Wie ist es, unter psychischer Gewalt zu leiden?

Schon einmal darüber nachgedacht, dass Ihnen psychische Gewalt angetan wird, wenn jemand Sie beschimpft, verbal attackiert oder einschüchtert? Vielleicht nicht einmal von Angesicht zu Angesicht, sondern "nur" über E-Mails oder in den sozialen Medien?

von Liebes Leben - Wie ist es, unter psychischer Gewalt zu leiden? © Bild: Nathan Murrell

Regine erzählt mir in meiner Praxis, dass ihr Freund sie immer wieder in Textnachrichten Schlampe nennt. Das schreibt er halt in der Wut, sagt die Vierzigjährige, die als Volksschullehrerin großen Wert auf kultivierte Umgangsformen legt. In Psychotherapie ist sie wegen Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Antriebslosigkeit. "Ich funktioniere nur noch", sagt sie. Das Beschimpft-und Erniedrigtwerden ist nun schon fast zur Routine geworden. Albert ist Manager und steht unter Strom; da sei nur verständlich, wenn er ab und zu verbal entgleise. "Er ist nicht gewalttätig, er würde mich nie im Leben schlagen", rechtfertigt Regine seine ständigen Angriffe auf ihr Selbstwertgefühl. Albert sei eben ein Verantwortungsträger und bemerke nicht, dass seine Worte sie erniedrigen würden. Als ich ihr erkläre, dass Albert Gewalt auf sie ausübt, und zwar psychische Gewalt, stutzt die Frau.

Harald Christandl, Rechtsanwalt in Graz und Wien, weiß, dass solche Fälle sich häufen: "Psychische Gewalt tritt in unterschiedlichen Formen auf. Der Gesetzgeber und die Judikatur haben zivilrechtliche, aber auch strafrechtliche Möglichkeiten geschaffen, um sich dagegen zur Wehr zu setzen." Die fortschreitende Digitalisierung habe die Telekommunikationstechniken und Computersysteme massiv gewandelt, betont der Rechtsexperte. Daraus entstehen unterschiedliche Formen von Cyberkriminalität. Unter diesem Begriff versteht man die Gesamtheit illegaler Handlungen mit Computern und Telekommunikationssystemen, wie Smartphone, PC, Notebook oder Tablet. Somit gibt es nahezu uneingeschränkte Möglichkeiten, auch ohne physische Präsenz auf Menschen psychische Gewalt auszuüben.

So auch bei Gert: Ihn verfolgt eine frühere Mitarbeiterin nicht leibhaftig auf Schritt und Tritt, sondern sie macht das "nur" virtuell. Cyberstalking ist die widerrechtliche beharrliche Verfolgung von Personen in einer unzumutbaren Art und Weise, die zu massiven Beeinträchtigungen der Lebensqualität führt. Und wird indessen mit einer Freiheitsstrafe geahndet. Gerts Ex-Kollegin verbreitet falsche Anschuldigungen, gegen die er sich nicht wehren kann, da selbst nach der Sperrung ihrer Fake-Profile einige Kunden seines Dienstleistungsunternehmens das Vertrauen verloren haben. Jurist Harald Christandl rät zu Gegenwehr: "Die widerrechtliche beharrliche Verfolgung von Personen, welche zur unzumutbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität führt, kann zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen. Das Opfer kann sich auch zivilrechtlich -auf Unterlassung und Schadenersatz -oder durch Erwirkung einstweiliger Verfügungen zur Wehr setzen." In ihrer Psychotherapie lernen sowohl Regine als auch Gert, ihre eigene Wahrnehmung wieder ernst zu nehmen, anstatt die psychischen Gewaltakte zu bagatellisieren.

Harald Christandl empfiehlt, zu handeln: "Sollte jemand gestalkt oder gemobbt werden, ist es wichtig, den gesamten Sachverhalt zu evaluieren: Screenshots von Anrufen, SMS, WhatsApp-Nachrichten, Protokollierung der widerrechtlichen Angriffe sind wichtig. Nur dann, wenn ein inkriminierender Sachverhalt unter Beweis gestellt werden kann, ist eine erfolgreiche Sanktionierung des Täters möglich." In jedem Fall sollten auch Täterinnen und Täter in einer Psychotherapie ihr Verhalten reflektieren. Oft stecken Minderwertigkeitskomplexe und Versagensängste, gepaart mit Machtansprüchen und antisozialen Persönlichkeitszügen, hinter der emotionslosen Fassade in Wahrheit zutiefst gekränkter Menschen, die im Schutz der Anonymität des Internets zu Cyberkriminellen werden.