Wandelbare Metropole

Chinas Entwicklung verlief in den letzten Jahrzehnten rasant. Nirgendwo lässt sich das besser beobachten als in Shanghai, seiner großen Boom-Town. Sie ist auch eine Stadt der Kontraste

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Reise - Wandelbare Metropole

Die ersten Meter bewegt man sich noch etwas unsicher. Aber ernsthaft gefährdet ist man als Fußgänger in Shanghai nicht. Die ganze Stadt ist Begegnungszone. Eine chinesische Interpretation davon: Das Gewusel auf den Straßen der 23-Millionen-Metropole ist wie ein faszinierendes, frei improvisiertes Ballettstück anzusehen. Vordergründig hält sich niemand an die Regeln, und trotzdem fließt alles erstaunlich gut.

Ob Auto, Moped oder Fahrrad: Die Verkehrsteilnehmer nützen jede Lücke, die sich ihnen im dichten Stadtverkehr bietet. Waghalsig überqueren Radfahrer riesige Kreuzungen diagonal. Andererseits ist keine Fläche klein genug, dass sich nicht noch ein Moped reinzwicken könnte. Rechts abbiegen bei Rot ist vergleichsweise unspektakulär, das macht jeder. Warum es nicht öfter kracht? Weil man in Shanghai von Haus aus mit geringem Tempo fährt.

Jeder Zentimeter der brodelnden Stadt wird genutzt. In den Parks treffen sich ältere Semester zu Gymnastik oder Tanz. Hat ein Arbeiter Pause, stellt er sein Moped auf den Gehsteig und hält darauf Mittagsschlaf. Abends wird er in eine der vielen Gebäudekomplexe am Stadtrand zurückkehren, in denen sich Hochhaus an Hochhaus reiht und auf engstem Raum Zehntausende leben. Aus dem ganzen Land strömen sie in die Boom-Town, die sich in den letzten 25 Jahren komplett gewandelt hat und zum Symbol der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Chinas wurde.

© Sebastian Fasthuber Hier ist die Zeit stehen­geblieben: Der „Garten des Verweilens“ in der Wasser­stadt Suzhou nahe Shanghai

Malls und Mah-Jongg

Für viele von uns mag es eine Horrorvorstellung sein, in einer derartigen Riesenstadt zu wohnen. Hektik, Lärm, Luftverschmutzung – nun, das alles gibt es hier, aber es ist weit weniger schlimm als erwartet. Auch die gängigen Vorurteile über Chinesen werden während einer Woche Shanghai Lügen gestraft: In der Öffentlichkeit rülpst und spuckt kaum noch jemand. Dafür hat eine Imagekampagne im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking gesorgt. Nur bei einigen älteren Menschen hat sie nicht mehr gefruchtet. Sie glauben, dass Ausspucken sie reinigt.

Wer sehen will, wo China heute steht und wohin es sich entwickelt, der besuche Shanghai. Und staune über die vielen Jungen auf den Straßen, die schon komplett verwestlicht sind. Sie tragen amerikanische oder europäische Markenkleidung, gehen vor der Arbeit zu Starbucks und verbringen jede freie Minute in den unzähligen Shoppingmalls. Ganz Unrecht haben sie ja nicht, man kann in Shanghai tatsächlich gut einkaufen und vor allem wunderbar essen.

In den kleinen Quergassen, in denen sich oft besonders gute Lokale verstecken, wirkt es dann wieder, als wäre die Zeit stehengeblieben. Alte Männer sitzen beisammen, rauchen und spielen Mah-Jongg. Auch die berühmten chinesischen Gärten verströmen eine ganz eigene Ruhe. Diese Stadt hat für jeden etwas.

Rasantes Wachstum

Das Bild, das wir heute mit Shanghai vor allem verbinden, ist die schimmernde Skyline von Pudong. Ein retrofuturistisch anmutendes Ensemble von Wolkenkratzern, deren Lichter sich im Fluss Huangpu Jiang spiegeln. Nicht nur ausländische Touristen zücken hier allabendlich ihre Handy-Kameras, auch aus sämtlichen Provinzen strömen die Menschen herbei. Vorher schieben sie sich durch die Nanjing Road, so etwas wie die Mariahilfer Straße von Shanghai, die in der von europäischen Kolonialbauten gesäumten Uferpromenade The Bund endet. Von hier aus hat man den besten Blick.

Verblüffend ist: Wo jetzt das Hochhausviertel in den Himmel ragt, war vor nicht einmal 30 Jahren nichts. Beziehungsweise nur alte Fabriken, Baracken und schäbige Siedlungen. Lange wurde Shanghai von Peking klein gehalten. Deng Xiaoping, der China in den Kapitalismus führte, erkannte um 1990, dass die Stadt, die 60 Jahre zuvor schon einmal eine strahlende Metropole gewesen war, ungeheures Potenzial und das Zeug zum Experimentierfeld hat. Dann ging alles sehr schnell. In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre wurde in die Infrastruktur so viel investiert wie in den 40 Jahren davor. Bald wuchsen aus dem Schlamm von Pudong die ersten Wolkenkratzer. Rund 300.000 Menschen mussten dafür umgesiedelt werden.

Auch jetzt, wo die Stadt über ein sie prägendes Gesicht verfügt, wandelt sie sich immer weiter. Die schwungvolle Entwicklung zeigt sich an den Hochhäusern wie auch im Kleinen. Viele Geschäfte oder Restaurants existieren nur ein paar Monate. Probleme mit Leerstand gibt es keine. Blitzschnell wird ein leerstehender Laden wieder umgebaut, und ein neuer Betreiber versucht sein Glück.

