Russlands "Brain-Drain"

Die Intelligenz verlässt das Land

von Olga Smirnova © Bild: imago images/ITAR-TASS

Die Emigration der Intelligenz aus Russland ist an und für sich nichts Neues. In den letzten 20 Jahren verließen Akademiker, Künstler, Techniker, Unternehmer und Professoren zu Tausenden das Land, behielten jedoch ihre Wohnungen in Moskau oder Petersburg. Wer es sich leisten konnte, ging weiter seinen Geschäften nach, übersiedelte jedoch die Familie nach Wien, Paris, London oder New York und schickte seine Kinder in teure Privatschulen.

In den Vorzeigestädten Moskau und Sankt Petersburg sind in manchen Branchen die Gehälter explodiert, um Spezialisten und Fachleute zu halten. Die Regierung versuchte in den letzten Jahren, internationale Studenten mit besonderen Vergünstigungen und Stipendien nach Russland zu holen, mit der Hoffnung, dass sie nach den Studium bleiben würden. Doch seit dem Überfall auf die Ukraine hat sich die Situation dramatisch verändert. In der Politik und in den Medien geht es vor allem um die Oligarchen, ihre Villen, ihre Jachten, ihre Investitionen und Beteiligungen, und die versteckten Konten im Ausland - um viel Geld, sehr viel Geld sogar. Dennoch ist der wirtschaftliche Verlust dieser Boykott-Beschlüsse für Russland zu vernachlässigen, da der Großteil des Vermögens der sogenannten Superreichen ohnehin bereits im Ausland angelegt ist.

"Akademische" Flucht

Ein nicht ersetzbarer Verlust ist die "akademische" Flucht, die mit dem Krieg in der Ukraine begann. Innerhalb weniger Tage verließen derart viele gut ausgebildete Fachleute Russland -oder kehrten von Auslandseinsätzen nicht mehr zurück -, dass einige Unternehmen ihre Aktivitäten reduzieren oder einstellen mussten. Dabei geht es nicht um Niederlassungen ausländischer Konzerne, die sich zurückgezogen hatten, sondern um russische Unternehmen, Forschungszentren, kulturelle Institutionen und Universitäten, die ihre intelligenten "Köpfe", ihre Manager, ihre Künstler, ihre Forscher und Professoren verloren.

Olga Smirnova, Primaballerina des berühmten Bolschoi-Theaters, die als Mitglied der Ballettgruppe das Publikum weltweit begeisterte, hatte sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen und sofort das Land verlassen. Sie wird bereits im April mit dem Dutch National Ballet auftreten, dessen Direktor Ted Brandsen erklärte, es sei eine Ehre für sein Land, dass sich dieses Talent für Holland entschieden hätte. Smirnova sagte in einem Interview, sie hätte sich nie vorstellen können, sich einmal für Russland schämen zu müssen. Sie sei stolz auf die kulturelle Tradition Russlands, könne jedoch diese Tradition nicht von den Grausamkeiten im Namen Russlands trennen. Ähnlich äußerte sich der Choreograf Alexei Ratmansky, der eine Premiere des Bolschoi-Balletts einfach absagte, als der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine begann. Mehrere Tänzer und Tänzerinnen meldeten sich zu Wort und erklärten ebenfalls, das Land so bald wie möglich zu verlassen.

Istanbul

Alexander Vishnevskiy, ein in Russland bekannter YouTube-Produzent, wollte in den Tagen nach dem Überfall mit dem Schiff Istanbul erreichen, ein Fluchtweg, den viele Russen nach der Oktoberrevolution 1917 wählten. Es war sinnlos, er konnte kein Ticket bekommen. Er versuchte es mit Flügen nach Lettland, Estland und Litauen, doch auch das war aussichtslos, bis er durch Zufall um drei Uhr morgens im Internet ein Zugticket nach Tallinn um teures Geld ersteigerte. "Russen versuchen, in irgendein Land zu fliehen, vielen ist es egal, in welches, die Hauptsache: nichts wie weg", sagte er nach seiner Ankunft.

25.000 gingen nach Georgien, 80.000 nach Armenien, 12.000 in die baltischen Staaten, 10.000 in die Türkei und 50.000 nach Westeuropa, Israel, Kanada und die USA. Etwa 200.000 haben bisher Russland verlassen. Die Regierung in Helsinki gab bekannt, dass seit Beginn des Kriegs etwa 1.000 Russen pro Tag die Grenze nach Finnland überschreiten. Oft ging es um nur wenige Stunden, bevor Flug-und Bahnverbindungen eingestellt wurden.

