Was die Politik
in den Bergen sucht

Vor Fans und Fotografen sind viele Politiker große Freunde der Berge. Dennoch sorgen sich Naturschutzorganisationen um die Seele der Alpen und rufen zu deren Schutz auf. Sie sehen Österreichs letzte unberührte Bergwelten durch jüngste Pläne der Politik bedroht. Die heikle politische Gratwanderung zwischen Populismus und Glaubwürdigkeit.

von Politik - Was die Politik
in den Bergen sucht © Bild: ?VP

Ein Aufstieg wie aus dem Bilderbuch: Man ist früh aufgestanden. Man hat sich all seine Kräfte abverlangt, ohne sich dabei aber selbst zu überschätzen. Man hat Wegbegleiter motiviert. Und nun steht man am Gipfel und hat es sich verdient. Aber halt! Nicht vergessen: Man muss auch Demut zeigen – vor der Aufgabe, vor dem Bezwungenen – Bescheidenheit vor der großen Macht, die einem hier zu Füßen liegt.

So inszenieren sich erfolgreiche Menschen gerne, denn was bietet sich als Bild für Ausdauer und Zielstrebigkeit besser an, als ein Gipfelsieg? Die heimischen Berge als filmreife Kulisse. Sie schmücken nicht nur jeden Tourismus-Katalog, sondern machen sich auch gut auf Politikerfotos. Sebastian Kurz ist da keine Ausnahme. Er ist tatsächlich ein routinierter Bergsteiger. Und seine Berater wissen das Image, das dadurch entsteht, zu nutzen. Bei jenem ÖVP-Parteitag, an dem Kurz zum Chef gekürt wurde, beeindruckten sie die ohnedies schon enthusiastischen Funktionäre mit einem minutenlangen Film, in dem Kurz nächtens aufbricht, um dann zu Sonnenaufgang beim Gipfelkreuz in güldenes Licht getaucht zu werden.

Im vergangenen Sommer schlüpfte Kurz gleich dreimal zu PR-Zwecken in die Wanderschuhe. Kontemplative Begegnungen mit der Natur waren das eher nicht. Hundertschaften türkiser Fans, willige Funktionäre, eifrige Landeshauptleute und Journalisten keuchten hinter dem Kanzler zur nächsten Hütte. Ohne Publikum dafür mit dem Tiroler Landeschef Günther Platter bestieg er auch noch die Dreiländerspitze in Tirol. Das Wetter war mäßig, die Route anspruchsvoller als bei den Massenevents zuvor. „Das ist ein guter Bergsteiger“, urteilt Platter, der sich selbst als „Bergler“ bezeichnet. Weder beim Klettern, noch bei der Kondition gebe es beim Städter Kurz ein Problem.

Doch droht ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn die Realpolitik nicht mit solchen Bildern in Einklang zu bringen ist?

In der Zwickmühle

Natürlich ist Kurz nicht der erste Kanzler oder ÖVP-Chef, der in die Berge geht. Von vielen Spitzenpolitikern gibt es Bilder in mehr oder weniger zünftiger Wanderkluft – ob Funktionskleidung, Lederhose oder gar weiße Radlerhose, schon die Wahl des Beinkleids sagt einiges über dessen Träger aus. Bei Kurz kommt zu den Gipfelfotos aber jetzt noch ein anderes Thema dazu. Seine Regierung gilt als besonders wirtschaftsfreundlich, auf ihrer Agenda stehen unter anderem: ein Standortgesetz, laut dessen Erstentwurf Großprojekte automatisch bewilligt sein sollten, wenn das Verfahren länger als ein Jahr dauert. Die Verankerung des Wirtschaftsstandortes als „Staatsziel“ in der Verfassung. Und als wäre die Empörung von Umweltschützern über diese beiden Punkte noch nicht genug, legten ÖVP und FPÖ noch nach: NGOs mit weniger als hundert Mitgliedern sollen künftig nicht mehr bei Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) mitreden dürfen.

