"Die Krise haben
Pragmatiker produziert"

Autor legt seinen großen EU-Roman "Die Hauptstadt" vor

Mit "Die Hauptstadt" legt Robert Menasse nun seinen mit Spannung erwarteten Großroman zu Europa in unserer Zeit vor.

von Robert Menasse - "Die Krise haben
Pragmatiker produziert" © Bild: Daniel LEAL-OLIVAS / AFP

Die Krise der Gemeinschaft hätten die Pragmatiker produziert - nicht die Utopisten, unterstreicht Menasse kurz vor der Veröffentlichung seines Werks gegenüber der APA. Seine Conclusio ist deshalb eindeutig: "Wir müssten die EU [...] neu gründen."

APA: Die Idee eines großen europäischen Romans stand ja bereits im Raum, als Sie vor einigen Jahren vorübergehend nach Brüssel gezogen sind. In der Folge meinten Sie allerdings, Sie hätten "Skrupel" gegenüber dem Format. Hat sich diese mittlerweile gelegt?

Robert Menasse: Skrupel in Hinblick auf so einen Anspruch kann man gar nicht loswerden, wenn man bei Sinnen ist. Aber deswegen muss man dennoch beginnen, versuchen, noch einmal beginnen, wieder versuchen.

APA: Sehen Sie die Form des Romans im Gegensatz zu engagierten Reden als Möglichkeit, über jenes Biotop der Überzeugten hinaus wirksam zu werden, die man ohnedies nicht mehr überzeugen muss?

Menasse: Mein Roman, und grundsätzlich der Roman als Gattung, ist kein Instrument, um jemanden zu überzeugen, schon gar nicht von der Sinnhaftigkeit politischer Institutionen. Mein Verständnis von Roman und - wenn Sie so wollen - mein Anspruch ist zu erzählen, was kennzeichnend und prägend für die Epoche ist, in der wir leben. So zu erzählen, dass die Leser sich in ihrer Zeitgenossenschaft erkennen, und spätere uns verstehen. Das Interessante an der EU und ihren Institutionen ist, dass sie zweifellos die Rahmenbedingungen unseres Lebens prägen. Man kann Zeitgenossenschaft nicht reflektieren, ohne zu versuchen, dies zu verstehen, ohne sich das genauer anzuschauen, wie das passiert und was da passiert. Die Frage in Hinblick auf einen Roman ist dann nicht: Wie kann ich wen wovon überzeugen, sondern: Wie kann ich das erzählen? Wie kann ich Exemplarisches und Typisches gestalten, ohne dass dann Pappkameraden und Thesenträger durch den Roman geschoben werden.

»Alles Menschengemachte ist erzählbar«

APA: Hätten Sie selbst vor dem Tippen des ersten Satzes erwartet, dass sich die oft als "Eurokraten" desavouierten EU-Beamten als romantauglich erweisen?

Menasse: Das war die Frage, als ich nach Brüssel ging: Sind Bürokraten romantauglich, kann man aus ihnen literarische Figuren machen? Aber das war als Ausgangspunkt auch ein wenig kokett. Denn das ist ja Romantheorie Erstes Semester: Romane erzählen von Menschen in bestimmten Situationen. Alles Menschengemachte ist erzählbar, und handelnde Menschen sind in ihren Handlungen darstellbar.

APA: Auf der einen Seite kann man "Die Hauptstadt" als Fallbeispiel für einen realistischen Roman der heutigen Zeit lesen, zugleich konterkarieren Sie das Geschehen mit der zumindest surreal grundierten Seitenhandlung des Schweins. Bedarf es in Ihren Augen dieser zweiten Ebene, um die erste zugänglich zu halten?

Menasse: Nein. Nicht in diesem Sinn. Es ist doch vielmehr so, dass das Surreale Teil der Realität ist, erst recht in so großen, komplexen Institutionen und in der Wirkung, die sie zeitigen.

