Die Raupe und das Feuilleton

Vermutlich ist Ihnen Thaumetopoeina kein Begriff. Dabei gibt, wie der Umgang mit Handke beweist, die Prozessionsspinnerraupe einem ganzen Berufsstand die Richtung an

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wie Sie zweifellos nicht wissen konnten, wollte ich vor Jahrzehnten, etwa im Greta-Alter, Zoologe werden (eine vergebene Chance auch für die Literatur-,Theater-und Musikwelt). Umso bereitwilliger mache ich Sie daher mit einem Vieh bekannt, das mich wegen seiner symbolisch-metaphorischen Prägnanz seit Langem begeistert. Ich meine Thaumetopoeina, die Prozessionsspinnerraupe, die ihren Namen der spektakulären Art ihrer Futterbeschaffung verdankt: Sich an das Gesäß der jeweiligen Vorderraupe saugend, zieht sie als meterlanger Wurm zur Futterstelle, bis die nächste winkt, worauf die Prozession erst schwerfällig, dann aber zügig in die Gegenrichtung wankt. Die Thaumetopoeina möchte auf diese Art für eine Schlange gehalten werden, um Fressfeinde zu verschrecken. Sie bleibt aber eine Raupe mit zart degoutanten Gepflogenheiten. Mit dem Vieh habe ich Sie bekannt gemacht, weil sein Vorgehen dem vieler Kollegen aus dem Feuilleton entspricht - vor allem aus dem sich selbst so definierenden Großfeuilleton samt epigonaler Entourage.

Als die Schwedische Akademie ihre Entscheidung für Peter Handke bekannt gab, war die Freude zunächst groß. Wie auch nicht? Einer der bedeutendsten lebenden Autoren bekommt, wie seit Jahren gefordert, den bedeutendsten Literaturpreis. Das Feuilleton schien aus seinem Versagen vor 20 Jahren etwas gelernt zu haben: Damals sprach man Handke, literarische und politische Kategorien dilettantisch vermischend, die Qualifikation als Schriftsteller ab. Warum? Weil er sich im Jugoslawien-Krieg gegen die Kollektivschuldzuweisung an Serbien gewendet hatte, wurde er als Befürworter des Genozids verleumdet. Die Nato hatte die Richtung vorgegeben, und die Prozession folgte. Immer die von Handke gehassteste Vokabel, nämlich "zweifellos", gebrauchend, wo doch einem Kritiker nichts dringender ansteht als Zweifel. Ein paar Jahre später widerfuhr Elfriede Jelinek das nämliche Schicksal, als ihr der Nobelpreis zuerkannt wurde. Man beflegelte sie mit Instrumentarien, derer sich jeder halbwegs zivilisierte Biertischdiskutant enthielte, als Provinzlösung und Quotenbegünstigte. Bis die Prozession, keiner weiß, wann, die Gegenrichtung einschlug: Heute wird Elfriede Jelinek kanonisiert und ist die einflussreichste Theaterpersönlichkeit des Sprachraums. Den Schwenk versäumten die Herrschaften leider im Fall Handkes. Als der erste selbstergriffen moralisierende Feuilletondenunziant wieder sein "zweifellos" anstimmte, war es um den publizierten Menschenverstand geschehen. Dabei sind Konsensund Wir-Gefühle für einen Kritiker der schiere Widersinn: Unsereins kann nur all seine Erfahrung, all seine Intuition zusammennehmen und dann beten, dass ihn beide nicht in die Irre geführt haben.

Deshalb schenke ich jedem, nur nicht dem Feuilleton, seine Zurüstungen für eineinhalb Leseminuten Unsterblichkeit: den südosteuropäischen Provinzwoiwoden, dem albanischen Außenminister, den Frontpublizisten von vor 20 Jahren, die noch rasch ihr Senfgas dazugeben, ehe sich die Karawane vollgefressen zur Ruhe legt. Selbst die neidigen Schriftsteller haben mein Verständnis, auch Saša Stanišić, der wohl auch aus außerliterarischen Gründen prämiierte Träger des Deutschen Buchpreises. Ihm halte ich sogar sorgenvoll die Daumen, denn wie ich zu meiner Überraschung lese, ist er schon 41 Jahre alt, aber über die Schilderung seiner Biographie bisher nicht hinausgelangt. Das ist gefährlich, wie mehrere tragische Schicksale (Franz Innerhofer, Brigitte Schwaiger) belegen: Literatur beginnt erst beim Schöpfungsakt. Beim Erschaffen einer eigenen, autonomen Welt, in der die Thaumetopoeina nicht mehr als eine Raupe zählt.