"Er lässt Zweifel in der Öffentlichkeit zu"

Stefan Berkholz, Autor einer einfühlsamen Biografie über Robert Habeck, erklärt den überraschenden Erfolgslauf des deutschen Vizekanzlers, Wirtschafts-und Klimaschutzministers trotz Krieg und Krise.

von Robert Habeck © Bild: IMAGO images/Chris Emil Janßen
Stefan Berkholz wurde 1955 geboren und schrieb Beiträge für die "Zeit" und den "Tagesspiegel", Rezensionen für den ARD-Hörfunk und Hörfunkfeatures. Seine Habeck-Biografie "Das ganze Ding ist ein Risiko. Eine Nahaufnahme" erschien 2021 im Blessing-Verlag (17,99 Euro). Berkholz sprach dafür mit Robert Habeck selbst, aber auch mit zahlreichen Weggefährten und Begleitern. Er zeichnet den Weg des Norddeutschen vom studierten Philosophen, der gemeinsam mit seiner Frau mehrere Bücher veröffentlichte und vier Söhne großzog, bis zum populären Spitzenfunktionär der deutschen Grünen nach.

Ihr Buch über Robert Habeck ist im Frühling 2021 erschienen, noch bevor das grüne Spitzenkandidaten-Match entschieden war -und natürlich lange, bevor man wissen konnte, dass die Grünen in die Regierung kommen. Agiert der Vizekanzler und Minister Robert Habeck so, wie Sie sich das erwartet haben?
Viele wundern sich darüber, wie er ein solch riesiges Amt wie das Wirtschaftsministerium in den Griff bekommen hat und managt. Dabei wird leicht übersehen, wie beliebt und erfolgreich er bereits über sechs Jahre als Minister in Schleswig-Holstein war. Er hatte die Regierungserfahrung, die andere nicht mitbringen. Und er wollte nichts mehr als endlich wieder selbst "gestalten", wie es in der Politikersprache und auch von ihm heißt. Überfordert scheint er also keineswegs zu sein. Verblüffend ist aber das enorme Tempo, das er in diesen bedrückenden Zeiten an den Tag legt. Da ist Improvisation dabei - aber noch viel mehr kluge und bedachtsame Überlegungen.

»Habeck bleibt auch in seiner Funktion als Mensch kenntlich. Das sieht man in der Spitzenpolitik nicht allzu häufig«

Er ist momentan einer der beliebteste Politiker in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?
Zunächst vorab: Habeck war auch schon einmal im Frühjahr 2019 in der Rangliste von Umfragen ganz oben. Dann kam die wenig weitsichtige Entscheidung der Grünen für Annalena Baerbock dazwischen und der vermasselte Wahlkampf. Aber zu Ihrer Frage: Habeck bleibt auch in seiner Funktion als Mensch kenntlich. Das sieht man in der Spitzenpolitik nicht allzu häufig. Er lässt Zweifel in der Öffentlichkeit zu, er verhehlt nicht Ärger, er reagiert mitunter mit Unverständnis, wenn ihm Dinge nicht zusagen. Habeck ist ein Politiker zum Anfassen. Er hat seine Bodenhaftung behalten. Leider kommt er in seiner jetzigen Spitzenfunktion wenig dazu, direkt mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Sein Gespür für Stimmungen ist beeindruckend. Habeck verkörpert ein Gegenmodell zum herkömmlichen, unantastbaren, abgeschotteten Politfunktionär. Und er lässt immer wieder Hoffnung zu, er ist das Gegenteil eines Miesmachers. Bereits in seiner politischen Autobiografie von 2016, "Wer wagt, beginnt", schreibt er: "Es gibt Szenarien der Apokalypse -und es gibt die Hoffnung, dass wir sie abwenden können. Das Mittel, um Hoffnung zur Realität zu machen, heißt Politik." Wie wichtig und nötig und gegenwärtig ist diese Erkenntnis erst recht heute, in Kriegszeiten.

