Schule am Limit:
Wir können nicht mehr!

Lehrer sind stärkeren Belastungen ausgesetzt als früher. Aber auch viele Schüler haben mehr Stress, als ihnen guttut. Burnout in der Schule wird zu einem immer größeren Problem

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Politik - Schule am Limit:
Wir können nicht mehr!

Michaela M. brach in den Semesterferien zusammen. Sie hatte zuletzt nur mehr zwei bis drei Stunden pro Nacht geschlafen, um alles zu schaffen. Sie spürte einen permanenten Druck im Kopf, als würde sie einen zu engen Helm tragen. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Ballon. Sie konnte nicht mehr richtig Luft holen. Dazu das ständige Zittern. „Schon bei dem Gedanken, mich wieder vor die Klasse zu stellen, bin ich in Tränen ausgebrochen.“

Es ist sommerlich warm, der Mohn blüht. Michaela sitzt in ihrem Garten und erzählt. Sie ist Lehrerin an einer polytechnischen Schule in einer niederösterreichischen Kleinstadt. Trotz aller Schwierigkeiten mag sie ihren Beruf, sagt Michaela. Aber damals, vor fünf Jahren, ging gar nichts mehr. Erst nach sechs Wochen Reha und insgesamt einem halben Jahr Auszeit von der Schule fühlte sie sich wieder fit für den Schulalltag. Michaela litt an einer Erschöpfungsdepression. Burnout.

Viele Arbeitnehmer in Österreich fühlen sich davon bedroht oder betroffen. Lehrerinnen und Lehrer sind besonders gefährdet, bestätigt der Arbeitspsychologie Christian Korunka von der Uni Wien. Bei einer Umfrage, die 2016 von der Arge Burnout im Auftrag der Lehrergewerkschaft durchgeführt wurde, gaben fast ein Drittel der Lehrpersonen an, überlastet zu sein oder bereits der Burnout-Risikogruppe anzugehören. Eine 2014 vom Institut für Psychoneuronalogie erstellte Studie identifizierte fünf Prozent Lehrerinnen und Lehrer in Österreich, die bereits ausgebrannt waren, und weitere 20 Prozent, die nach eigenen Angaben knapp davor standen. Genaue Zahlen zu Burnout-bezogenen Krankenständen gebe es nicht, sagt Romana Deckenbacher von der Lehrergewerkschaft. Aber, meint sie, es sei schlimmer geworden. „Die Bedingungen in den Klassen sind so, dass es nicht mehr so leicht schaffbar ist, wie vor zehn Jahren.“

© Privat „Die Lehrer haben mehr Schwierigkeiten mit Kindern, die die Sprache nicht beherrschen“ Erich Hotter. Der Psychologe ist Autor einer Studie über Burnout bei Lehrern

Belastung in der Klasse

Wenn Michaela M. über die Gründe für ihr Burnout spricht, fallen ihr spontan zwei Dinge ein. Erstens, die Bürokratie. Ihr damaliger Chef wollte alles verschriftlicht, „wegen jedem Schmarrn ein Formular“. Zermürbende Zusatzarbeit für die heute 47-Jährige. Vor allem aber belastete sie die Situation in der Klasse. „Man hat das Gefühl, man hat die falsche Ausbildung gemacht. Man müsste eigentlich Sozialarbeiter sein oder Psychotherapeut. Man hört Dinge, die man gar nicht hören will. In manchen Fällen ist es eindeutig und man muss es melden. Aber vieles, was man aus dem Alltag der Jugendlichen mitbekommt, spielt sich zwischen den Zeilen ab. Es ist schwer, sich davon abzugrenzen. Viele Lehrer gehen irgendwann dazu über, Dienst nach Vorschrift zu machen.“

