in Österreich?

Hätte Liessmann denn eine Chance auf Alphabetisierung der Welt?
Die war nie mein Ziel. Ich hoffe natürlich, dass die „Kleine Unbildung“ gerade in ihrer unterkühlten Ironie vielleicht den einen oder anderen motiviert, auch andere Texte von mir zu lesen oder die Inhalte zu reflektieren, die in diesen kurzen Texten verhandelt werden: das Verhältnis zum Buch, zur Bildung, zur Kunst. Ich bin da bescheiden geworden. Es ist auch mir nicht entgangen, dass Leser und Kunstverständige keine besseren Menschen sind. Es wird nur das Leben einfach schöner mit Literatur, Kunst und so wunderbaren Zeichnungen wie von Mahler.

Wer sind denn heute die Hauptverbreiter des Analphabetismus? Die Regierung ist soeben aus dem Fernen Osten zurückgekehrt und hat verkündet, jetzt müssten die Lehrpläne entrümpelt werden, um die Digitalisierung im Klassenzimmer voranzutreiben …
Die Lehrpläne braucht man nicht mehr zu entrümpeln, denn viel steht in diesen ohnehin nicht mehr. Die dort formulierten Kompetenzen sind so allgemein formuliert, dass Entrümpelung nicht mehr erforderlich ist. Unter diesen hohlen Schlagworten liegt nichts mehr verborgen. Dass Schüler immer noch mit unnötigem Wissen und unzähligen Fakten gequält würden, wird immer mehr zum Mythos. Ich bin außerdem skeptisch, dass Digitalisierung das Mittel ist, Fragen der Bildung, der Kultur, der Pädagogik grundsätzlich zu lösen. Um wirklich Lesen zu lernen, um Liebe zum Text und zur Literatur zu entwickeln, brauche ich, weiß Gott, kein Tablet. Damit will ich nicht sagen, dass Tablets des Teufels sind. Sie sind nur überflüssig, und wenn man schon Geld, das im Bildungsbereich ohnehin knapp ist, ausgeben will, sollte man sich überlegen, wofür. Das Geld wäre besser in Lehrer investiert, die in der Lage sind, für Bildung zu begeistern, als in iPads, die in erster Linie dazu verwendet werden, Musik zu hören oder sich in sozialen Netzwerken zu tummeln.

Woher kommt Ihr heftiger Widerstand gegen die Zentralmatura?
So heftig ist er nicht. Ich habe ein paar kritische Bemerkungen dazu gemacht, das war alles. In der aktuellen Form ist die Zentralmatura allerdings eher verhängnisvoll. In den Fächern, in denen ich mich etwas auskenne – Deutsch zum Beispiel –, finde ich die „Kompetenzorientierung“ eine Katastrophe. Hier wird nicht ermittelt, was junge Menschen wissen und können, sondern es werden Arbeitsaufträge schematisch nach standardisierten Vorgaben abgearbeitet. Das, was Reife ausmachen würde, etwa eine Schreibform, in der sich ein eigenständiges Denken artikulieren kann, ist nicht Gegenstand der Zentralmatura. Und vor allem muss sich jede Form von zentralisierter und standardisierter Prüfung auf ein mittleres Niveau einpendeln. Es gibt also keine Möglichkeit mehr, Stärken und Begabungen sichtbar zu machen. Einen Teil der Reifeprüfung zentral zu organisieren und den anderen Teil dem Schulstandort zu überlassen, schiene mir ein gangbarer Weg. Die Matura verliert ohnehin dramatisch an Wert, seit an der Universität Aufnahmeprüfungen oder Eingangstests verlangt werden. Vielleicht sollten die jungen Leute die achte Klasse ganz normal abschließen. Damit würde auch das gebannte Starren auf die Gegenstände, die bei der Matura zentral abgeprüft werden, und die Vernachlässigung aller anderen Fächer aufgebrochen. Für die Idee einer allgemeinen Bildung wäre das die bessere Variante als der Papiertiger Zentralmatura.

Dafür Aufnahmeprüfungen an der Uni?
Das kommt ohnehin in Kürze. Für alle Lehramtsstudien etwa gilt dies bereits. Wie diese Tests gestaltet werden, ist aber wieder eine andere Frage.