Sie beschreiben Habeck als "das Gegenteil eines gewöhnlichen, Floskeln verbreitenden Politikbürokraten". Tatsächlich punktet er auch jetzt mit klaren, teils unangenehmen Ansagen. Etwa, indem er sagte, Deutschland werde durch den Krieg ärmer werden. Kann das in der Spitzenpolitik auch auf lange Sicht funktionieren?
Die Sehnsucht nach einer vertrauenswürdigen Politik ist immens. Immer mehr Menschen wenden sich ab, verweigern sich, gehen nicht mehr zur Wahl. Politiker klagen über Politikverdrossenheit. Aber aus ihrer Floskelsprache finden sie nicht heraus, viele spielen ihre Macht ohne Erklärungen aus, regieren über die Köpfe der "Menschen draußen im Lande", wie es so häufig entlarvend heißt. Habeck erklärt. Er möchte die Menschen mitnehmen in seinen Entscheidungen. Er ruft zum Mitmachen und Teilhaben auf. Er antwortet tatsächlich auf Fragen, die ihm gestellt werden, und flüchtet nicht in Worthülsen. Sollte Habeck erfolgreich bleiben, könnte das zu Nachahmereffekten führen, womöglich zu einem Wandel in der Politikdarstellung beitragen.

»'Die Leichtigkeit ist weg', sagte er kürzlich. Kein Wunder in diesen Zeiten«

Profitiert er auch vom Kontrast zum kontrollierten, verschlossenen Scholz?
Auch das. Scholz wirkt ja beinahe autistisch, er wirkt verschlossen und unnahbar, undurchsichtig, von Arroganz der Macht ist mittlerweile schon die Rede. Wie soll da Vertrauen entstehen? Habeck hingegen wirkt zugänglich, zugewandt, temperamentvoller. Er geht auf die Menschen zu, er nimmt die Scheu voreinander. Nur seine Heiterkeit kommt derzeit zu kurz. "Die Leichtigkeit ist weg", sagte er kürzlich. Kein Wunder in diesen Zeiten.

Ist Habeck ein Politikertypus, der besonders gut in die heutige Zeit passt?
Warum nicht in jede Zeit? Warum muss Politik verdruckst und undurchsichtig sein? Warum muss Politik unnahbar sein und unverständlich? Warum dürfen Wähler den Aussagen von Politikern nicht trauen? Ein Naturgesetz? Doch wohl eher nicht.

Sogar Unternehmer schwärmen von Habecks Pragmatismus. Jüngst reiste er mit dem "Who's who" der deutschen Wirtschaft, wie die Zeit schrieb, in die Golfstaaten, um Gas, Öl und Kohle einzukaufen. Werden ihm Bilder aus Doha noch schaden?
Welche Bilder meinen Sie? Die Videos, die er über Instagram verschicken ließ? Selbst die sind ja zumeist gut angekommen, und die deutsche Journalistik arbeitet sich nun derzeit umfangreich an seinem "anderen" Kommunikationsstil ab. Als ob der anders geworden sei. So ähnlich hat er schon in Schleswig-Holstein agiert und sich und seine Politik dargestellt.

Wie groß kann der Spagat zwischen Pragmatismus und Idealismus sein?
Ich denke, bei Habeck bedingen sich beide. Wie ich sagte: Er ist gezielt lösungsorientiert, über Parteigrenzen hinweg; und er will tatsächlich etwas bewirken, über eigene Privilegien hinaus. Was ihm dabei hilft, ist sein "sonniges" Gemüt. Wie sein politischer Weggefährte und Parteifreund Konstantin von Notz mir sagte: "Robert ist sehr bullish, würde man an der Börse sagen", also einer, der mit steigenden Kursen rechnet. Auf einer Demonstration war Habeck mal mit einem T-Shirt zu sehen, das ein plattdeutsches Motto als Aufdruck trug: "Kann. Mutt. Löppt."

