Rudolf Anschober: "Sonst geht das im Herbst ziemlich schief"

Der ehemalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober hat ein Buch über die Pandemie geschrieben. Darin erzählt er Schicksale, rechnet mit Kurz und Co. ab - und hat eine Idee, wie man es EU-weit besser machen kann

von Rudolf Anschober © Bild: News/Ricardo Herrgott

Zwei Jahre Pandemie und kein Ende in Sicht. Wenn man da als Ex-Gesundheitsminister ein Buch über Corona schreibt, fallen die Reaktionen nicht nur freundlich aus. Ausgerechnet der, hieß es dieser Tage hin und wieder in Richtung Rudolf Anschober, der vor einem Jahr, am Ende seiner Kräfte, zurückgetreten ist. Was will er mit diesem Buch? "Ich wollte einen Aufarbeitungsprozess starten, für mich und unsere Gesellschaft", sagt er. "Die Pandemie hat viel mit uns gemacht. Ich wollte durch viele Gespräche sichtbar machen, welche Menschen, welche Gefühle, welche Erfahrungen hinter den nackten Coronazahlen stehen, die wir jeden Abend im Fernsehen erfahren. Was ist schiefgegangen, was können wir besser machen?"

Anschober, der wortreiche Erklärer der ersten Corona-Monate, musste erkennen, dass heute jede Aussage dazu wütende Reaktionen hervorruft von jenen, denen alles viel zu lasch ist, ebenso wie von jenen, denen alles viel zu streng ist. "Es gibt viele, die einfach die Nase voll haben", sagt er. "Einiges erinnert mich an einen esoterischen Gebetskreis: Wir machen die Augen zu und sagen, wir wollen das alles nicht mehr, es darf nicht sein. Das funktioniert nur leider nicht." Es gebe mittlerweile viele, die resigniert haben, auch in der Politik, europaweit. "Da sind wir immer noch in diesem Klein-Klein drinnen, jeder versucht, mit seinen kleinen maßgeschneiderten Konzepten gegen Corona anzukämpfen, obwohl wir alle vor derselben Herausforderung stehen".

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Er sieht heute nur eine Lösung: "Wir müssen auf europäischer Ebene eine gemeinsame Strategie erarbeiten. Keiner versteht, warum es im Umkreis von 100 Kilometern mehrere teils völlig unterschiedliche Konzepte für dieselbe Bedrohung gibt. Ein gemeinsames Vorgehen wäre effektiver und glaubwürdiger für die Bevölkerung. Wir müssen in der Corona-Bekämpfung einen Neubeginn schaffen, wir müssen uns auf den Worst Case einer gefährlichen Virusmutation vorbereiten, sonst geht das möglicherweise im Herbst ziemlich schief." Er habe nach wie vor Kontakt zu früheren Kollegen auf europäischer Ebene, bei denen er dafür werben will. "Und natürlich auch beim Johannes (Rauch, dem nunmehrigen Gesundheitsminister, Anm.). Das Prinzip ist eigentlich total logisch. Ich ärgere mich, warum mir das erst jetzt einfällt und nicht schon vor eineinhalb Jahren. Am Beginn der Pandemie ging alles zu schnell. Aber im Herbst 2020 wäre eine gemeinsame Pandemiestrategie schon eine Option gewesen."

Jeder spielt sein eigenes Spiel

Aber Sie haben es als Gesundheitsminister ja schon nicht geschafft, Einigkeit mit neun Landeshauptleuten herzustellen? "Nicht oft genug", nickt er. Wie also will man 27 EU-Staatschefs unter einen Hut bringen? Auch da gilt: Es gibt unterschiedliche Bedürfnisse, irgendwer steht immer im Wahlkampf und schielt auf Umfragen. "Wir wissen jetzt ja zumindest, was funktioniert und was nicht. Wenn man an die Lernfähigkeit der Menschen glaubt, muss doch das Ziel sein, das Virus zu kontrollieren, sonst wird uns das noch Jahre beschäftigen. Esoterisch zu glauben, es wird schon irgendwann von selbst aufhören, kann ja keine Option sein." Dass man gemeinsam besser vorankommt, habe sich bei der EU-weiten Beschaffung der Impfstoffe gezeigt. "Da wäre es ja auch für den einen oder anderen nationalen Prinzen interessanter gewesen, zu sagen, ich mach das selbst und bin dann der Held."

