Sebastian Kurz: Ein
Schatten seiner selbst

Zum ersten Mal seit seiner Wahl ist ÖVP-Chef Sebastian Kurz mit einer Obmann-Debatte konfrontiert. Immer mehr Schwarze kritisieren (noch intern) die Arroganz türkiser Machtzirkel und sorgen sich um den guten Ruf einer staatstragenden Partei.

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Politik - Sebastian Kurz: Ein
Schatten seiner selbst

Zieht ein Landesfürst in einen Landtagswahlkampf, sind aufmunternde Besuche aus der jeweiligen Bundespartei meist nicht gefragt. So war das bei früheren ÖVP-Chefs -und so ist es neuerdings auch bei Sebastian Kurz. Galt der junge Kanzler bisher als sicherer Stimmenbringer und war in jedem Wahlkampf gern gesehen, wird er derzeit als Last empfunden. "Die Anwesenheit von Bundespolitikern war schon einmal erwünschter", hört man aus Oberösterreich, wo am 26. September der Landtag gewählt wird. Spitzenkandidat Thomas Stelzer kann sich über beruhigende Umfragewerte von rund 40 Prozent der Stimmen freuen. Zum Amtsbonus des Landeshauptmanns kommt in diesen Zeiten ein besonderes Atout: Stelzer wirkt trocken, kontrolliert, auf manche vielleicht sogar langweilig. Für viele ÖVP-Sympathisanten ein angenehmer Kontrast zu den schrillen Tönen aus Wien. Der Kanzler mit seiner Entourage verliert langsam, aber beständig Zustimmung -in den Sonntagsfragen der Meinungsforscher, in den Vertrauensindices und an den Stammtischen des Landes.

Letzten Dienstag versuchte die türkise "Familie" einen personellen Befreiungsschlag: Thomas Schmid, der umstrittene Öbag-Chef, dessen Chats mit Kurz, Gernot Blümel und anderen Vertrauten die ÖVP-Krise nahezu täglich befeuern, trat von all seinen Ämtern zurück. Davor hatte schon der frühere Justizminister Wolfgang Brandstetter die Konsequenzen aus seinen verwerflichen Unterhaltungen mit Justizsektionschef Christian Pilnacek gezogen und mit sofortiger Wirkung den Verfassungsgerichtshof verlassen.

Doch reicht das, um die türkise Krise in den Griff zu bekommen? Eher nicht, sagen immer mehr Parteifreunde, aber auch parteiferne Experten. Denn es ist unklar, welche für Kurz entlarvend-peinlichen Nachrichten aus dem Ibiza-Untersuchungsausschuss noch kommen. Das parlamentarische Kontrollgremium tagt bis Mitte Juli, es sind längst nicht alle gelieferten Akten ausgewertet. Dazu kommt, dass die ÖVP, allen voran ihr Fraktionschef im Ausschuss, Andreas Hanger, die Debatten durch Angriffe auf die Justiz und einzelne Staatsanwälte befeuert. "Die Strategie ist wohl, die Diskussionen weg von der Parteispitze zu bekommen", sagt eine Parteikennerin, "aber Hanger ist der falsche Mann dafür."

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"Das ständige Hinhauen auf die Justiz kommt nicht so gut an", berichten jene, die an der ÖVP-Basis unterwegs sind. Davor hatte schon der schnoddrige Umgang von Kurz und Schmid mit Vertretern der katholischen Kirche - wohl eine Retourkutsche für Kritik an der Flüchtlingspolitik der türkis-blauen Regierung -die amtskirchentreuen Anhänger einer christlich-sozialen Volkspartei schwer irritiert.

Gegen Kurz selbst ermittelt derzeit die Wirtschafts-und Korruptionsstaatsanwaltschaft wegen vermuteter Falschaussage vor dem U-Ausschuss. Sein grüner Koalitionspartner und die Oppositionsparteien arbeiten sich seither an der Frage ab, an welchem Punkt der Kanzler eigentlich rücktrittsreif wäre. Bei einem Strafantrag, bei einer Verurteilung? "Die Frage nach der politischen Verantwortung, die ja eigentlich schon früher einsetzt, rückt damit total in den Hintergrund", sagt ein Kurz-Skeptiker in der ÖVP und räumt widerstrebend ein: "Die Strategie ,Alle sind gegen Kurz' trägt dazu bei, dass die Funktionäre nach einer ersten Schrecksekunde wieder stärker hinter ihm stehen. Das war geschickt gemacht." Zuvor hatte in den schwarzen Bundesländern bereits die Variante die Runde gemacht, der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner könnte übernehmen, wenn sich die juristische Lage zuspitzt.