Habeck scherzte früher gerne auf offener Bühne: "Was ist der Unterschied zwischen einem Schlips und einem Kuhschwanz? Der Kuhschwanz verdeckt das ganze Arschloch." Ist Habeck mit Anzug und Krawatte noch authentisch?
Das ist keine Frage von Authentizität. Es ist eher ein Zugeständnis an das Schubladendenken der meisten. Einer in Cowboystiefeln mit Wuschelhaar und Dreitagebart sei nicht ernst zu nehmen, glaubt die Mehrheit, zumal im gleichförmigen Berliner Politikbetrieb. Okay, dann nehme ich euch eure Scheuklappen, wird er denken. Dazu fällt mir eine Aussage seines Schulfreundes Kristian Dittmann ein. Habeck verabscheue jedes Getue, sagte er mir. Damit sei Habeck so etwas wie das Gegenbild zum derzeitigen Finanzminister Christian Lindner. Der lebe "ja ständig in der Angst, seine Pose könnte auffliegen", so Dittmann.

Sie beschreiben Habeck einerseits als Schriftsteller und zweifelnden Philosophen, andererseits auch als Machtpolitiker. Wie lässt sich das vereinbaren?
Tja, das ist in der Tat die große Frage. Schafft er es am Ende, "nicht zu verhärten", wie er mir sagte? Schafft er es tatsächlich trotz aller Ansprüche und atemloser Terminhatz, bei sich zu bleiben? Wie sehr helfen ihm seine philosophischen Grundlagen im harten Politikalltag voller Anfeindungen und Intrigen? In seiner politischen Autobiografie schreibt er 2016, Philosophie sei "das Schwarzbrot meiner Politik". Das meint, es ermöglicht ihm einen Blick von außen, um die Dinge auch aus anderer, aus übergeordneter Sicht zu betrachten als gewöhnlich. Damit provoziert er dann, wenn er ausschert aus dem üblichen Politiktalk, und das nehmen ihm manche im Politikbetrieb dann übel.

Wie sehr hat Habeck unter der Niederlage gegen Baerbock im Rennen um die Spitzenkandidatur der Grünen gelitten?
Sehr. Und er hat wohl bis zuletzt ihre Chuzpe unterschätzt. "Ich bin nicht Söder", sagte er mir mal. Ein solcher Machtbolzen hätte eine jüngere, weniger bekannte, weniger begabte und unerfahrene Frau an seiner Seite nicht so weit hochkommen lassen. Das mag ein Stück weit Gutgläubigkeit bei Habeck gewesen sein, zu einem weit größeren Teil zeigen sich darin aber seine Menschenfreundlichkeit und sein Teamgeist. Was in einer beinharten Konkurrenzgesellschaft freilich nicht gedankt wird, auch nicht von Frauen.

»Will die Partei über ihre Stammklientel hinauswachsen, müsste sie auf Habeck setzen«

Wäre die Bundestagswahl im Herbst mit einem Spitzenkandidaten Habeck anders ausgegangen?
Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Habeck hatte den Blick geweitet, um Wählerpotenzial auch jenseits der Grünen Parteigrenzen zu erreichen. Das hatte er bereits in Schleswig-Holstein vorgemacht. Dort war er über Jahre erfolgreicher mit der Grünen Landespartei als die Bundespartei. Während Annalena Baerbock ein Produkt dieser eng begrenzten Kumpanei innerhalb der Grünen ist. Sie ist beliebt in der eigenen Partei, aber polarisiert nach außen; er ist beliebt im Land und polarisiert nach innen. Warum polarisiert er nach innen? Weil er herausragt aus dem Mittelmaß. Das ist die Krux, in der die Grüne Partei steckt. Will die Partei über ihre Stammklientel hinauswachsen, müsste sie auf Habeck setzen. Es gab ja Vorhersagen, die dies bestätigten: Baerbock wurde in "grünen Kreisen" ein stabiles Wahlergebnis von 18 Prozent vorhergesagt, Habeck ein mögliches zwischen 15 und 25. Nach dem verkorksten Wahlkampf von Annalena Baerbock kamen die Grünen am Ende auf bescheidene 14,8 Prozent. Gemessen an den Ansprüchen der Partei war das eine gefühlte Niederlage. Auch Habeck wäre sicherlich von der Konkurrenz hart angegangen worden, auch bei ihm wäre nach Schwächen emsig gefahndet worden. Aber sein Lebenslauf ist stimmig, seine Bücher hat er alle selber geschrieben. Er stellt nicht mehr dar, als er ist. Im Gegenteil: Seine Lebensprinzipien sind Understatement und Höflichkeit.

