Politik-Verdrossenheit
so groß wie noch nie

Peinliche Chats, Postenschacher, Angriffe gegen die Justiz und parteipolitische Schlammschlachten. Die Österreicher haben von der Politik die Nase voll, wie eine Exklusivumfrage für News zeigt.

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Umfrage - Politik-Verdrossenheit
so groß wie noch nie

Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist seit Monaten unverändert hoch, Neuwahlen lehnt eine Mehrheit dennoch ab - und wenn ja, wäre eine Mitte-Links-Koalition von SPÖ, Grünen und Neos für viele Wähler die beliebteste Alternative.

Selten hat die heimische Politik die Österreicherinnen und Österreicher offenbar so wenig interessiert wie derzeit: Das mag einerseits mit dem erhofften Ende der Pandemie und den Aussichten auf einen Sommer mit alten Freiheiten zu tun haben, den man sich von der Beschäftigung mit Parteipolitik nicht vermiesen lassen will. Andererseits aber auch damit, dass es die einzelnen Fraktionen mit ihren Auseinandersetzungen in den Augen der Öffentlichkeit zuletzt möglicherweise übertrieben haben und sie daher einen Vertrauensverlust hinnehmen mussten, so Christoph Haselmayer, Chef des Instituts für Demoskopie und Datenanalyse (IFDD), der für News die aktuelle Stimmungslage in der Bevölkerung abgefragt hat: "Die allgemeine Stimmung im Land wird von Tag zu Tag besser, doch politisch ist das Klima so, dass sich die meisten Menschen damit nicht beschäftigen wollen."

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Laut Umfrage geben nämlich 63 Prozent der potenziellen Wählerinnen und Wähler an, dass die Ereignisse der letzten Zeit, speziell die umstrittenen Chatprotokolle, die an die Öffentlichkeit gelangt sind, und die bekannt gewordenen Absprachen rund um Postenbesetzungen in öffentlichen Unternehmen, ihr Vertrauen erschüttert haben. Eine Mehrheit fühlt sich von diesen Vorgängen abgestoßen, und zwar unabhängig von Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, Wohngegend oder Parteizugehörigkeit. Einzig innerhalb der Sympathisanten der ÖVP -die bei diesen Ereignissen im Fokus steht -ist das Verhältnis noch einigermaßen ausgewogenen: Wobei allerdings auch bei diesen 47 Prozent angegeben, ihr Vertrauen sei erschüttert und nur 44 Prozent nicht. "Das ist ein Ergebnis, das am Ende des Tages alle Parteien gleich trifft. Die fragwürdigen moralisch-ethischen Handlungen sind für deren Image insgesamt alles andere als gut", erklärt der Meinungsforscher: "Übrig bleibt am Ende die fatale Einstellung, es sind ohnehin alle gleich."

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Mehrheit von 58 Prozent nicht glaubt, dass der Ibiza-Untersuchungsausschuss bisher Aufklärungsarbeit leisten konnte. Sogar eine Mehrheit der potenziellen Neos-Wählerinnen bzw. -Wähler ist dieser Ansicht. Dass 67 Prozent im ÖVP-Dunstkreis das sagen, ist dagegen eher keine Überraschung. Haselmayer: "Diese Zahlen sind wohl auch der Fragestellung nach inhaltlicher Aufklärung geschuldet, zeigen aber deutlich, dass sich die Menschen mit gegenseitigen, oft sehr untergriffigen, politischen Attacken nicht beschäftigen wollen."

Nur ÖVPler gegen Kurz-Rücktritt

Eine eindeutige Meinung gibt es auch zur Frage, ob Bundeskanzler Sebastian Kurz zurücktreten soll, wenn es zu einer Verurteilung wegen Falschaussage (im U-Ausschuss zu Postenbesetzungen, Anm.) kommen sollte: Dafür plädieren immerhin 69 Prozent -im Durchschnitt, der nur durch die ablehnende Haltung der ÖVP-Anhänger deutlich gedrückt wird. Von denen ist nämlich eine Mehrheit von 56 Prozent gegen einen Abtritt von Kurz. Erwähnenswert im Zusammenhang ist, dass 73 Prozent der Männer für einen Rücktritt sind und nur 61 Prozent der Frauen. Bei Menschen mit Matura sind es 72 Prozent gegenüber 65 Prozent. Auffallend ist zudem, dass satte 86 Prozent der Anhänger des ÖVP-Koalitionspartners Grüne für einen Kurz-Rücktritt im Falle einer Verurteilung sind.