Nun habe ich die Einladung zu Ihrer akademischen Abschiedsfeier bekommen. Sie sind doch der Inbegriff eines jungen, stür­mischen Geistes! Erschreckt Sie dieses Fortschreiten der Zeit nicht?
Ja und nein. Das Fortschreiten der Zeit schreckt immer, aber ich kann ja weiter lehren und forschen und Vorträge halten und in einer Teilzeitprofessur vielleicht noch zwei, drei Jahre weiterarbeiten. Es wird ein allmählicher, kein abrupter Abschied sein.

Fühlen Sie sich denn wie ein allmählich Abschied Nehmender?
Ja, schon.

Warum?
Die Perspektiven ändern sich. Wenn man im Rahmen einer Institution so viel mitgemacht hat, dann weiß man, dass es selten wirklich besser wird. Aber auch die Katastrophen bleiben aus. Man kühlt ab, man wird gelassener … ich merke schon, dass sich so etwas wie eine sanfte Alters­ironie einschleicht.

Haben Sie die Welt in dieser Zeit ein Stück weitergebracht?
Die große Welt bringt man durch ein paar Bücher nicht wirklich weiter. Aber ich habe den Eindruck, dass ich mit meinen Büchern und meiner Lehre Menschen zu etwas angestoßen habe, die mein Schreiben und Denken als Gewinn für ihr Leben erfahren. Vielleicht wurden sie auch nur bestätigt. Aber allein die Zuschriften von Lehrern, die ich darin bestärke, dass sie mit ihrer Einstellung nicht allein sind, stellen eine Resonanz dar, die ich mir wünsche. Oder dass Menschen durch meine Vorlesungen auf bestimmte Fragen erst aufmerksam gemacht wurden. Aber dass ich zum Beispiel mit der Bologna-Reform der Universität Lebenszeit vergeudet habe, steht auf dem anderen Blatt. Von dem, was damals bejubelt wurde, funktioniert nur wenig oder wurde in das Gegenteil verkehrt. Bekommen haben wir rigide, verschulte, in ein enges Korsett gepresste Studien, die mit dem, was man früher akademische Freiheit nannte, nur mehr wenig zu tun haben.

Hat sich die Politik je um Ihre Bildungsvisionen gekümmert?
Vielleicht habe ich ein paar Bildungspolitiker nachdenklich gemacht. Gebracht hat es wenig. Ich sehe mich auch eher in der Position des Intellektuellen: als kritischen Begleiter von Prozessen, die man selbst nicht unbedingt gestaltet oder ­vorantreibt, aber beobachtet und kommentiert.

Woher kommen eigentlich die schlechten Wertungen der österreichischen Universitäten in den Ranglisten?
Ich halte von diesen Listen nichts. Man muss sich nur die Kriterien ansehen! Es gibt zum Beispiel Rankings, die nur nach Umfragen unter Universitätsprofessoren erstellt werden. Dann gibt es messbare Kriterien, zum Beispiel das Verhältnis von Professoren zu Studenten. Das ist bei Massenuniversitäten wie der unseren denkbar schlecht, an einer Eliteuniversität, wo man zigtausend Dollar Studiengebühren pro Semester zahlt, denkbar gut. Natürlich kann man sagen, eine Universität mit einem Betreuungsverhältnis von eins zu zehn ist toll. Aber umgekehrt: An einer Massenuniversität ein Niveau aufrecht zu erhalten und internationale Forschungsleistungen zu erbringen, wäre vielleicht höher zu bewerten als die Leistungen einer mit Geld überschütteten Elite-Universität. Aber natürlich wird mit diesen Rankings Standortpolitik gemacht.

Wie kam es eigentlich zur systematischen Geringschätzung der Geisteswissenschaften?
Gibt es denn die? Im öffentlichen Diskurs zumindest, wenn es um Medien, Fake-News, die Gefährdung der Demokratie, der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Begegnung mit dem Fremden oder Fragen der Gerechtigkeit geht, kommt man ohne die Geisteswissenschaften nicht aus. Sicher, der Konflikt mit den Naturwissenschaften ist ein meines Erachtens überbewerteter Standardstreit. Aber es werden keine Professuren gestrichen, und sehen wir uns doch die Studentenzahlen an! Die große Akademikerrate verdanken wir nicht der Tatsache, dass unglaublich viele jungen Leute auf die Technischen Universitäten strömen, sondern der Tatsache, dass die Mehrzahl zu den Human- und Geisteswissenschaften tendiert. Aus arbeitsmarktpolitischen Gründen wird das ja eher skeptisch betrachtet, weil die Chancen nicht überragend sind.