Hotspot für Foodies

Vieles an China ist widersprüchlich. So westlich es in Shanghai wirkt, so wird die Bevölkerung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping vielleicht gründlicher kontrolliert als je zuvor. Das Zauberwort lautet „WeChat“. Ursprünglich war das nur ein Chat-Dienst, heute versteckt sich dahinter die chinesische Killer-App, die alles, was das Leben und Kommunizieren leichter macht, in sich versammelt: Social Media, Essen bestellen, ein Taxi oder einen Handwerker rufen – dies und viel mehr lässt sich darüber bequem erledigen. Gleich­zeitig gibt man sämtliche Daten preis, sie fließen nach Peking.

Bei aller Kontrolle, die die chinesische Politik über das Volk ausübt, achtet sie jedoch auch darauf, dass möglichst viele am steigenden Wohlstand zumindest ein wenig teilhaben. Die Arbeitslosenzahlen sind gering. Arbeitskräfte sind in China in den meisten Bereichen derzeit auch noch sehr günstig zu bekommen. Und nicht jeder, der einen Job hat, hat notwendigerweise auch was zu tun. In manchen Lokalen wirkt es, als bekäme fast jeder Gast einen eigenen Kellner zur Seite gestellt.

Einmal fragen wir den amerikanischen Betreiber einer Bar im ehemaligen französischen Viertel, wo heute Expats aus aller Welt leben, wie seine Angestellten nach Dienstschluss heimkommen. Dass sie sich eine Wohnung in der hippen Gegend leisten können, erscheint kaum vorstellbar. Und die U-Bahn stellt in Shanghai überraschenderweise schon vor Mitternacht den Dienst ein. Die Antwort des Mannes überrascht ebenfalls: Die Mitarbeiter bleiben. Er sei gesetzlich verpflichtet, ihnen eine Wohn- bzw. Schlafmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, die Auflagen für Unternehmen seien generell nicht ohne.

Die Besserverdiener feiern derweil in teuren Clubs und Bars Seite an Seite mit Expats ihren neuen Wohlstand. Sie zeigen gerne, was sie sich leisten können. Abgesehen von solch sinnloser Prasserei ist Shanghai ein echter Hotspot für Foodies. Apps wie Tripadvisor kann man sich sparen, denn das Essen ist praktisch überall fantastisch. Auch und gerade in den einfachsten Lokalen. Über eine eigene Küche verfügt Shanghai abgesehen von Teigtaschen und Knödeln in allen Variationen zwar nicht. Doch treffen hier seit jeher Einflüsse aus ganz China und aller Welt zusammen, was die Sache umso interessanter macht.

Beim Trinken muss der europäische Besucher allerdings noch Abstriche machen. Wein ist entweder gar nicht oder nur zu Import-Preisen zu bekommen, die schon vor dem Genuss Kopfschmerzen verursachen. Das chinesische Bier wiederum ist ein sehr leichtes, fades Gebräu, das ebenfalls wenig Freude macht. Doch auch hier tut sich was, die Craft-Beer-Welle hat inzwischen Shanghai erfasst.

Auffällig ist, dass Chinesen wahnsinnige Mengen verdrücken können und trotzdem unglaublich schlank sind. Zumindest solang sie sich an die heimische Kost halten, an die sie seit Jahrhunderten gewöhnt sind. Vereinzelt ist im Stadtbild nämlich schon Hüftspeck zu sehen. Er betrifft ausnahmslos Junge, die regelmäßig zu amerikanischem Fastfood greifen. Die Verwestlichung hat eben auch ihre Schattenseiten.

© Sebastian Fasthuber Der Jing’an-Tempel ist eine Ruheoase mitten in einem der am dichtesten bebauten Stadtteile von Shanghai

Wasserdorf Suzhou

Nach ein paar Tagen kann es sein, dass man vom städtischen Treiben genug hat. Dann bietet sich ein Besuch im Jewish ­Refugees Museum an. Shanghai war in der Nazizeit eine Anlaufstelle für Juden, da ihnen die Einreise auch ohne Visum erlaubt war. Eine 2014 enthüllte Erinnerungsmauer am Gelände des Museums listet die Namen von 13.732 Juden auf, die während des Zweiten Weltkriegs hier Zuflucht fanden.

Oder man fährt raus nach Suzhou, das sogenannte „Venedig des Ostens“. Wobei das am Wochenende sehr viele machen. Überhaupt hat der Ausflug mit einer Landpartie herzlich wenig zu tun. Die schmucke Wasserstadt mit ihren Kanälen ist ebenfalls riesig, samt Einzugsgebiet hat sie zehn Millionen Einwohner. Am besten erreicht man sie mit dem Hochgeschwindigkeitszug. Eine Platzreservierung im Vorfeld ist unerlässlich, und am Bahnhof wird so gründlich kontrolliert wie bei uns am Flughafen. Den Chinesen macht es nichts aus, sie sind es gewohnt, sich anzustellen.

Als das Taxi zurück zum Flughafen geht, ist es noch früh am Morgen, die ­Straßen sind frei. Damit das so bleibt, ­beschränkt die Verkehrsbehörde die Pkw-Neuzulassungen seit Jahren strikt. Und die wenigen, die sie erteilt, lässt sie sich teuer bezahlen. Nummerntafeln müssen ersteigert werden, unter umgerechnet 10.000 Euro geht nichts. Nicht blöd: So wird der Autoverkehr eingedämmt, und das eingenommene Geld fließt wieder in die Infrastruktur.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 25 2018