ANALYSE
Sebastian Kurz ist wieder da. Am Wiener Donauufer ist er auf einem riesigen Plakat abgebildet, als stünde er vor einer großen Wahl. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Werbung für die Dokumentation "Kurz - der Film", die in den Kinos anläuft. Überraschend, wie man hinzufügen muss: Dass es zusätzlich zur deklariert kritischen Doku "Projekt Ballhausplatz", die ab 21. September zu sehen sein wird, eine weitere geben würde, hatte niemand erwartet. Vorige Woche ist es bekannt geworden und hat Gerüchte befeuert, Kurz setze alle Hebel in Bewegung, um sich ein mögliches Comeback nicht vermasseln zu lassen. Er selbst wurde zuletzt mit den Worten zitiert, dass es ihn "im Moment" nicht in die Politik zurückziehe.
Entfernt werden Erinnerungen an 2017 wach, als er die Partei übernahm. Sie hatte sich damals in einer derart üblen Lage befunden, dass die entscheidenden Landeshauptleute in ihm die letzte Rettung sahen. Vorgänger Reinhold Mitterlehner war entnervt gegangen. Kurz hatte dazu beigetragen. Heute ist vieles anders, aber nicht alles.
Bundeskanzler Karl Nehammer, der gegenwärtige ÖVP-Chef, macht es sich selbst schwer. Nachdem Kurz 2021 aufgrund diverser Affären zurückgetreten war, gelang es ihm nicht, sie neu auszurichten. Also kehrte er zum Kurz-Kurs zurück: Seine ständige Betonung, dass das Asylsystem der EU kaputt sei, steht ebenso dafür wie seine Forderung, Sozialleistungen für Zuwanderer zu kürzen. Oder seine Darstellung Österreichs als Autoland: So sollen FPÖ-Wähler umworben werden. Allein: Es gelingt ihm nicht. Nehammer ist nicht Kurz.
Abgesehen davon riskiert er, Verwirrung zu stiften, wenn er nicht nur rechts blinkt, sondern sich auch bemüht, eine breite Mitte anzusprechen. Zum Beispiel mit der Ankündigung, Kinderbetreuung massiv auszubauen. Das ergibt keine klare Linie.
Bei einer Nationalratswahl müsste die ÖVP heute befürchten, vom ersten auf den dritten Platz hinter FPÖ und SPÖ abzustürzen. Heftiger: Ein Jahr vor dem regulären Wahltermin ist es zu spät für einen Neubeginn.
Ihre Lage ist derart schlecht, dass der Hinweis auf Sebastian Kurz wieder eine besondere Bedeutung für sie erlangt. Im Vorstand mag noch immer eine Mehrheit gegen ihn sein, allein dass man nicht ausschließen kann, dass er trotz all der Affären und des Prozesses wegen mutmaßlicher Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuss noch immer mehr Stimmen für sie holen könnte als Nehammer, stiftet jedoch Unruhe. Erst recht tut es das, wenn dann auch noch Berichte auftauchen, Kurz könnte eine eigene Liste gründen. Eine solche mag unrealistisch sein, bringt die ganze Misere der Volkspartei jedoch auf den Punkt: Sie begnügt sich zu sehr damit, Kurz inhaltlich treu zu bleiben. Er ist das Original. Ihn zum Gegner zu haben, wäre das Schlimmste überhaupt für sie.
ZAHL
Wahlentscheidende Sanktionen
Von der Papierform her kann die FPÖ von Herbert Kickl im Superwahljahr 2024 nur triumphieren. Die Vorzeichen sprechen derzeit jedenfalls dafür: Themen- und Stimmungslage entwickeln sich ganz nach ihrem Geschmack.
Die Teuerung wird von den Freiheitlichen gerne auch auf die EU-Sanktionen gegen Russland zurückgeführt. Nicht ohne Hintergedanken: Die Haltung sehr vieler Österreicherinnen und Österreicher dazu ist alles andere als gefestigt. Mehr und mehr Menschen tendieren dazu, sie abzulehnen. Das lässt sich parteipolitisch ausnutzen.
Die Sanktionen wurden nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar des vergangenen Jahres verhängt. Seither ist die Zustimmungsrate hierzulande von 74 auf 55 Prozent eingebrochen. Umgekehrt ist der Anteil derer, die dagegen sind, von 23 auf 39 Prozent gestiegen. EU-weit sind es noch immer nur 22 Prozent. Für die FPÖ ist damit eine relative Mehrheit zu holen: Sie ist die einzige Partei, die fordert, die Sanktionen aufzuheben. Sie begründet es damit, dass man sich mit den Maßnahmen nur selbst schade.
Die Eintrübung der Wirtschaftslage in Österreich würde den Bedarf, die Sanktionen zu verteidigen, weiter erhöhen. Allein: Mitbewerber wie ÖVP und SPÖ halten sich zurück. Unter anderem, weil sie sich eine Neutralitätsdebatte ersparen wollen, die damit einhergehen könnte. Die Sorge ist groß, dass man damit nur verlieren würde. Nebeneffekt: Einer Masse fehlen überzeugende Argumente für die Sanktionen.
Das könnte sich rächen: Für die Freiheitlichen handelt es sich um beste Voraussetzungen für die erste große Wahl im kommenden Jahr: Das wird voraussichtlich die EU-Wahl sein, die fix am 9. Juni stattfinden wird. Kickl und Co. wissen: Wenn sie hier gewinnen und Türkise wie Sozialdemokraten hinter sich lassen, kann das im Hinblick auf die Nationalratswahl im Herbst den Trend zu ihren Gunsten nur verstärken.

BERICHT
Einseitige Integrationsministerin
Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) ist nicht zufrieden mit der österreichischen Migrationspolitik. Es gebe die "falsche Form von Zuwanderung", erklärte sie im Sommerinterview mit der Austria Presseagentur. Das ist interessant: Die meisten Innenministerinnen und Innenminister der jüngeren Vergangenheit, die dafür zuständig sind, werden von ihrer Partei gestellt: Von Ernst Strasser über Johanna Mikl-Leitner und Karl Nehammer bis Amtsinhaber Gerhard Karner. Raab geht es jedoch nicht darum, Selbstkritik zu üben, sondern einer Stimmungslage gerecht zu werden. Die Aussage ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass umworbene Wählerinnen und Wähler Migration kritisch bis ablehnend sehen. Raab bemüht sich, sie zu bestätigen.
Wie sie es auch mit ihren Anmerkungen im jüngsten Integrationsbericht tut: Österreich habe im vergangenen Jahr mit über 112.000 Asylanträgen sehr hohe Zuwanderungszahlen verzeichnet, schreibt sie. Dass zugleich mehr als 40.000 Verfahren eingestellt wurden, weil die Antragsteller weitergezogen sind, verschweigt sie. Als wären die Herausforderungen dann nicht mehr groß genug. Ähnlich verhält es sich bei ihrem Hinweis auf ein zuletzt geringes Bildungsniveau von Zugewanderten. Ein solches muss man sehen. Dem gegenüber steht im Kleingedruckten des Berichts aber etwas Erfreuliches, was sie nicht erwähnt. Zitat: "Der Bildungsgrad der ausländischen Bevölkerung (25- bis 64-Jährige) hat sich über die Zeit deutlich verbessert." Der Akademikeranteil betrage 28 Prozent. Seit der Jahrtausendwende hat er sich damit verdreifacht.
Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at