»Esoterisch zu glauben, es wird schon irgendwann von selbst aufhören, kann ja keine Option sein«

Europa habe schon in der Vergangenheit, nach dem Zweiten Weltkrieg, gesehen, dass es besser ist, gemeinsam an Wiederaufbau und Sicherheit zu arbeiten. "Das ist uns in dieser Krise abhanden gekommen." Der grüne Ex-Politiker mahnt: "Wenn wir es bei der Pandemie nicht schaffen, werden wir es auch bei der Klimakrise nicht schaffen. Und umgekehrt: Die Pandemie durch Zusammenhalt zu beenden, würde uns einen Turbo zur Lösung der anderen Megakrisen geben."

Rudolf Anschober
© News/Ricardo Herrgott

In letzter Konsequenz müsste die EU dann allerdings auch die härteste Maßnahme empfehlen können - einen europaweiten Lockdown. "Dann müsste jeder Nationalstaat rechtfertigen, warum er nicht mitmacht." "Im Grundprinzip soll es allerdings eine europaweite gemeinsame Strategie sein, auf die man sich einigt: eine Niedriginzidenzstrategie, also ein Durchhalten geringer Infektionszahlen, um nicht wieder eine Notbremsung in Form eines Lockdown zu benötigen. Das bedeutet aber, nicht wieder zu früh zu öffnen." Mittelfristig wirbt er für eine europäische Grundkompetenz bei grenzüberschreitenden schweren Gesundheitskrisen.

Stark anfangen, stark nachlassen

In Österreich hat die Gemeinsamkeit in der Pandemiebekämpfung nicht lange angehalten. Als die Umfragewerte für Sebastian Kurz und Anschober in die Höhe schossen, gab es bei manchen den Drang, alleine zu glänzen, die Opposition wiederum "hat das Gefühl gehabt, nicht eingebunden zu sein. Und man wollte nicht den Steigbügelhalter machen, damit Kurz bei der nächsten Wahl die absolute Mehrheit bekommt", erzählt Anschober. Ab diesem Zeitpunkt gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Kurz schwierig. Die Kritik an ihm fällt im Buch deutlich aus: "Über die Rolle des Bundeskanzlers kann ich nur rätseln. Hat er eine eigenständige Position? Setzen ihn die sechs ÖVP-Landeshauptleute unter Druck? Oder schiebt er sie vor? Die Linie von Sebastian Kurz hat sich im Laufe der Pandemie geändert. Manchmal wirkt er auf mich, als wäre er getrieben von Umfragedaten, in erster Linie von seinen eigenen", schreibt Anschober und: "Es ist ja nicht neu. Kommt öffentliche Kritik, habe ich den Eindruck, dass sich der Kanzler wegduckt. Anstatt sich gegen die Welle der Kritik zu stellen, surft er auf ihr. In der Phase können wir politische Spielchen nicht gebrauchen."

Kritik gibt es auch an den Landeshauptleuten: "Wenn du die beknien musst, dass sie deinen Weg mitgehen, dann passt das einfach nicht zu dem Zeitdruck, unter dem du bei einer Pandemie entscheiden musst", sagt Anschober heute. Für die Zukunft heiße das: "Wir müssen neu ordnen, wer wofür die Verantwortung trägt. Am Beginn der Pandemie haben neun Landeshauptleute im Bundeskanzleramt gesagt: 'Macht ihr das.' Dass sich das im Lauf der Zeit mehrfach geändert hat, hat mit den verschiedenen Interessenlagen wie Landtagswahlen oder Wintertourismus zu tun. So ist viel zu viel Klein-Klein, ein Wildwuchs eines Flickenteppichs entstanden, dem viele misstrauen." Freilich hat auch die Bundesregierung bei manchen Aufgaben, etwa der Durchführung der Impfungen, den Ländern gesagt: "Macht ihr das."

Auch das war eine Motivation für dieses Buch: "Ich habe wie auch meine Nachfolger Tausende Male gehört: 'Jetzt machen Sie das endlich. Sie sind der Minister.' So funktioniert das nicht. Man braucht für alles eine koalitionäre Einigung. Es gibt keine Verordnung, die nicht akkordiert ist, wurscht, in welchem Bereich. Man musste die Länder überzeugen. Das sichtbar zu machen, ist wichtig, damit der Bürger weiß, was er sich eigentlich von der Politik erwarten kann."

Wie die Pandemie Rudolf Anschober verändert hat? "In meiner Kindheit hat es geheißen, man ist seines Glückes Schmied. Das stimmt für uns als Schicksalsgemeinschaft: Wir entscheiden, ob dieser Planet um sechs Grad wärmer wird. Ob diese Pandemie aufhört. Ob wir abhängig sind von irgendwelchen Despoten. Das sind keine Automatismen. Das entscheiden wir. Dieses Grundverständnis ist massiv im Wachsen. Das ist schon etwas, das zu Hoffnung Anlass gibt."

Dieser Beitrag ist ursprünglich im News-Magazin Nr. 14/2022 erschienen.