Vor diesem Hintergrund rufen WWF, Österreicher Alpenverein und Naturfreunde Österreichs zur „Allianz für die Seele der Alpen“. Eine entsprechende Petition liegt auf Hütten und online zur Unterschrift auf (www.seele-der-alpen.at) und soll demnächst Umweltministerin Elisabeth Köstinger überreicht werden. Die Forderung dahinter: Die Einrichtung von mehr Schutzzonen und Schutzgebieten in den Alpen sowie eine echte Verbindlichkeit dieser Schutzgebiete, wenn es darum geht, Bauprojekte auszuschließen. Denn nur sieben Prozent des österreichischen Staatsgebietes, rund 5.900 Quadratkilometer, seien heute noch weitgehend naturbelassen. Alpine Freiflächen hätten also schon jetzt Seltenheitswert. Nur noch in Tirol und Vorarlberg sei ein Viertel der Landesfläche weitgehend unverbaut, in Ober- und Niederösterreich sowie der Steiermark seien gänzlich unberührte Alpenregionen kaum noch vorhanden. Vor allem bis zu mittleren Höhenlagen wird kräftig gebaut, zwei Drittel der noch freien Gebirgsflächen liegen in Felsen- und Gletschergebieten.

Aber auch jene alpinen Freiflächen, die es noch gibt, seien von Infrastrukturprojekten bedroht, warnt Hanna Simons vom WWF. Vor allem Energie- und Wintersportprojekte drängen in diese Regionen. Derzeit seien 17 Infrastrukturvorhaben – vor allem Wasserkraftwerke und Skigebietserweiterungen – in Diskussion oder schon in Planung, durch die alpine Freiräume noch weiter reduziert würden, 14 davon liegen in Tirol. Simons ortet nach Studium des türkis-blauen Regierungsprogramms einen Trend: „Wenn es um Projekte und Erleichterungen für die Wirtschaft geht, ist das Koalitionsprogramm sehr konkret. Wenn es um Umwelt- und Klimaschutz geht, bleibt es sehr vage.“

Dabei sei der Erhalt solcher Freiräume gerade für die Eindämmung von Klimafolgen wichtig. Alpine Moore haben etwa eine wichtige Funktion als CO2-Speicher. Ein Anstieg der Durchschnittstemperatur von zwei Grad Celsius und mehr lässt nicht nur Gletscher schmelzen, was sich auf den Wasserhaushalt der gesamten Region auswirken wird, sondern erhöht auch die Gefahr von Naturkatastrophen wie Felsstürze und Hangrutschungen, mahnen die Umweltorganisationen.

Mit den steigenden Temperaturen wird auch die Schneefallgrenze nach oben rücken und damit jener Wintersport fraglich werden, für den jetzt Skigebiete zusammengelegt und noch mehr Lifte und Beschneiungsteiche gebaut werden. Winters wie sommers kommen übrigens jedes Jahr mehr als 28 Millionen Menschen nach Österreich. Sie suchen Erholung in Naturlandschaften. „In jedem Fremdenverkehrsprospekt gibt es Bilder unberührter Natur“, sagt Hanna Simons, „der Parkplatz für ein paar Hundert Autos im Tal wird nie gezeigt.“

© Infografik: Merridee Stein Löchriger Schutz für die Alpen

Die Mühen der Ebene

Günther Platter lebt mit den Bergen. Gleich in der Früh sei er eineinhalb Stunden unterwegs gewesen, erzählt der Tiroler Landeshauptmann. „Seit ich auf der Welt bin, bin ich in den Bergen unterwegs“, sagt er. Und: „Mir ist es wichtig, dass wir eine große Ausgewogenheit haben – einerseits den Naturschutz, andererseits die Erschließung von neuen Gebieten.“ In seinem Bundesland liegen nicht nur die meisten noch unverbauten Alpenflächen, es ist auch der Anteil der geschützten Bereiche hoch. 58 Prozent der naturbelassenen Flächen unterliegen allerdings keinem speziellen Schutzstatus.