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Apropos Grüne: 41 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass die Regierungsbeteiligung der Grünen mit der ÖVP für den Juniorpartner schädlich ist. Besonders hoch ist der Anteil logischerweise bei SPÖund FPÖ-Wählern. Aber immerhin noch 39 Prozent der Grün-Anhänger sehen das so - was der IFDD-Chef als "richtungspolitischen Diskussionsbedarf innerhalb der grünen Bewegung bzw. zwischen der Basis und den Funktionären" interpretiert. Detail am Rande: Während nur 38 Prozent der Frauen die Regierungsbeteiligung der Grünen für schädlich halten, ist es bei den Männern doch fast die Hälfte.

Unzufriedenheit unverändert

Wenig verändert hat sich in den vergangenen Monaten indes die Einstellung der Österreicherinnen und Österreicher zur Performance der Bundesregierung: 43 Prozent der Bevölkerung sind mit der Arbeit der türkis-grünen Koalition zufrieden, 55 Prozent sind nicht zufrieden. Haselmayer: "Dieser Wert ist quasi seit Februar unverändert geblieben, trotz aller Skandale und des permanenten politischen Hick-Hacks. Das ist schon überraschend."

Obwohl die Mehrheit der Menschen an der Regierung offenbar vieles nicht gut findet und ÖVP sowie Grüne in den Meinungsumfragen sukzessive verlieren, hält sich der Wille zur Veränderung in Grenzen: Eine klare Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher, nämlich 55 Prozent, wollen keine Neuwahlen. Dass 77 Prozent der ÖVPler dagegen sind (das ist der höchste Wert) und eine Mehrheit der SPÖler und FPÖler für Neuwahlen ist, erklärt der Meinungsforscher mit "eindeutigen parteibzw. machtpolitischen Motiven".

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Sollte es, aus welchen Gründen auch immer, in absehbarer Zeit dennoch zu Neuwahlen kommen, könnte es hingegen zu einer Überraschung kommen. Denn laut der IFDD-Umfrage würde dann nämlich eine "Rot-Grün-Neos"-Regierung zumindest in den Sympathiewerten erstmals klar voran liegen. Mit einem Wert von 20 Prozent erhält diese Parteienkonstellation im Schnitt eine doppelt so hohe Zustimmung wie alle anderen Koalitionsvarianten, inklusive die einer Minderheitsregierung. Allerdings ist der Anteil jener, die sich jetzt noch nicht deklarieren bzw. keiner dieser Varianten den Vorzug geben wollen, mit zusammen 27 Prozent noch höher. Das bedeute einerseits, dass sich immer mehr Leute von der Politik abwenden und ins Lager der Nichtwähler wechseln würden -andererseits spiele das aber auch die Polarisierung der Gesellschaft wider, so Haselmayer: "Die Regierung ist nicht sonderlich beliebt, und vor diesem Hintergrund wird von vielen offensichtlich die Variante Rot-Grün-Neos als einzige echte Alternative angesehen."

Chancen für Rot und Blau

Beim früheren ÖVP-Koalitionspartner FPÖ ist mit der Installation des neuen Parteichefs Herbert Kickls alles klar. Er hat nicht nur vor Kurzem 88,2 Prozent der Delegiertenstimmen hinter sich vereint, sondern punktet mit seinem harten und umstrittenen Konfrontationskurs auch bei drei Vierteln aller potenziellen freiheitlichen Wählerinnen und Wähler. Immerhin 31 Prozent der Bevölkerung sehen Kickl als besten FPÖ-Spitzenkandidaten. Haselmayer: "Damit schöpft er wieder einmal das maximale freiheitliche Potenzial in Österreich ab."

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Eine ähnliche Ausgangsposition wie beim blauen Neo-Chef ortet der Meinungsforscher für die rote Parteichefin Pamela Rendi-Wagner. Die wird von 72 Prozent der SPÖ-Sympathisanten als die geeignete Spitzenkandidatin gesehen und österreichweit von 32 Prozent: "Schafft sie es, dieses Potenzial anzusprechen, dann kann es bei einer zukünftigen Nationalratswahl äußerst spannend werden."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News Nr. 25+26/2021 erschienen.