Fast eine Obmann-Debatte

"Wir lassen uns den jungen Kanzler nicht hinausschießen", brachte der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer den Spin der Kurz-Strategen zuletzt in der TV-"Pressestunde" unter. Das Umfeld des Kanzlers sei allerdings fragwürdig. Ob da die Ablöse Schmids reicht? Schon kursieren weitere Rücktrittsgerüchte: Finanzminister Gernot Blümel, bei dem die WKStA eine Hausdurchsuchung durchgeführt hat, könne durch einen Vertrauensmann aus Niederösterreich ersetzt werden. Blümel allerdings, sind sich Parteikenner einig, würde Kurz nur in größter Bedrängnis opfern: "Da wären die Einschläge schon sehr nahe beim Chef."

Politikberater Thomas Hofer meint, ein Rücktritt Blümels werde nur erfolgen, wenn der Druck zu groß wird. Davor könnte man aber Ministerinnen und Minister austauschen, die nicht zu Kurz' engstem Kreis gehören. "Eine Regierungsumbildung ist immer eine Gelegenheit, einen Neustart zu lancieren", sagt der Strategieberater. Auch grollende Landeshauptleute könnten besänftigt werden, indem man eine oder einen der Ihren in ein Ministeramt hievt.

Wie kommt Kurz aus der Krise?

Regina Jankowitsch ist Coach für "Political Leadership" und hat unter anderem das Buch "Tretet zurück! Das Ende der Aussitzer und Sesselkleber" verfasst. Die aktuelle Lage von Kurz analysiert sie so: "Ein Hauptproblem in der Politik ist, dass Ämter nicht nach Kompetenz, sondern nach Loyalität vergeben werden. Aus dieser Fehlentwicklung ergeben sich Dominoeffekte: Jede Kritik, die gegen einen vorgebracht wird, wird als parteipolitisch motiviert abgestempelt, weil sich diese Leute nicht mehr vorstellen können, dass man sie aus sachlichen Gründen kritisiert und dass Kritik ihnen hilft, besser zu werden." Das führe zu einer "Wir oder ihr"-Haltung und unsouveränem Umgang mit Kontrolle und Kritik, auf die mit Gegenangriffen reagiert wird. Kurz habe noch bis in die erste Phase der Coronakrise "kommunikationstechnisch wie aus dem Lehrbuch agiert. Aber PR allein ist zu wenig, um in einer komplexen Welt Probleme zu lösen."

Dass rund um Kurz und die ÖVP-Chats nun der Eindruck einer machtversessenen, wenig empathischen, erfolgsverwöhnten "Familie" entsteht, erklärt die Machtexpertin so: "Macht und Anstand wären grundsätzlich kein Widerspruch. Aber die Republik ist kein Selbstbedienungsladen, wo ich private Interessen über das Gemeinwohl stelle. Wenn ich ein Amt auf Bundesebene habe, darf ich grundsätzlich nicht mehr ausschließlich im Interesse meiner eigenen Klientel arbeiten. Die Tatsache, dass die ÖVP nun Kritiker und den U-Ausschuss diffamiert, zeugt von einer fehlgeleiteten Einstellung."

Doch wie kann Kurz aus dieser schwersten Krise seiner Karriere kommen?"Schwer und nur mit großem Aufwand", sagt die Expertin. Der Austausch von Personal helfe nicht allein. Wer nach "so einem Riesenbauchfleck wieder aufstehen will, muss mit maximaler Transparenz agieren. Er kooperiert idealerweise von sich aus mit den kontrollierenden Instanzen, daran sieht man, ob es den handelnden Personen ernst ist." Es gehe um die eigene Glaubwürdigkeit und den Ruf der Politik, "nicht darum, zu sagen: 'Hauptsache, ich überlebe.' Wenn die ÖVP nun die Diskussion in die Richtung lenkt, dass die Chats von Schmid, Brandstetter und Pilnacek gar nicht veröffentlicht werden dürften, hat sie die Lektion nicht verstanden."

Kurz spielt auf Zeit

"Die ÖVP-Chats rund um Kurz, Blümel und Schmid sind wie das Ibiza-Video, nur war die FPÖ damals in keinen Ämtern, wir schon", sagt der schwarze Kurz-Kritiker hinter vorgehaltener Hand. Der derzeitige Niedergang sei hausgemacht, und das sei eine neue Erfahrung für Kurz: "Früher war für Kurz immer, wenn es ein Problem gegeben hat, jemand anderer schuld: Zuerst war es die FPÖ, jetzt stören ihn die Grünen, das Parlament, die Justiz, irgendwann auch die Demokratie."

