"Unsere Verfassung ist
keinesfalls krisensicher"

Das Ibiza-Video hat unser Land in den Augen vieler Österreicher in eine veritable Krise manövriert. Aber hat es das wirklich? Im Gespräch mit News.at erklärt Verfassungsrechtsexpertin Vera Sundström, warum das Misstrauensvotum missbraucht wurde und die österreichische Bundesverfassung geändert werden muss. Und weshalb Politiker wie Heinz-Christian Strache kein politisches Amt mehr ausüben sollten.

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Politik - "Unsere Verfassung ist
keinesfalls krisensicher"

Sie haben vor einem Monat einen pointierten Kommentar in der Presse geschrieben, dass die Opposition Hand in Hand mit der FPÖ auf die Idee gekommen sei, das Land zu destabilisieren. Haben diese Parteien das Land wirklich destabilisiert?
Zum damaligen Zeitpunkt schon. Denn zunächst wurde der „Fall Ibiza“ vom damaligen Bundeskanzler Kurz gemeinsam mit dem Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in wenigen Stunden bereinigt, genau wie es die Verfassung vorsieht. Die von den Offenbarungen im „Ibiza-Video“ betroffenen Regierungsmitglieder Strache und Kickl wurden aus der Bundesregierung ausgeschieden.

Damit wurde auch der rechtsstaatlichen Verantwortung einer Bundesregierung ordnungsgemäß Rechnung getragen, die im „Ibiza-Video“ aufgetretenen Inhalte ihrer umfassenden Untersuchung auf ihre strafrechtliche Relevanz zuzuführen. Im Sinne der österreichischen Bürger war daher die Krise bewältigt. Denn das österreichische Verständnis in solchen Fällen ist ja ein sehr Ursprüngliches, nämlich dass uns ein derartiges Fehlverhalten, wie es Strache gezeigt hat, nicht weiter belasten soll.

Dann haben sich die FPÖ-Minister aus der Bundesregierung verabschiedet und der vormalige Bundeskanzler hat von seinem aus der Bundesverfassung bestehenden Recht Gebrauch gemacht, neue Minister zu ernennen; dies vernünftigerweise in Abstimmung mit dem Herrn Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Auch hier ist ja noch keine Regierungskrise entstanden.

»Erst das Misstrauensvotum hat unser Land destabilisiert«

Erst das Misstrauensvotum gegen die gesamte Regierung, noch dazu ohne nachvollziehbarer Begründung, hat unser Land im Selbstverständnis der österreichischen Bürger, dass sie mit ihrer Stimme zur Nationalratswahl auch den Bundeskanzler „gewählt“ haben, destabilisiert. Denn dadurch wurde erstmals deutlich, dass der Bundespräsident nach der Bundesverfassung die Möglichkeit hat, einen Bundeskanzler und damit zugleich eine Bundesregierung ins Amt zu rufen, der eigentlich keine demokratische Legitimierung vorangegangen ist. Es war ein Glück, dass wir Alexander Van der Bellen als Bundespräsidenten haben.

Nach meinem Verständnis der österreichischen Bundesverfassung und vor allem im Sinne des dort festgelegten demokratischen Parlamentarismus darf es ja nicht so sein, dass das weitere Handeln von der Person des Bundespräsidenten abhängt. Van der Bellen hat hier vernünftigerweise nicht seine gesamten Möglichkeiten ausgeschöpft, die er gehabt hätte, und hat eine Expertin des Verfassungsrechts, Frau Bundeskanzlerin Bierlein, eingesetzt, die ebenso vernünftigerweise im Grunde tatsächlich nur den Stand verwaltet. Denn wer verantwortet denn jetzt die Handlungen der Bundesregierung?