Michaela erzählt von Eltern, die betrunken in der Sprechstunde sitzen. Von jungen Muslimas, die sich nicht trauen, mitten am Tag allein über den Stadtplatz zu gehen, weil ihre männlichen Verwandten sie dabei erwischen könnten. Davon, dass ihre Direktorin in der Früh mit dem Auto Runden dreht, um Schüler aufzuwecken, deren Eltern dazu selbst nicht in der Lage sind. Ein weiteres „massives“ und „permanentes disziplinäres“ Problem, sagt Michaela, sind die Handys. Vor einiger Zeit habe das Lehrerkollegium an ihrer Schule entschieden, sie während des Unterrichts abzusammeln. „Seitdem ist es besser.“

Landet die ganze Wucht gewisser gesellschaftlicher Veränderungen, Stichwort Migration oder Digitalisierung, in den Schulen? Müssen die Lehrer Fehlentwicklungen ausgleichen und dafür mit ihrer Gesundheit bezahlen? Alle Experten sind sich einig, dass die Belastungen und Herausforderungen in den letzten Jahren zugenommen haben. „Natürlich ist es anstrengender geworden“, sagt der Psychologe Erich Hotter von der Arge Burnout. „Die Lehrer haben mehr Schwierigkeiten mit Kindern, die die Sprache nicht hinreichend beherrschen. Eltern delegieren die Vermittlung grundlegender sozialer Fähigkeiten, die man früher voraussetzen konnte, in höherem Maß an die Schule. Dazu kommt, dass Öffentlichkeit und Medien zu Recht kritisch sind und gute Ergebnisse sehen wollen. In diesem Spannungsfeld reiben sich viele Lehrer auf.“ Auch für die Bildungsexpertin und ehemalige Schuldirektorin Heidi Schrodt ist es „kein Geheimnis“, dass die Situation an den Schulen viel herausfordernder geworden sei. Auf migrationsbedingte Probleme sei zu spät reagiert worden, österreichische Lehrer hätten viel mehr abzudecken als Lehrer in den meisten vergleichbaren Ländern. „Und irgendwann geht das an die Substanz.“

Dazu kommen weitere, man möchte sagen konventionelle Problemfelder, die den Lehrern das Leben schwermachen können. Bürokratische Anforderungen. Konflikte mit Vorgesetzten und Kollegen. Lärm. Ständige Umstrukturierungen. Schlechtes Ansehen in der Öffentlichkeit.

Karl Kriechbaum, Autor der Belastungsstudie aus dem Jahr 2014, sieht vor allem viele ältere Lehrerinnen und Lehrer in einem psychologischen Teufelskreis. „Wenn der Stress über längere Zeit hoch ist, verliert der Mensch die Kontrolle über sein Gehirn. Es kommen Aggressionen und Ängste hoch. Man wird einerseits immer empfindlicher, andererseits ist die Kontrollfähigkeit durch den Stress verringert. „Bei solchen Neurotisierungen“, sagt Kriechbaum, würden die neun Wochen Sommerferien, die „normalerweise selbst bei größeren Stressproblemen als Regenerationszeit ausreichend sind“, auch nicht mehr helfen. „Es ist sicher ein Problem, dass vor allem ältere Lehrer immer frustrierter und gereizter werden und überhaupt keine Betreuung erfahren.“ Dabei wäre das auch für die Kinder wichtig. Kriechbaum hat ausgerechnet, dass Burnout bei Lehrern jährlich mindestens 150 Millionen Euro direkte Kosten, 250 Millionen Euro indirekte Kosten sowie 900 Millionen Euro Produktionsverlust verursacht. Dazu kommen seiner Berechnung nach noch die langfristigen Nachteile und Schädigungen, die Schülerinnen und Schüler durch Burnout-Lehrer erleiden.