Platter selbst verweist darauf, dass immerhin etwas mehr als ein Viertel der Landesfläche in Nationalparks, Landschaftsschutzgebiete, Ruhegebiete etc. fallen. Und nur vier Prozent Tirols seien Skigebiete, gar nur ein Prozent Pisten. „Wir haben einen Skigebietsplan und eines wird es nicht geben: neue Skigebiete“, sagt er. Aber: „Man muss schauen, dass schon bestehende Skigebiete auch wirtschaftlich überleben können. Daher muss die eine oder andere Verbindung zwischen Skigebieten machbar sein.“ Wenn Wirtschafts- und Naturschutzinteressen kollidieren, sei es Aufgabe der Politik, eine Entscheidung zu treffen. Das bedeutet zum Beispiel: Seilbahnverbindungen zwischen Skigebieten zu erlauben, „weil das den Autoverkehr verhindert oder reduziert“. Oder, um ein anderes Problemfeld zu nennen: „Dass man Wasserkraft als sauberste Energie zulässt, auch wenn ein Eingriff in die Natur notwendig ist, um den Energiebedarf der Bevölkerung decken zu können.“

Auch im Kaunertal, wo Bundespräsident Alexander Van der Bellen aufgewachsen ist, und wo er im Wahlkampf mit Fotografen unterwegs war, wird ein weiterer Ausbau der Wasserkraft diskutiert. Vier Wildbäche sollten durch einen 25 Kilometer langen Tunnel abgeleitet werden, um den bereits seit Jahren bestehenden Speicher in diesem Tal weiter zu füllen, kritisiert Hanna Simons vom WWF. Platter freilich bekennt sich zu größeren Kraftwerksprojekten: „Ich bin ein Gegner davon, jeden Bach oder Fluss anzuzapfen, deswegen habe ich durchaus schon Konflikte mit Gemeinden gehabt, die das wollten. Da hab ich lieber irgendwo ein größeres Kraftwerk, um die Energieautonomie zu erreichen.“ Und zur Forderung der „Allianz für die Seele der Alpen“, neue Schutzzonen zu definieren, sagt der Landeshauptmann: „Wenn neue Schutzgebiete ausgewiesen werden, dann nur im Einvernehmen mit Grundeigentümern und Gemeinden. Es wäre ein falscher Weg, von oben herab Entscheidungen zu treffen.“

Natur als soziale Frage

Im Büro von Andreas Schieder im Parlamentsklub hängt ein großes Foto des Schiederweihers. Mit dem k. u. k Hofbaumeister, der diesen Anfang des 20. Jahrhunderts anlegen ließ, hat der SPÖ-Spitzenkandidat bei der EU-Wahl und Vorsitzende der Naturfreunde Österreichs zwar nichts zu tun, wohl aber mit der Region rund um das Gewässer. „Vor einigen Jahren hat man geglaubt, hier am Warscheneck mit einem Monsterprojekt den Klimawandel aufhalten und ein großes Skigebiet etablieren zu können. Riesige Parkplätze hätten die Landschaft zerstört, ein Tunnel wäre durch den Berg gebohrt worden. Verrückt!“ Auch damals sind NGOs, Naturfreunde, Alpenverein etc. gemeinsam dagegen aufgetreten. Letztlich wurde das Projekt gestoppt.

„Österreich ist touristisch bereits gut erschlossen, aber wir haben auch Nationalparks und Schutzzonen erkämpft. Unter Schutz gestellte Natur ist ein Wert an sich, aber auch volkswirtschaftlich wichtig. Ein Drittel unseres BIP kommt aus dem Tourismus, gerade weil unsere Berge einzigartige Naturlandschaften sind, die Seen Trinkwasserqualität haben und nicht jedes Ufer verbaut ist“, sagt Schieder. Dennoch ortet der SPÖ-Politiker immer noch Lücken. „Es gibt Regionen, die zu den bestehenden Nationalparks und Schutzgebieten dazugehören würden, und es gibt neue Begehrlichkeiten wie den Entwurf für ein Standortgesetz, bei dem schutzwürdige Interessen unter den Tisch fallen.“