Nach Schließung der Flugrouten in die EU und dem Boykott geleaster Flugzeuge russischer Fluglinien explodierten die Ticketpreise der wenigen noch offenen Verbindungen. Der Filmproduzent Andrey Anastasiadi bemühte sich tagelang um ein Ticket nach Istanbul, das normalerweise 200 Euro von Moskau kostet, bis er eine Verbindung über Buchara und Taschkent in Usbekistan nach Istanbul fand -um den Preis von 3.000 Euro.

In den letzten Tagen wurde es immer schwieriger, Russland zu verlassen. Die baltischen Staaten und Finnland, die früher kein Visum von Reisenden aus Russland verlangten, mit Beginn des Kriegs die Visumpflicht einführten, wiesen ihre Konsulate in Russland an, keine neuen Visa mehr auszustellen. Jene, die bereits ein Visum besitzen, müssen ein Impfzertifikat vorweisen.

Namenslisten

Doch auch die wenigen noch offenen Grenzen führen nicht unbedingt in die Freiheit. David Frenkel, ein bekannter kritischer Journalist, wurde von georgischen Grenzsoldaten aufgehalten. Nach 14 Stunden Wartezeit forderten sie ihn auf, umzukehren, da seinen Name auf einer Liste stehen würde, die den Behörden von der russischen Regierung übergeben worden war. Frenkel konnte sich kurz vor seiner Verhaftung nach Israel retten.

David Merkel vom International Institute for Strategic Studies beobachtet einen neuen Trend der Auswanderung: "Die neue ökonomische und akademische Elite Russlands geht nicht nur in den Westen, sondern bewirbt sich bei Unternehmen und Universitäten in Armenien, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan oder setzt sich dort mit ihren Ersparnissen ab. In den letzten Tagen haben Tausende Russen in Kasachstan Bankkonten eröffnet, solange es noch möglich war, Geld aus Russland mitzunehmen."

Die große Angst der neuen, erfolgreichen Mittelklasse ist die Einführung des Kriegsrechts, das finanzielle Transaktionen und das Verlassen des Landes unmöglich machen würde. Putin versicherte zwar mehrere Male, dass er nicht die Absicht habe, das Kriegsrecht einzuführen, doch niemand vertraue ihm. Der Rubel verlor innerhalb von drei Wochen 50 Prozent seines Werts. Die Boykottmaßnahmen betreffen oft alltägliche Bedürfnisse. Selbst für eine Packung Kaffee und andere importierte Lebensmittel muss man sich stundenlang anstellen.

Angstgefühle

Die brutalen Maßnahmen gegen jede Form des Protests würden ein ständiges Gefühl der Angst und Unsicherheit verbreiten. Menschen werden ohne Grund verhaftet und verschwinden oft tagelang. Laut David Merkel ist es in vielen Fällen keine rein ökonomische Entscheidung, Russland zu verlassen. Viele würden für sich und ihre Familien keine Zukunft dort sehen. In den letzten Jahren habe sich eine gut verdienende Mittelschicht gebildet, die ohne die Milliarden der Oligarchen dennoch im Sommer in die Türkei fuhr, im Winter zum Skiurlaub nach Österreich und in modernen, bequemen Wohnungen lebe. Jetzt befürchten sie ein Ende dieses angenehmen, sicheren Lebens in Russland.

Nicht überall werden die russischen Auswanderer und politischen Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Während am Bahnhof in Helsinki den ankommenden Russen Blumen überreicht werden und ein eigenes Büro sie betreut und Unterstützung anbietet, herrschen vor allem in den baltischen Staaten Misstrauen und Angst, dass sich unter den Fliehenden Agitatoren und Spione befinden.

Kęstutis Budrys, der Sicherheitsberater des Präsidenten von Litauen, ersuchte die EU, einen Teil der russischen Flüchtlinge zu übernehmen. Putin habe eine lange Tradition der Missinformation der russischen Minderheit in den baltischen Staaten. In den letzten Tagen seien Lügen und Propaganda über den Krieg in der Ukraine über Social Media verbreitet worden. Eine Aufhetzung der russischen Minderheit in den baltischen Staaten könnte Putin einen Grund geben, "helfend" mit seiner Armee einzugreifen. Da die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, Mitglieder der Nato sind, wäre ein Überfall auf eines dieser Länder durch die russische Armee eine weitaus größere Katastrophe als der Einmarsch in der Ukraine.