Liegt für diesen Fall Ihrer Ansicht nach vielleicht ein Mangel in der Möglichkeit des Misstrauensvotums vor?
Das Misstrauensvotum des Nationalrates sollte als Kontrolle der Regierung jedenfalls beibehalten werden, jedoch nicht in dieser Form. Denn wie wir Bürger erkennen mussten, wurde dieses konkrete Misstrauensvotum erstmals und ausschließlich aus parteipolitischer Taktik ausgesprochen. Die Begierlichkeiten der im Nationalrat vertretenen Parteien wurden dann auch immer stärker in die Richtung aufgezeigt, dass der Zeitraum bis zu Neuwahlen ausgedehnt werden sollte, sodass sich die derzeit in der „Wählergunst“ schlechter platzierten Parteien wieder besser etablieren können vor den Wahlen. Das kommt einem Missbrauch dieser Kontrollfunktion des Nationalrats sehr nahe und entspricht aus meiner Sicht auch nicht dem Sinn und Zweck des Misstrauensvotums aus der Verfassung.

Was habe ich beanstandet? In Kurzform: Ich habe beanstandet, dass alles so abgelaufen ist wie es nach unserer Verfassung sein soll - aber nur zunächst. Aber dass der Bundespräsident dann durch ein Misstrauensvotum gegen die gesamte Bundesregierung in eine erstmalige Regierungspraxis gedrängt wurde, von einer Mehrheit der Nationalratsabgeordneten, die jedoch keinen gemeinsamen Regierungswillen und keine Regierungsverantwortung übernommen haben. Die demokratische Legitimierung dieser Praxis stelle ich jedenfalls in Frage: Denn der Antrag der „Liste Jetzt“ hat ja nun durch die FPÖ-SPÖ-Mandatare überhaupt die Möglichkeit eröffnet, auch gegen die vom Bundespräsidenten ernannte Bundeskanzlerin Bierlein und gegen die von ihr ernannten weiteren Regierungsmitglieder, durch ständige Misstrauensvoten, somit jede Regierungsarbeit zu blockieren.

Hier habe ich in Frage gestellt, ob das österreichische Volk dem Nationalrat, konkret aus rein negativen Motiven, allenfalls jede Regierungstätigkeit zu blockieren, dafür tatsächlich das Mandat erteilt hat. Denn hier haben wir einen Präzedenzfall, der noch nie vorgekommen ist. Zusätzlich habe ich die Frage gestellt, ob unsere Verfassung im Grundsatz in einer derartigen politischen Situation wie jetzt im Nationalrat überhaupt krisenfest ist.

Hätte Van der Bellen trotz Misstrauensvotums Ex-Bundeskanzler Kurz noch einmal vorschlagen können?
Nein, der Bundespräsident hätte jedoch für den Fall von sofortigen Neuwahlen, nach Enthebung des Bundeskanzlers, ihn mit der vorübergehenden Fortführung der Amtsgeschäfte betrauen können. Aus den Gründen, die ich bereits angesprochen habe und das war mein Vorschlag, sollten möglichst schnell Neuwahlen angesetzt werden. Es würde schnell der Nationalrat aufgelöst werden, es würden schnell die dann demokratisch ermittelten Mehrheiten hergestellt werden und das wäre der Punkt. Denn nach dem Selbstverständnis des österreichischen Bürgers hat er mit seiner Wahlstimme auch den Bundeskanzler „gewählt“ oder zumindest dabei mitgewirkt.

Also um dem Volk möglichst schnell wieder die Stimme zu geben?
Richtig, das ist ganz wichtig, weil sich das Volk ja nicht mehr abgebildet sieht. Und das schon länger nicht mehr. Das geht in der Debatte ein wenig unter. Was mich an der ganzen Sache aber am meisten stört, ist, dass es tatsächlich so wäre, dass man das Volk aus den Vorgängen jetzt im Nationalrat ausschließen könnte. Und zwar auf lange Zeit. Da müssten sich die Legistiker des Verfassungsrechts zusammensetzen und eine dem demokratischen Parlamentarismus, wie in unserer Verfassung vorgesehen, entsprechende Lösung finden. Das ist eine Lücke, das kann nicht sein.