Natürlich habe auch die SPÖ ihre Geschichte des Unverständnisses für Naturschutzanliegen, räumt Schieder ein. Als es um die Donauauen bei Hainburg ging, seien sein Vater, der SPÖ-Zentralsekretär Peter Schieder, und er nicht auf derselben Seite gestanden. „Doch heute läuft die Trennlinie nicht mehr zwischen Gewerkschaft und Umweltschutz, sondern zwischen Profitgier und Umweltschutz. Da ist es für die Sozialdemokratie klar, auf welcher Seite man stehen muss. Intakte Natur als Erholungsraum für alle ist eine zutiefst soziale Frage. Die Reichen haben in Wälder und Jagdhütten investiert, doch Natur muss auch für den kleinen Mann und die kleine Frau erhalten werden.“

Auch Andreas Schieder wandert gerne, aber, so beteuert er, ohne Publikum. Er mache sich mit den Naturfreunden auf den Weg und politisiere beim Hüttenabend mit der Parteijugend. „Das sind keine Messiasausflüge wie beim Kanzler. Ich treffe vielleicht zehn, zwanzig Leute vor Ort, die mich anreden. Bei einer Wanderung kann man viel besser in die Stimmung des Landes hineinspüren, als wenn man am Hauptplatz ein Bürgerforum macht.“ Und, so sagen alle befragten Politiker: Bloß fürs Foto wandern, geht gar nicht. Authentisch müsse es sein.

Symbolpolitik

„Wenn jemand sonst nie in den Bergen ist, passt es nicht, wirkt nicht glaubwürdig. Und Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind die zwei wichtigsten Währungen in der politischen Kommunikation“, sagt Strategieberater Lothar Lockl, der zuletzt den Wahlkampf von Alexander Van der Bellen orchestriert hat. Warum es Politiker in die Berge zieht? „Sie sind für die Politik als Symbol sehr verführerisch. Sie stehen für Österreich, Ursprünglichkeit, Weitblick, sie stehen für Nahbarkeit, weil es am Berg keine Hierarchien gibt, und Kameradschaft, weil man mit Freunden hinaufgeht und auf der Hütte sitzt. Man kann mit diesem Bild die Distanz zum Wähler abbauen.“ Und auch wichtig: „Man zeigt Fitness.“

Gerät man als Politiker in Konflikt mit dem Naturschutz, kann man sich eine Weile durchschummeln. Denn die meisten Menschen haben eine positive Assoziation bei Bergbildern und sind als Urlauber und Skifahrer selbst Profiteure von neuen Sesselliften oder sind als Anrainer selbst Nutznießer eines Kraftwerkes anstatt Strom zu sparen. „Andererseits sind die Berge auch ein Lebensumfeld, das wir alle kennen, und nicht so abstrakt wie etwa das Thema CO2-Zertifikatshandel“, erklärt Lockl. Rund um die Alpen kann also eine Stimmung hochkommen, „die alle verstehen und nicht nur ein paar Anwälte. Und dann kann ein Politiker in die Schieflage geraten: Er inszeniert sich zwar in den Bergen, tritt aber die Natur mit Füßen.“

Daniel Kapp, Politikberater mit ÖVP-Vergangenheit, sieht das weniger kritisch: „Wandernde Politiker sprechen die Symbolik des Gipfelstürmers an, einen Zusammenhang zur Genehmigung von Großprojekten sehe ich da nicht. Die sind ein Kollateralaspekt.“ Der Mensch müsse sich eben „mit der Tatsache abfinden, dass er den Lebensraum nützt. Eine Natur ohne Mensch ist unvorstellbar.“

Doch nimmt sich der Mensch jetzt schon sehr viel von dieser Natur. Pro Tag wird in Österreich die Fläche von 21 Fußballfeldern verbaut.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 42 2018