Otto Schenk:
Nationaldenkmal im Spätbetrieb

Die große Lebensbilanz eines österreichischen Nationalheiligtums

Im Hauptabendprogramm des Nationalfeiertags ehrt der ORF den Universalkomödianten Otto Schenk mit einem Porträt. Die Lebensbilanz eines Mannes, der als Schauspieler und Regisseur Kulturgeschichte schrieb

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Porträt - Otto Schenk:
Nationaldenkmal im Spätbetrieb

Die Festschreibung zum Nationaldenkmal -samt Anwartschaft auf das Weltkulturerbe - war seit Längerem nur noch Formsache. Jetzt ist sie vollzogen: Im Hauptabendprogramm des Nationalfeiertags ehrt der ORF die Universaldevotionalie Otto Schenk mit einer Personalie. In kulturaffineren Zeiten war dieser Sendeplatz "Universum"-Sendungen zum Stephansdom vorbehalten. Doch der Vergleich beeindruckt den vom Alter gebückten Herrn mit den wachen, humorvollen Augen nur sekundenlang. "Der Stephansdom gehört ja mir", sagt er und kann die Eigentumsverhältnisse urkundlich belegen. "Als ich ein Kind war, hat mir mein Vater versprochen, ihn mir zu schenken. Und an den Worten meines Vaters hätte ich nie gezweifelt."

Als Otto Schenk ein Kind war, töteten ihm die Nazis den Onkel und die fast neunzigjährige Großmutter. Der Vater überlebte, weil die "arische" Mutter die Scheidung verweigerte, das Kind wuchs geschützt, aber im gesellschaftlichen Niemandsland auf. Heute, mit 87 Jahren, haben sich die Begriffe relativiert, und Nationaldenkmäler aller Ausmaße sind während dieser Zeit zu Dutzenden gefallen. "Ich fühl mich gar nicht so", sagt er. "Weil ja alles ein bisschen zu Ende geht." Was denn?"Das Leben halt. Die Freunde verlassen einen, einer nach dem anderen, und mahnen einen, dass man auch bald dran ist. Der Augenblick wird im Alter immer wichtiger: ein Blick, ein Geruch, wobei auch das relativ wird", vollzieht er unnachahmlich den Schwung ins Melancholisch-Ironische, "weil man ja im Alter nichts mehr riecht. Was andererseits auch wieder Vorteile hat."

Lebendes Museum

Die innerstädtische Wohnung, voll mit Büchern (unter ihnen sieben eigene), Kunstund Ziergegenständen, wurde von Ehefrau Renée in ein Museum der Erinnerung verwandelt. Aber Vergangenheit und Gegenwart fließen hier ineinander. An den Wänden erinnern Fotos und Plakate an einen der gefragtesten Opernregisseure des 20. Jahrhunderts; an den Fernsehstar mit Straßenfegerqualität, der das ORF-Programm bis in die Neunzigerjahre als Protagonist herzensintensiver Komödien veredelte; an eine Theatergröße, prägnant als Regisseur und als Schauspieler, als Tragöde und elementarer Komiker.

Aber von wegen Vergangenheit: In den Wiener Kammerspielen hat man kürzlich den melancholischen Schwank "Schon wieder Sonntag" wegen anhaltender Nachfrage wiederaufgenommen, 30 ständig ausverkaufte Vorstellungen bis Juni. Premiere war im März 2015, und Regie führte der große Helmuth Lohner, der drei Monate später dem Krebs erlag. Das Stück erzählt von zwei alten Männern, die der zweifelhaften Segnungen einer Seniorenresidenz teilhaftig werden.

Bühnenpartner Harald Serafin erzählt von der allabendlichen Verwandlung: Schenk klage oft und gern über die Schmerzen des Alters. "Dann geht er auf die Bühne und ist vollgepumpt mit Adrenalin und packt die Leute, dass sie jubeln und Tränen in den Augen haben. Wir denken dabei dauernd an den Helmuth, und wenn der Vorhang gefallen ist, löst sich alles in friedliche Melancholie auf."

Müde ein Leben lang

Mehrmals im Monat tritt Schenk außerdem zu Lesungen in ganz Österreich an. Kann er sich ein Leben ohne Arbeit vorstellen? Ist er nicht müde? Schon, und das seit Jugendtagen, sagt der Mann, der früh eine kunstvolle Aura des Alters um sich mobilisieren konnte. "Ich arbeite an meiner Lustlosigkeit, seit ich denken kann. Aber nicht arbeiten kann ich auch nicht. Der Tag ist so lang, besonders die Nachmittage." Also weiter im Programm. Mit dem "Josefstadt"-Direktor Herbert Föttinger spricht er über das nächste Projekt, nachdem er schon zum Rückzug entschlossen war. Nur mit dem Regieführen ist es unwiderruflich vorbei, nachdem er sich noch 2010 für Donizettis "Don Pasquale" mit Anna Netrebko an die Metropolitan Opera in New York und 2014 von Direktor Dominique Meyer für Janaceks "Das schlaue Füchslein" an die Staatsoper überreden ließ.