Es müsste so sein, dass das Misstrauensvotum ausgesprochen wird und der Bundespräsident enthebt, gegen wen auch immer das Misstrauen ausgesprochen wurde. Und wenn es so ist, wie in diesem Fall, sollte der Bundespräsident verpflichtend Neuwahlen anordnen müssen. Und zwar sofort. Und das darf er ja auch auf Antrag des Bundeskanzlers.

Und er darf in einem Fall wie jetzt hinsichtlich Neuwahlen nicht mehr abhängig sein vom Parlament. Denn unser Nationalrat findet derzeit zwar Mehrheiten zur Entlassung der Regierung, er ist jedoch aus den bereits dargestellten Gründen der rein parteipolitischen Taktik dieser Vorgehensweise nicht im Stande, den maßgeblichen Faktor staatlicher Willensbildung darzustellen und eine mehrheitsfähige – und damit demokratisch legitimierte - Alternativ-Regierung „auf die Beine zu stellen“.

»Die Parteien könnten die gegenwärtige Situation bis zum Sankt Nimmerleinstag aufrechterhalten«

Der Bundespräsident ist in diesem Fall rein theoretisch davon abhängig, dass die Parteien im Nationalrat, die der gesamten Regierung und damit ja auch der Mehrheitspartei ÖVP das Misstrauen ausgesprochen haben, es möglich machen könnten, die gegenwärtige Situation bis zum Sankt Nimmerleinstag, also bis zum Ende der gesetzlichen Legislaturperiode, aufrecht zu erhalten. Davon könnte den Bundespräsidenten - nach unserer Bundesverfassung - nur die Frau Bundeskanzlerin Bierlein mit einem Antrag auf Neuwahlen befreien. Damit wären wir - glücklicherweise - wieder bei den aktuell handelnden zwei Personen. Der österreichische Bürger darf aber eben nicht vom wohlwollenden Charakter eines Bundespräsidenten und seiner von ihm ernannten Bundeskanzlerin abhängig sein müssen, ob er dem Nationalrat „die rote Karte“ zeigen darf oder nicht.

Wer regiert uns jetzt eigentlich de facto? Die Übergangsregierung oder schnapsen es sich jetzt die Klubobmänner aus?
Da muss man klar trennen. Im Nationalrat schnapsen sie es sich aus, wenn man so will (lacht) . Aber tatsächlich, so wie ich das sehe - das ist die zweite Lücke - empfindet die Frau Bundeskanzlerin Bierlein doch eine Loyalität zum Bundespräsidenten, sodass ich glaube, dass sie sehr stabil mit ihm zusammen arbeitet und weniger mit den Begierlichkeiten der Nationalratsparteien. Aber all das baut auf zwei demokratiepolitisch sehr vernünftigen Menschen auf. Das ist mir nach meinem verfassungsrechtlichen Verständnis bereits im Grundsatz zu heikel, das muss ich schon sagen. Das ist ein Ausnahmefall, wir müssen das anders regeln, so kann das nicht sein.

Könnte man also behaupten, dass Österreich Glück im Unglück gehabt hat?
Mit diesen zwei Persönlichkeiten war es ein Glück, eine große verfassungsrechtliche Lücke zur unbedingten Absicherung des demokratischen Parlamentarismus, nicht allenfalls missbräuchlich zur Wirkung kommen zu lassen.

Man muss sich ja nur einen Krisenfall aus der Geschichte vorstellen: das Parlament kann keine Mehrheitsentscheidung für eine Alternativregierung finden, jede weitere Regierung der mehrheitlich gewählten Fraktion im Nationalrat kann dennoch durch ein von zwei Parteien, die an sich jeweils in der Minderheit sind, angeordnetes Misstrauensvotum blockiert werden Dann könnten - rein theoretisch - unseriöse Persönlichkeiten diesen nach demokratischen Wahlverhältnissen nicht legitimierten Zustand, so lange sie wollen – und damit missbräuchlich - innerhalb der jeweiligen Legislaturperiode aufrechterhalten.