Sie zitieren in Ihrem Buch Habecks Frau, die Schriftstellerin Andrea Paluch: Robert Habeck sei einer, der "total gerne kämpft, da blüht er auf. Und er leidet nicht unter Stress oder wenn Leute unfreundlich sind." Ist er angekommen in seiner derzeitigen, nicht gerade gemütlichen Rolle?
Ja, er scheint eins mit sich zu sein, selbst in diesen enorm herausfordernden und nicht zu erwartenden (Kriegs-)Zeiten. Bleibt zu hoffen, dass er gesund und konditionsstark bleibt für seinen Marathonlauf.

Wird er noch Kanzler?
Wenn seine Partei nicht wieder und weiterhin engstirnig auf dem Frauenbonus als absolutem Leistungsnachweis beharrt, dann könnte er es werden, ja. Aber bis dahin kann ja noch eine Menge geschehen. Allein die letzten zwei Monate seit dem 24. Februar wirken ja wie Jahre und zeigen wie unkalkulierbar und schnelllebig Politik ist. Insofern sind alle Vorhersagen Spökenkiekerei.

Was treibt Robert Habeck an?
Tja, wenn man diesem Geheimnis auf die Spur käme. Über seine Lösungsorientierung, seinen Verhandlungswillen, seinen Wunsch zum gesellschaftlichen Wandel haben wir bereits gesprochen. Trotzdem ist es ein Rätsel, warum jemand weitgehend sein Privatleben aufgibt, um sich in den "Dienst an der Gesellschaft" zu stellen. Er kommt ja aus einem selbstbestimmten, partnerschaftlichen, gelungenen Leben als freier Schriftsteller und Familienvater. Dann war sein vierter Sohn noch nicht geboren, als er seine ersten, weitgehend ehrenamtlichen Schritte in die Politik wagte. Dann erkannte er wohl rasch, welche Wirkung er im politischen Alltag erzielen kann, und so ging es Schritt für Schritt im Sauseschritt voran. Kommt Eitelkeit hinzu, auch die Freude daran, Beifall zu bekommen. Doch über die Gefahren ist er sich auch bewusst. In seiner politischen Autobiografie von 2016, "Wer wagt, beginnt", schreibt er darüber, wie ein Redner in einem vollen Saal auf Wolke Sieben schwebt, wenn er die Begeisterung der Zuhörer spürt. "Niemand wird abstreiten können, dass solche Momente einen berauschen können", setzt er hinzu.

Im Nachwort beschreiben Sie Ihre Motivation, sich mit Habeck zu beschäftigen. "Wie ist es möglich, dass einer aus diesem Betrieb so nachdenklich wirkt, so ohne Worthülsen aus kommt, so zugewandt und ernsthaft ist?" Zu welcher Erkenntnis sind Sie gekommen?
Dass er mit seiner Art so weit gekommen ist, liegt zum einen an seiner geistigen Kraft, seiner Schnelligkeit, seiner Schlagfertigkeit, zum anderen an seiner Ausstrahlung. Man findet nicht viele Politiker, die Charisma ausstrahlen und Menschen für sich einnehmen, die eigentlich voreingenommen sind. Menschen sehnen sich nach strahlenden Figuren. Politik ist auch Projektion, sagt Habeck. Wäre doch schön, wenn diese Politik dann gut gemeint und redlich angelegt ist.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 17/2022.