Was soll man dagegen tun?
In Massenfächern kommt es ja schon jetzt zu Begrenzungen. Auf der anderen Seite stehe ich nach wie vor auf dem Standpunkt, dass gut ausgebildete Absolventen der Humanwissenschaft in den verschiedensten Feldern reüssieren können und müssen. Aber der am Würstelstand arbeitende Kulturwissenschaftler ist eindeutig kein Ziel.

Sind Sie von der aktuellen Regierung enttäuscht, weil Ihre zentralen Bildungsvorgaben kaum berücksichtigt werden? Und sehen Sie wie viele Intellektuelle die türkis-blaue Regierung auf einer barbarischen Schiene?
Mit dem Begriff der Barbarei sollte man vorsichtig sein. Die sozialdemokratischen Bildungs­ministerinnen haben nicht wirklich etwas weitergebracht, die Fehlkonstruktion der Neuen Mittelschule kam von Frau Schmied und die unselige Idee mit den Tablets an den Schulen von der Frau Hammerschmidt. In manchen versucht BM Faßmann – wie umstritten auch immer – gegenzusteuern, in anderen Bereichen – Digitalisierung – scheint zumindest ein Nachdenkprozess stattzufinden. Wichtig wäre es, die unsinnige Kompetenz­orientierung in den Lehrplänen zurückzufahren, die Lehreraus- und Weiterbildung zu verbessern und die Rolle der Lehrpersonen insgesamt gegenüber Organisations- und Strukturfragen wieder zu stärken. Dass da wenig geschieht, enttäuscht mich schon. Aber auch das sehe ich nach vierzigjähriger Beobachtung der Bildungspolitik gelassen. Die Welt geht nicht unter, wenn sie sich nicht sofort in ein Paradies verwandelt.

Und gesamtpolitisch? Die FPÖ?
Das in der Tat unangenehme Wirken der FPÖ wird noch von Sebastian Kurz überstrahlt. Auf der anderen Seite hätte ich mir von dieser Regierung nichts anderes erwartet. Sie hat eine andere Agenda, eine andere politische Ausrichtung als die Sozialdemokratie und die Kulturlinke und versucht, das – eher schlecht als recht – zu exekutieren. Das ist eben Demokratie. Mehr verwundert mich die Selbstdemontage der Opposition. Es ist doch erstaunlich, dass sich bei einer Regierung mit so vielen Angriffsflächen und Fragwürdigkeiten die Opposition nicht profilieren kann und sich inhaltlich wie personalpolitisch auf allen Ebenen demontiert. Aber auch das sehe ich mit der ironischen Altersgelassenheit.

Werden Sie unter deren Einfluss eher skeptischer oder eher optimistischer?
Ich versuche, sowohl Euphorien als auch Hysterien zu vermeiden. Mich empört nicht mehr jeder kleine sprachliche Ausrutscher eines drittklassigen Funktionärs. Ich weiß ohnehin, dass es diese Typen gibt, nur äußern sie sich jetzt per Facebook und nicht mehr nur im Bierkeller. Ich finde auch die sozialen Medien überbewertet und weigere mich, in eine pausenlose Empörungshysterie zu verfallen. Auf der anderen Seite glaube ich auch nicht, dass alle diese glorreichen Zukunftsversprechungen einlösbar sind. Die Welt wird nicht besser, nur weil unsere Smartphones noch schneller und schicker werden. Ich glaube allerdings schon, dass wir durch die Digitalisierung auch Chancen hätten im Hinblick auf die Wiedergewinnung von Freiheit und Freizeit, Muße und Souveränität. Ich frage mich nur, ob wir dazu politisch wirklich willens und in der Lage sind.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der Printausgabe 43-44 2018