Diese Minderheitsfraktionen im Nationalrat könnten ja theoretisch jeden Vorschlag der Bundeskanzlerin zu Neuwahlen und auch jede weitere vorgeschlagene Regierung ablehnen. Hier sollte unbedingt das Deutsche Grundgesetz als Anleitung herangezogen werden. Danach darf ein Misstrauensvotum nur dann gegen ein Regierungsmitglied – oder die gesamte Regierung - ausgesprochen werden, wenn zugleich auch vom Bundestag ein Alternativvorschlag erbracht wird. Wird für keinen Alternativvorschlag eine Mehrheitsfähigkeit erlangt, ist das Misstrauensvotum ungültig. Deshalb habe ich auch gefordert, dass die österreichischen Bürger möglichst bald ihr Wahlrecht ausüben können.

Weil sie „möglichst bald“ sagen: Wäre das jetzt in dem Fall nicht ein relativ ungünstiger Zeitpunkt gewesen - nämlich in der Urlaubszeit der Österreicher?
Wenn das Volk an seinem demokratischen Recht zur Wahl zu gehen interessiert ist, wodurch das Volk tatsächlich alles in der Hand hat, so wie es Kelsen auch gesehen hätte, dann wird es sein Recht wohl auch über Wahlkarten ausüben können.

Was wäre alternativ zum Szenario, das durch das Misstrauensvotum zustande gekommen ist und Ihnen missfällt, an einer ÖVP-Expertenregierung besser gewesen?
Das ist nicht der Punkt für mich. Grundsätzlich stört mich und da sehe ich mich jetzt nur als österreichische Bürgerin, dass man dem Bundespräsidenten mit der Aktion des Misstrauensvotums - in seine sehr übersichtliche Vorgehensweise - ein „Loch geschossen“ hat, wenn man so will. Van der Bellen und Kurz haben sehr rasch eine neue Regierung aufgestellt und alles war eigentlich in Ordnung.

Die Angelegenheit „Ibiza-Video“ ist das Problem des Herrn Strache. Uns Bürger geht sein Problem eigentlich insofern nichts an, als die überwiegende Mehrheit aller Österreicherinnen und Österreicher so nicht gehandelt hätten. Wir wollen auch ehrlich gesagt nicht mehr davon wissen, als dass alle erforderlichen Handlungen der Rechtstaatlichkeit gesetzt werden. Das österreichische Volk versucht diese entsetzliche Geschichte schnell beiseite zu schieben und will eigentlich nur noch eine ordentliche Regierung und ein ordentliches Parlament.

Das war ja eigentlich alles schon geregelt und sehr gut gelöst. Es war sehr gut, dass Bundespräsident und Kanzler zusammen im Einklang gegangen sind und Österreich hat nach außen hin gezeigt, dass die zwei höchsten Ämter im Staat eine perfekte Problemlösungskompetenz aufweisen.

Dann kam aus meiner Sicht die Destabilisierung der gesamten Republik mit dem Misstrauensvotum, weil ja für das österreichische Volk auch kein nachvollziehbarer Grund gegeben war. Normalerweise wird ein Bundesminister oder die gesamte Regierung entlassen, weil ein rechtfertigender Grund vorliegen sollte. Das ist ein Missbrauch des Misstrauensvotums, so wie ich es schon vorher gesagt und auch begründet habe.

Ist es nicht legitim, aus Sicht der Opposition zu sagen, die ÖVP hätte andernfalls einen Wahlkampfvorteil gehabt?
Nein, das ist ja bei jeder Wahl so. Dann hätte der amtierende Kanzler bei jeder Wahl einen unrechtmäßigen Vorteil für den Wahlausgang. Dem ist ja nicht so. Es ist schon sinnvoll, dass die vorübergehenden Amtsgeschäfte bis zu den Neuwahlen weiterhin von der bisherigen Regierung ausgeübt werden.