Politikberater Thomas Hofer spricht von der "bisher größten Krise" in Kurz' ÖVP-Obmannschaft. "Sein Nimbus als politischer Erneuerer ist dadurch sehr ramponiert -auch international." Kurz polarisiere weiter, sei aber "viel verwundbarer als früher", sagt Hofer. Dennoch könne Kurz auf Zeit spielen: Bis zur Entscheidung über die vermutete Falschaussage könne es noch lange dauern. Die Grünen als Regierungspartner stehen noch zur ÖVP. "Sie haben inhaltlich noch nichts vorzuweisen und müssen erst einmal einen Erfolg liefern." Die SPÖ schaffe es nicht, der Kurz-ÖVP etwas entgegenzusetzen. Meinungsforscher Christoph Haselmayer sieht die SPÖ zwar im Aufwind, die Bevölkerung erkenne aber bei ihr noch keine echte Alternative zu Kurz. Die FPÖ könne unter Herbert Kickl auf bis zu 25 Prozent Stimmenanteil kommen, der neue Chef sei aber keine echte Kanzler-Alternative.

Mit Neuwahlen rechnen die beiden Experten aber ohnedies nicht allzu bald. Nächstes Jahr allerdings wären solche nicht auszuschließen, meint Hofer. Die Strategie der ÖVP liege dabei schon auf der Hand: "Alle sind gegen Kurz."

Ist die Ruhe trügerisch?

"Ich bin erstaunt, wie ruhig es ist", sagt ein schwarzer Abgeordneter aus Niederösterreich. Und führt diese Unruhe auch auf die Corona-Umstände zurück. "Es gibt ja nach wie vor kaum persönliche Begegnungen. Alles geht über Zoom oder Skype. Da gibt es keinen Raum zum Matschkern." Dazu komme, dass die Landeshauptleute Pragmatiker der Macht sind. Solange Wahlen gewonnen werden, "ist das der Kitt, der alles zusammenhält. Erst wenn die Ereignisse um Kurz den Länderchefs schaden, wird es heikel." Für Nervosität sorgt allerdings das Ondit, in den ÖVP-Chats könnten manche schwarzen Länderchefs verunglimpft werden. Würden diese publik, dürften sich die parteiinternen Konflikte zuspitzen, sagt Thomas Hofer.

Und so machen sich vorläufig jene Schwarzen Luft, die sich bereits aus den türkisen Kreisen zurückgezogen haben: "Ein Teil der früher Schwarzen und heute Türkisen wirkt wie ,brainwashed'. Sie geben sich ganz dem Glück hin, mit Kurz an allen Hebeln der Macht zu ziehen. Sie erleben Kurz wie einen Erlöser. Er hat alles richtig, noch keinen Fehler gemacht und wird auch in Zukunft keinen machen. Jedes kritische Wort über Kurz und Co. erleben sie wie eine persönliche Beleidigung. Sie wirken wie eine Sekte", schreibt ein schwarzer Ex-Funktionär an News. "Ein zweiter Teil hat wachsende Bedenken über den Kurs von Kurz und seiner Umgebung, spricht aber in der Öffentlichkeit nicht darüber. Viele in öffentlichen Funktionen verschweigen sich, weil sie Angst haben. Das aus der Schüssel-Ära bekannte Prinzip ,Hände falten, Goschn halten' gilt wieder. Ein dritter Teil ist bestürzt, bedrückt, enttäuscht über die Ära Kurz. Dieser Teil würde sich gern artikulieren, wird aber dank Message Control in der Öffentlichkeit nur wenig gehört - wie lange noch?"

Wer erinnert sich noch an den Ethikrat der ÖVP und den Verhaltenskodex, den der damalige Parteichef Michael Spindelegger nach schwarzen Skandalen erarbeiten ließ?"Mit dem Zerfall überlieferter Selbstverständlichkeiten werden Alltagsmoral und politische Moral, die durchaus zusammengehören, zum knappen Gut. Pflichtethik muss in der großen europäischen Tradition Tag für Tag neu erarbeitet und neu praktiziert werden, sie geht über die strikt einzuhaltende Rechtsordnung hinaus", steht in dessen Präambel. Der Ethikrat unter dem Vorsitz von Waltraud Klasnic interpretiert dies derzeit ganz im Sinne des türkisen Spins:

"Selbstverständlich beobachten die Mitglieder des VP-Ethikrates die aktuellen Diskussionen und Berichte über Strafanzeigen von politischen Mandataren gegen den Bundeskanzler und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und tauschen sich darüber aus. Es gilt gerade auch für Personen, die im öffentlichen Leben stehen, die Unschuldsvermutung und es besteht daher gegenwärtig kein darüberhinausgehender Stellungnahmebedarf seitens des VP-Ethikrates. Die Volkspartei ist übrigens die einzige der im Parlament vertretenen Parteien, die schon seit 2012 über einen Ethikrat verfügt. Persönlich wünsche ich mir allseitig eine Versachlichung der Diskussion und eine sorgfältigere und verantwortungsbewusste Wortwahl ohne voreilige Schuldzuweisungen", lässt Klasnic wissen.

Besser hätte man es im Kanzleramt auch nicht formulieren können.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (23/2021) erschienen.