APA: Wie sehr empfinden Sie Ihren Roman auch als Hommage an die Stadt Brüssel, die Sie ja mit einem sehr detailgenauen Blick porträtieren?

Menasse: Ja, das wollte ich wirklich. Ist es mir gelungen? Je länger ich in Brüssel war, desto spannender und liebenswerter fand ich diese Stadt.

APA: Ihr "Europäischer Landbote" war ein flammendes Plädoyer für die EU und ihre Institutionen. Ungeachtet eines durchaus humorvollen Grundtenors, wirkt "Die Hauptstadt" im Vergleich beinahe etwas wehmütig. Entspricht das Ihrer persönlichen Entwicklung zur Thematik in den vergangenen Jahren?

Menasse: Es entspricht zumindest der Stimmung in der Europäischen Kommission, zumindest vieler Beamter auf der Arbeitsebene.

Gefahr des Untergangs des europäischen Einigungsprojekt

APA: Sie haben im "Landboten" und in Ihrem Engagement seither für die Abschaffung des Rates und damit eine Neukonzeption des jetzigen Institutionenkanons plädiert. Ist ein derartig radikaler Schritt für Sie denkbar ohne den Druck einer Krise, deren Dimension die Euro- und Finanzkrise bei weitem übersteigen?

Menasse: Ein radikaler Schritt, oder mehrere radikale Schritte werden gemacht werden müssen, bei sonstiger Gefahr des Untergangs des europäischen Einigungsprojekt. So wie die EU heute politisch organisiert ist, kann das Projekt nicht glücken. Wir müssten die EU auf der Basis ihrer Gründungsidee und der Errungenschaften, die sie zweifellos brachte, neu gründen, nicht nur, um sie handlungsfähiger zu machen, sondern vor allem auch, um sie demokratischer zu machen.

APA: Um den alten Topos von der EU, die an ihren Krisen wächst, aufzugreifen: Wie entscheidend ist die Phase, in der sich die Union derzeit befindet? Oder ist es nicht schon seit vielen Jahren immer Fünf vor Zwölf?

Menasse: Wir haben nicht eine Krise, sondern viele Krisen, in vielen Bereichen, und sie alle sind Symptome des unlösbaren und unproduktiven Widerspruchs, in den die EU verstrickt ist, nämlich der Widerspruch zwischen der nachnationalen Entwicklung, die schon sehr weit fortgeschritten ist, und der Renationalisierung, die massiv eingesetzt hat, institutionell einzementiert im Widerspruch zwischen Kommission und Rat. Entweder wir gestalten einen Ausweg oder wir erleiden den Zusammenbruch. Für beides, so oder so, ist die Krise aber offenbar noch nicht groß genug. Inzwischen wird geradezu kakanisch weitergewurstelt...

»Die Krise haben Pragmatiker produziert«

APA: Die Debatte um die Modalitäten des Brexit hat in den vergangenen Monaten die Euro- und Finanzkrise aus den Schlagzeilen verdrängt: Sehen Sie den Ausstieg Großbritanniens aus der Gemeinschaft als Chance für deren Weiterentwicklung?

Menasse: Ja. Eine Union kann nicht funktionieren, wenn ein Mitglied immer nur Ausnahmen beansprucht und Gemeinschaftsentscheidungen immer wieder blockiert. Viele Beamte in der Kommission, die ich kennengelernt habe, haben auf den Brexit gehofft, weil sie in der täglichen Arbeit erlebt haben, wie UK ihnen das Leben schwer gemacht hat.

APA: Visionäre in der Europadebatte werden wie in anderen Politikbereichen als Utopisten abqualifiziert. Sind die Pragmatiker der Untergang der EU?

Menasse: Eines zumindest ist sicher: Die Krise haben Pragmatiker produziert. Das waren doch keine Spinner und Utopisten, die in politischer Verantwortung standen. Aber deswegen ist die Krise auch pragmatisch nicht lösbar. So wird nicht Zukunft produziert, sondern nur mühsam und wackelig Gegenwart verlängert...

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