Aus heutiger Perspektive: Ist unsere Bundesverfassung wirklich noch „schön und elegant“ wie es Van der Bellen behauptet hat?
Ich glaube, dass der Herr Bundespräsident diese Probleme, die ich vorher angesprochen habe, nicht gesehen hat, weil sie ja nicht virulent waren. Erst als sich SPÖ und FPÖ zu einer Parlamentsmehrheit zusammengeschlossen haben und gegen die mit dem Bundespräsidenten akkordierte Regierung das Misstrauensvotum ausgesprochen haben, sind diese demokratiepolitischen Probleme erst sichtbar geworden. Damit hatten wir einen Präzedenzfall, der mit ein, zwei Bestimmungen in unserer Bundesverfassung gelöst werden muss, die sehr einfach sein können. Deutschland wäre hier ein gutes Beispiel.

Das „freie Spiel der Kräfte“ ist ein Zustand, den Sie also nicht befürworten?
Nicht, wenn es um Neuwahlen geht. Da sollte nur noch unsere Bundesverfassung das Sagen haben. Ansonsten bin ich sogar eine Verfechterin dieses Prinzips.

»Für rein parteipolitische Ziele ist das Misstrauensvotum nicht vorgesehen«

Sie haben die letzte EU-Wahl als Argument angeführt, dass die Zusammensetzung des Nationalrats unter dieser Prämisse überhaupt eine andere und das Volk somit derzeit durch die Regierung nicht repräsentiert wäre. Nun ist es aber so, dass einer aktuellen Umfrage des Market-Instituts zufolge 56 Prozent der Bevölkerung die Regierung Bierlein als „gut für Österreich“ einstufen. Wie passt das zusammen?
Ich glaube, man muss das jetzt trennen. Das eine ist: Ich habe gemeint, dass das ursprüngliche destabilisierende Misstrauensvotum für mich im Sinne der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie ganz bedeutsame Probleme aufweist. Da der Nationalrat uns Bürgern keinen Alternativvorschlag für eine Ersatzregierung nannte, war dieses Misstrauensvotum auch staatspolitisch verantwortungslos. Denn für rein parteipolitische Ziele ist das Misstrauensvotum nach meiner Auffassung nicht vorgesehen.

Zum zweiten würde ich die EU-Wahlen normalerweise gar nicht heranziehen, sie waren aber meiner Ansicht nach schon ein Zeichen der Bevölkerung. Im Vergleich zu anderen EU-Wahlen in Österreich war die Wahlbeteiligung deutlich höher. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem das Misstrauensvotum gegen damals Noch-Kanzler Kurz bereits im Raum stand.

War die EU-Wahl also als Stimmungsbarometer zu sehen?
Zumindest habe ich es so gesehen. Ich war schon sehr überrascht. Negativ überrascht bei den Vorzugsstimmen für Strache. Interessiert überrascht über die im Vergleich zu vormaligen EU-Wahlen hohe Wahlbeteiligung der Österreicher und auch über den Erfolg der ÖVP, wenn ich das so sagen darf, obwohl ja bereits das Misstrauensvotum gegen Kurz angekündigt war. Die Österreicher sind normalerweise anders in ihrem Wahlbeteiligungsverhalten. Wenn etwas passiert wie ein Misstrauensvotum, dann sind sie ja einmal von ihrem Gefühl her eher neutral. Da hätte ich erwartet, dass sie eher gar nicht zur Wahl gehen, wenn sie keine Meinung dazu haben.

Der Anteil an Protestwählern ist in so einem Fall aber wesentlich höher als der Prozentsatz, der einem Misstrauensvotum zustimmt. Und dieser Anteil sieht gar keine Veranlassung, die EU-Wahl als Stimmungsbarometer zu nutzen und geht möglicherweise gar nicht hin.
Ich habe mir die Frage gestellt: „Was wäre gewesen, wenn man eine Volksabstimmung über dieses Misstrauensvotum ausgetragen hätte?“. Zu dem Zeitpunkt, nachdem alle schockiert waren von diesem Video. Und das muss ich jetzt auch einmal sagen: Das Ibiza-Video wird viel zu hoch gespielt, das ist eine Sache des Herrn Strache. Das ist nicht unser Problem und Bundespräsident Van der Bellen und Ex-Bundeskanzler Kurz haben das gut gelöst, dass wir auch nichts damit zu tun haben müssten.