© Privat „Viele Kinder haben verlernt, ihre Gefühle auszudrücken. Sie haben verlernt, zu spielen“ Doris Hebenstreit. Die Psychotherapeutin arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern

Kinder im Stress

Die Psychotherapeutin Doris Hebenstreit ist auf die Arbeit mit Kindern spezialisiert. Das Herzstück ihrer Praxis in Wien ist ein Spielzimmer. Es gibt Spielzeugautos, ein Puppenhaus, einen Kindertisch mit Malpapier und Stiften. Und eine Ecke mit Decken und Pölstern. Hier macht es sich die Therapeutin auch mit ihren jugendlichen Klienten gemütlich. In das Zimmer nebenan, mit den förmlichen Ohrensesseln und dem Tischchen, kommen nur die Eltern zur Vor- oder Nachbesprechung. Doris Hebenstreit arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen, und ihr Befund ist eindeutig: Auch sie leiden immer mehr unter Stress. „Vor 20 Jahren waren vielleicht ein oder zwei Kinder pro Klasse gefährdet. Mittlerweile sind es circa 30 Prozent.“ Mädchen und Buben seien gleichermaßen betroffen, sagt Hebenstreit. Und die Symptome gleichen sich an: Mädchen verhalten sich zunehmend auch aggressiv, Buben reagieren immer öfter mit Magersucht, Rückzug und Selbstverletzungen.

Überforderung im Unterricht ist einer der Hauptfaktoren, der die Kinder belastet, sagt die Therapeutin. Der Stress wird immer größer – und betrifft immer jüngere Kinder. „Ab der dritten Klasse Volksschule wird sehr stark Druck auf die Kinder ausgeübt, damit sie ins Gymnasium kommen. Wenn Eltern zu mir kommen, die verzweifelt sind, weil ihr Kind den ganzen Abend weint, rate ich ihnen zum Beispiel, auf besseres Freizeitverhalten zu achten. Rausgehen in den Wald, auf die Wiesen, auf den Spielplatz. Dann funktioniert es auch in der Schule wieder besser.“

Viele Kinder verbringen heutzutage viel zu viel Zeit mit dem Handy oder Computer, ist Hebenstreit überzeugt. Mit weitreichenden Folgen, die sich letztlich auch auf die Schule auswirken: Die sozialen Kompetenzen gehen zurück. Es bleibt weniger Zeit fürs Lernen. Und Cyber-Mobbing ist ein riesiges Thema, unter dem viele Kinder leiden. Früher war in den Ferien Zeit, sich von Schikanen durch Klassenkollegen zu erholen. Heutzutage trudeln die virtuellen Beleidigungen ein, sobald man in der Früh das Handy aufdreht. „In den Kindern bauen sich über Wochen und Monate innere Spannungen, Ängste und Frustrationen auf, die sich dann oft in psychosomatischen Magen- oder Kopfschmerzen äußern. Sie haben verlernt, ihre Gefühle auszudrücken. Sie haben verlernt, zu spielen. Ich beobachte in meiner Praxis oft, dass die Kinder anfangs nicht wissen, wie sie mit den Spielsachen umgehen sollen.

Volle Terminkalender

Schlafstörungen, innere Unruhe, Erschöpfungszustände, Suchtverhalten: Es kommt vor, dass Jugendliche bereits ähnliche Burn-out-Muster aufweisen wie Erwachsene, sagt auch die Psychologin Brigitte Bösenkopf. „Sie haben oft auch bereits den Terminkalender eines Erwachsenen.“ Die Schule spiele dabei eine wichtige Rolle, „aber alles auf die Schule zurückzuführen, das würde ich als Psychologin ablehnen.“ Wichtig seien auch andere Faktoren. Die Eltern etwa. Sind sie, oft selbst gestresst und überfordert, schuld an der ganzen Misere? Betreuen und unterstützen sie ihre Kinder zu wenig im Alltag – und setzen sie zugleich zu sehr unter Druck?

Eine Studie der Zeitschrift „Eltern“ aus dem Jahr 2015 belegt, dass auch Erziehungsberechtigte oft überfordert sind. 60 Prozent der Befragten (1.000 Eltern von Sechs- bis Zwölfjährigen sowie 700 Kinder) waren der Meinung, dass die Anforderungen an sie in den letzten 30 Jahren gewachsen seien. Rund die Hälfte der befragten Männer und drei Viertel der befragten Frauen gaben an, sehr hohe Ansprüche an sich selbst zu haben – und etwa die Hälfte dieser Frauen wiederum, dass sie darunter litten.