"Schmerzlos verlass ich das sinkende Schiff", sagt er und holt scharf gegen die Kulturpolitik aus, die Meyers Vertrag nicht verlängern wollte. "Ein funktionierendes Haus, an dem alle großen Sänger auftreten, das ist doch nicht nichts! Den Nachfolger Bogdan Roščić kenne ich nicht, ich wünsche ihm alles Gute. Aber wie hoch fähige Leute verdrängt werden", verweist er auch auf die ehemalige Belvedere-Direktorin Agnes Husslein, "das nenne ich: mit Ressourcen urassen."

Diagnosen

So blickt er also zusehends von außen auf die Entwicklungen der Welt, des Landes und des Theaters. Alle drei bereiten ihm Sorgen. Die "schutzlosen Dichter" vor allem, denen man die Texte in der Luft zerreiße, oder die Schauspieler, denen alles aufgenötigt werde, was er schon als Kind verabscheute. "Das Theater wird sterben, wenn wir die Leute vertreiben, weil wir ihnen vorschreiben, was sie denken sollen und nicht fühlen dürfen. Wenn die Schreierei die Zwischentöne vertreibt, wenn man das Gefühl hat, dass Ausrufer, Hysteriker und Erotomanen die Macht übernommen haben, wenn man auf Bestellung der Kritiker das Geheimnis leugnet - dann ist es aus."

Nun ist aber das Theater nur ein Kleinmodell der Welt. Schlechtes Theater, sagt Otto Schenk, habe die Debatten zur Wahl vergiftet, das sei das ganze Dilemma: andere für noch blöder und böser zu halten, als man selber ist.

Für sich selbst fürchtet er seitens der Welt nichts mehr. Aber da sind zwei kleine Urenkelinnen, und die Sorge wegen des ihnen zugedachten Vermächtnisses ist groß. "Dass sie nicht begeisterungsfähig werden für das komplizierte Schöne. Am Computer löst man leichter Kreuzworträtsel, aber man versteht nicht, was uns an Wagner und Goethe fasziniert. Bei keinem Gespräch im Wahlkampf ist das Wort ,Kultur' vorgekommen, und Musik gibt es schon in der Volksschule nicht mehr." Hier drohe Gefahr, fügt er hinzu, nicht im alarmistisch beklagten Zuzug anderer Kulturen. "Ich hab immer die Perversität gespürt, dass mich Fremdes interessiert. Aber es war immer das Verwandte im Fremden, das ich gesucht habe", fordert er Integrationsbereitschaft von beiden Seiten. Den Freund im anderen suche er, der ihn auf gleicher Höhe rühren und bereichern könne. Ebenso verhalte es sich auch mit den Religionen, "ganz gleich, ob das der Islam ist oder die Heulenden Derwische".

Wer zuerst geht

Mittlerweile ist ihm eine jahrzehntelange Gewissheit abhandengekommen: dass nämlich die Zeit seit seiner bedrohten Kindheit auf jeden Fall besser geworden wäre. "Für Katastrophen bin ich nicht zuständig. Die Zukunft ist so verwundbar, dass man nichts prophezeien kann", schränkt er zwar ein. Aber: "Wie ernst zu nehmen die beiden sind, die einander gerade in den USA und Nordkorea mit Atombomben drohen, weiß ich nicht. Insgesamt wird die Zeit immer gefährlicher. Die Menschheit vermehrt sich, während gleichzeitig eine Armut ausbricht, die irgendwie behoben werden muss, überall, nicht nur in der Dritten Welt. Dazu kommt der ganze Dreck, der auf der Welt herumliegt. Aber dann gibt es Oasen des Glücks, Atolle der Freude. Wenn die genug Kraft haben, ansteckend zu werden ich bin zum Beispiel immer wieder aufs Neue gerührt, dass man einem Siebenundachtzigjährigen zuhört, wenn er sich an einen Tisch setzt und alte Dichter und alte Witze vorträgt."

Der alte Herr ist in seinem Element. Die Augen funkeln, jedes Wort ist präzise gesetzt. Ein "hypertroph funktionierendes, fantasiebereites Gehirn" verortet er auf einem Körper, der die alte Geschicklichkeit eingebüßt hat, aber was soll's? Mit dem ihm von der Physis aufgezwungenen Rollenfach erreiche man heute ohnehin die Majorität des Theaterpublikums, sagt er mit sachter Ironie.

Dann, mit einem Mal, wird er so ernst wie während des ganzen Gesprächs nicht. Der sich anbahnende Neunziger bereite ihm Angst, sagt er plötzlich. "Weil meine Frau und ich uns nicht entschließen können, wer zuerst weg soll. Soll man sich wirklich wünschen, dass einem der Schmerz erspart bleibt, und dem anderen einen höllischen Schmerz bereiten? Man kann sich nur ein gemeinsames Unglück wünschen."

Das aber, sagt er, wieder mit dem Funkeln unergründlicher Ironie in den Augen, sei der pure Luxus.