»Strache dürfte kein politisches Amt mehr ausüben«

Wie müsste man Ihrer Meinung nach mit einem Politiker wie Strache in so einem Fall vorgehen? Sollte es da konkrete Regelungen geben?
Absolut. Strache dürfte meines Erachtens kein politisches Amt mehr ausüben. Ich sehe das grundsätzlich so: Wenn jemand bei einer Wahl 28 Prozent des Volkes abbildet und sich mit seinem Wahlprogramm und seinen öffentlich kundgemachten Ansichten innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens bewegt, darf man ihn natürlich nicht herabwürdigen, weil man damit auch die Bürger herabwürdigt, die ihn wählen. Das würde nicht meinem Demokratieverständnis entsprechen.

Ab dem Zeitpunkt aber, als wir die Aussagen aus dem Ibiza-Video kannten, hat Strache mit der Wertehaltung und mit dem Anforderungsprofil ja nichts mehr zu tun, wie wir es von Persönlichkeiten wünschen, die uns als Politiker vertreten dürfen. Und in diesem Fall würde ich sehr wohl sagen: Solche Personen, auch wenn sie kein strafrechtlich relevantes Verhalten gesetzt haben, aber in ihren Ansichten ganz offenkundig in jeder Form ihrer Wertehaltung dem Grundverständnis von Anständigkeit und Moral entgegenstehen, dürften, wenn dies öffentlich nachgewiesen ist wie bei Strache, kein politisches Amt mehr ausüben.

Könnte man das rechtlich lösen?
Schwierig. Aus anderer Perspektive betrachtet könnte damit auch Missbrauch gegen unerwünschte politische Konkurrenten betrieben werden. Eine rechtliche Lösung müsste also jedenfalls so formuliert sein, dass jede missbräuchliche Anwendung ausgeschlossen ist.

»Letztlich geht es hier um unser Recht zu wählen und das ist nicht verhandelbar«

Glauben Sie, dass es nach diesen Ereignissen eine Änderung in der Verfassung geben wird?
Es wird vom Journalismus abhängen, ob die unbedingten Erfordernisse der Änderungen in unserer Bundesverfassung an das Volk herangetragen werden. Es wird vor allem vom Aufzeigen der tatsächlich virulenten Gefahren abhängen, die derzeit von unserer Verfassung im Krisenfall ausgehen. Es müsste letztlich das Volk vor den Wahlen von den Politikern die unbedingte Zusage fordern, diese Ergänzungen nach den Vorbildern nahezu aller westlicher Länder unverzüglich vorzunehmen.

Letztlich geht es hier um unser Recht zu wählen, das bereits im Grundsatz nicht verhandelbar ist und damit um unser demokratisches Grundrecht. Was ich in den Bundesländern erlebt habe: Ab dem Zeitpunkt, als SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt öffentlich überlegt haben, man könnte den Zustand der Übergangsregierung noch länger aufrechterhalten, gab es richtig Unruhe.

Auch eine weitere Sichtweise erscheint mir ganz wichtig: Für einen westlichen Staat ist es beschämend, dass wir keine gesicherte, rechtstaatliche Lösung auf den Grundsätzen der Demokratie für eine solche Situation haben. Und damit ist unsere Bundesverfassung für Fälle, wie wir sie aus der Geschichte kennen, keinesfalls als krisensicher zu beurteilen.

© foto Zwazl

Zur Person: MMag. Vera Sundström ist Rechtsanwältin und Expertin für Verfassungsrecht und Vergaberecht in Wien. Sie ist Initiatorin der Plattform www.pro-gesetz.at.