Die Zeiten haben sich geändert. Die Anforderungen an das Bildungssystem sind gestiegen. Als sie jung war, erinnert sich die Bildungsexpertin Heidi Schrodt, konnte man mit Matura sofort ins Berufsleben einsteigen. Das war in den 60er und 70er Jahren. „Heute muss man da noch was draufsetzen. Bildung ist insgesamt wichtiger geworden ist, weil im Bereich der ungelernten Arbeit fast keine Berufsmöglichkeiten mehr bestehen. Gerade bürgerliche Eltern üben deswegen oft enormen Druck auf ihre Kinder aus.“ Auf der anderen Seite der Skala, sagt Schrodt, beobachte sie Eltern, an die die Schule nur mehr ganz schwer herankomme. Und Kinder, die früh mitbekommen, dass sie später wenig Chancen haben werden. „Die kriegen das sehr bald mit. Und reagieren mit Schulverweigerung und Störaktionen.“

© Privat „Die Jugendlichen klagen über Unruhe, Anspannung und darüber, dass sie schlecht schlafen“ Birgit Satke. Die Leiterin von Rat auf Draht kritisiert die Ballung von Stress

Stressige Phase

Die Sommerferien beginnen Anfang Juli. Notenschluss ist schon Wochen früher. Die stressige Zeit für Schüler, Lehrer und Eltern ballt sich jeweils auf einige Wochen in der Mitte des Semesters zusammen. In dieser Phase klingeln die Telefone bei Rat auf Draht besonders oft, sagt Birgit Satke, Leiterin der Telefonhotline für Kinder und Jugendliche. „Das Wort Burnout verwenden die Jugendlichen selbst nicht“, erzählt Satke. „Sie sprechen eher von Druck und Stress, klagen über Unruhe und Anspannung und darüber, dass sie schlecht schlafen.“ Die Gründe dafür seien unterschiedlich. „Manchmal sind es die Eltern, die Druck auf die Kinder ausüben. Manchmal sind es auch die Ansprüche an sich selbst. Die Sorge, ohne gute Noten keinen guten Job zu bekommen. Zukunftsängste.“ Die Rat-auf-Draht-Mitarbeiter raten ihren jungen Klienten meist, sich selbst nicht zu viel Stress zu machen, mit jemandem über ihre Probleme zu sprechen und auf Erholungsphasen zu achten.

Das, sagt der Psychologe Erich Hotter, sei auch das Einzige, was Lehrerinnen und Lehrer tun können, um körperlich und geistig gesund zu bleiben. „Ansetzen kann man nur auf der individuellen Ebene. Einerseits indem man versucht, dieses Stigma, das unter anderem durch Lehrer­Bashing in den Medien entsteht, aufzulösen. Und andererseits, indem man beim eigenen Lifestyle ansetzt.“

Noch einmal zurück zur Lehrerin Michaela M., in den Garten nach Niederösterreich. Ihr Beruf bereitet ihr wieder Freude, erzählt sie, sie habe aus ihrer Burnout-Erfahrung viel gelernt. Zum Beispiel das Selbstvertrauen, den Anforderungen des richtigen Lebens nachzukommen. „Früher habe ich versucht, eins zu eins umzusetzen, was ich an der Pädak gelernt habe. Aber das funktioniert nicht. Man verwendet sowieso den Großteil der Stunde damit, für Ruhe in der Klasse zu sorgen. Und wenn es in der Pause eine Rieseneskalation unter den Schülerinnen gegeben hat, kann man nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen, und mit dem Stoff weitermachen.“ Denn, sagt Michaela: „Die Schule ist nicht das Wichtigste im Leben.“ Vielleicht liegt in diesem kleinen Satz zumindest ein Schlüssel zur Lösung des komplexen Problems.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe (Nr. 21/2018) erschienen.