Wie ist es, mehrere zugleich zu lieben?

Mit dem Begriff Polyamorie ist die Liebe zu mehreren Menschen erst geläufig geworden. Gegeben hat es das schon immer.

von Liebes Leben - Wie ist es, mehrere zugleich zu lieben? © Bild: Nathan Murrell

Ob in Goethes "Wahlverwandtschaften" oder in Schnitzlers Drama "Reigen", die Verzweigungen der Liebe sind durchaus kein Phänomen der Jahrtausendwende. In ihrem Werk "Henry, June und ich" schildert die Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Anaïs Nin Anfang der Dreißigerjahre ihre amouröse Drecksbeziehung zu Henry Miller und seiner Frau June. Damit nicht genug, war Anaïs Nin mit mehreren Männern zeitgleich liiert. Aber ist das denn möglich, mit dem glühenden Feuer der Liebe nicht nur eine Person zu begehren?

Aus dem lateinischen Wort "amor" für Liebe und dem griechischen Wort "poly" für "viel" oder "mehrere" setzt sich das trendige Wort Polyamorie zusammen. Vor allem bei Personen, die Bindungsangst haben oder Verlustangst, ist diese Beziehungsform häufig. Denn wer sich vor dem Verlassenwerden fürchtet, zögert naturgemäß, sich in nur einer Liebesbeziehung vollkommen abhängig zu machen. On-off-Beziehungen sind bei Verlustangst typisch. Ebenso kann ein Vermeidungsverhalten daraus resultieren, das heißt, es wird überhaupt keine Bindung eingegangen. Oder man vermeidet die Abhängigkeit von nur einer Person und hat lieber mehrere Parallelbeziehungen. Die Liebe wird wie ein Kuchen auf viele verteilt, um auf Nummer sicher zu gehen. Zunächst sei angemerkt: Es ist durchaus möglich, Parallelbeziehungen zu haben. Aber binden, so richtig fest binden kann man sich nicht an mehrere Personen gleichermaßen. Manch Kuchenstück ist größer, manches schmäler, und womöglich fallen für den einen oder anderen bisweilen nur noch Krümel ab. In der Polyamorie-Szene werden eine kollektive Anteilnahme und Freude kultiviert. Das ist ein wichtiger Hinweis dafür, dass es sich tatsächlich um eine polyamore Beziehung handelt: dass man den anderen loslässt, ihm den Freiraum für Intimität mit anderen Menschen nicht nur gönnt, sondern sich auch mitfreut. Ein weiteres Merkmal ist, wenn man sich umeinander gleichermaßen sorgt und kümmert.

Polyamorie ist also mehr, viel mehr als Fremdgehen, ein One-Night-Stand oder eine Sexbeziehung. Theoretisch klingt das alles verlockend und ganz wunderbar. Zuerst die gute Nachricht, Polyamorie kann auch langfristig klappen. Jetzt die weniger gute Nachricht: Wenn eine beteiligte Person eifersüchtig wird oder sich vernachlässigt fühlt, was dann? Emotionen sollten nicht abgewehrt, sondern mitgeteilt, nicht verdrängt oder verschleiert werden. Ein polyamores Triumvirat schilderte mir in meiner Praxis Jenny mit Kurt, der ihr lange Zeit jedes Liebesabenteuer von Herzen zu gönnen schien. Ein Dialog wie der folgende entstand zwischen den beiden: Er: "Ich freue mich so, dass du dich in meinen Kollegen verliebt hast. Soll ich ihn zu uns einladen?" Sie: "Machst du das für mich?" Er: "Hab eine schöne Zeit und tollen Sex mit ihm, wenn es dich glücklich macht."

Aber irgendwann wurde der "Wir haben uns alle lieb-Modus" wie ein Expander überdehnt und war gerissen. Und hatte Kurt nicht mehr mitansehen können, wie Jenny ihre Erfüllung bei einer dritten Person fand. Eine exklusive Bindung an einen Menschen zu vermeiden, bedeutet nicht automatisch Selbstschutz. Sondern bedeutet noch etwas anderes: den Verzicht auf die Weiten der Liebe. Denn Liebe ist Vertrauen; wenn wir uns wie die Graugänse an den einen Menschen binden und uns mit dieser Person ohne Wenn und Aber in die unendlichen Weiten der Zweisamkeit fallen lassen. Wichtig dabei: nicht in Zweisamkeit erstarren, sondern durch den dynamischen Dialog mit dem Partner in der individuellen Persönlichkeitsentwicklung wach und flexibel, neugierig und offen bleiben. An der Beziehung arbeiten, als wäre es ein Garten, wo immer neue Pflanzen gesät, gedüngt und bestaunt werden können.