Olaf Scholz - Der (Wahl-)Kämpfer

In wenigen Wochen von der Lachnummer zum Favoriten: Gut möglich, dass SPD-Finanzminister Olaf Scholz die nächste Regierung in Deutschland anführen wird. Wie gelang ihm diese Aufholjagd - und kann der 63-Jährige Kanzlerin?

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Politik - Olaf Scholz - Der (Wahl-)Kämpfer

Vielleicht liegt es auch einfach am Eis, dass der Marktplatz in Worms so gut gefüllt ist. Hier, im Eiscafé Vannini, gibt es das beste Schokoladeeis der Stadt, Adami am Obermarkt hat die beste Pistazie. Also schlecken viele Menschen Gefrorenes, während sie den Wahlkampfauftritt von Olaf Scholz verfolgen. Oder verfolgen den Wahlkampfauftritt von Olaf Scholz, während sie ein Eis schlecken? Schwer zu sagen. Die Stimmung ist gut, aber nicht enthusiastisch. Ein Ordner im roten SPD-Poloshirt erzählt, dass er froh ist, dass es mit der Partei jetzt endlich wieder bergauf geht. Und der Kandidat? "Ach, wissen Sie, die Norddeutschen muss man ziemlich kitzeln, dass sie lachen. Aber das ist halt so. Scholz ist offen und ehrlich und hat in der Coronakrise viel getan."

Es ist der 11. September 2021 und der ernsthafte Herr Scholz, der Aber-Kandidat, den jeder sehr vertrauenswürdig, aber niemand so richtig prickelnd findet, gilt als Favorit für die Bundestagswahl am 26. September. Ein Szenario, das noch vor zwei Monaten Lachkrämpfe hervorgerufen hätte, vor allem in den Parteizentralen der Mitbewerber. Das Rennen werde zwischen CDU-Mann Armin Laschet und der grünen Annalena Baerbock verlaufen, daran zweifelte wirklich niemand. Scholz, dem die "New York Times" kürzlich attestierte, langweiliger als kochendes Wasser zu sein, war dabei bestenfalls eine Statistenrolle zugedacht.

Bis Anfang August erreichte die SPD in Umfragen tatsächlich zuverlässig 15 Prozent. Immer und immer wieder, jahrelang: im Schnitt 15 Prozent. Dann begann sie nach oben zu klettern, im selben Ausmaß, in dem die Konkurrenz abstürzte. Am 24. August überholte sie laut Forsa-Umfrage knapp, aber doch die Union aus CDU und CSU. Jüngste Umfragen sehen die SPD bei circa 25, die Union bei 20 bis 23 Prozent.

Was ist da passiert? Es ist eine Geschichte von Fleiß, Beharrlichkeit und guten Nerven. Von guter Vorbereitung und strauchelnden Gegnern. Eines ist sie nicht: eine große Liebesgeschichte. Zurück zum Marktplatz in Worms. Eine Dame, Ende 50, hat vor Jahrzehnten Willy Brandt wahlkämpfen gesehen, jetzt ist sie auf Scholz neugierig. Gewählt hat sie schon per Briefwahl, erzählt sie, aus Vernunftgründen SPD, wie seit 40 Jahren, obwohl sie im Herzen eine Grüne ist. Wie Scholz in ihrem Umfeld ankommt?"Nicht schlecht", sagt sie diplomatisch. "Aber auch nicht von Anfang an."

Ein Jahr Wahlkampf

Als Olaf Scholz im August 2020 als Kanzlerkandidat der SPD präsentiert wird, hat er eine krachende Niederlage hinter sich. Der Finanzminister, Vertreter des konservativen Lagers in der Partei, war bei der Wahl des Parteivorsitzes dem dezidiert linken Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans unterlegen. Aber Scholz, der berüchtigte "Scholzomat", lässt sich nicht so leicht aus der Bahn bringen. Trotz aller Unstimmigkeiten mit der Parteispitze wird er frühzeitig als Kanzlerkandidat nominiert, es gelingt ihm, für Einigkeit zu sorgen. Eine Situation, von der er heute extrem profitiert, analysiert die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele, Professorin an der Hertie School in Berlin. "Die SPD macht seit August letzten Jahres einen stringenten und durchdachten Wahlkampf. Die Union dagegen fing sehr spät mit dem Wahlkampf an, was auch daran liegt, dass der Kandidat lange Zeit nicht feststand, dass sie nicht mit ihren Themen rausgegangen sind und dass sie wohl ein Stück weit dachten, das wird schon, es wurde ja immer. Aber Wahlkämpfe machen eben einen Unterschied, vor allem, wenn die Bevölkerung so volatil ist in ihren Präferenzen."

Während Armin Laschet sich also erst gegen CSU-Bully Markus Söder durchsetzen muss - so richtig ist das bis heute nicht gelungen -, arbeitet Scholz still und effizient an seinem Kanzler-Masterplan. Die Strategie ist so einfach wie überraschend: Ausgerechnet Scholz macht einen auf Merkel. "Er führt einen Amtsinhaber-Wahlkampf," sagt Römmele, "was er ja als Vizekanzler und Finanzminister auch ein Stück weit ist."

Der neue Merkel


Frank Stauss ist Wahlkampfprofi (siehe Interview auf Seite 25). Er begann seine Karriere als Wahlkämpfer in der Clinton/Gore-Kampagne und arbeitete für Größen wie Gerhard Schröder und Klaus Wowereit. In Österreich beriet er den damaligen ÖVP-Chef Michael Spindelegger. Olaf Scholz kennt er aus dessen Hamburger Zeiten. "Viele Menschen in Deutschland merken jetzt erst, in den letzten Wochen vor der Wahl, dass sie Angela Merkel ja gar nicht mehr wählen können", analysiert Stauss. "Sie sind also gezwungen, sich neu zu orientieren, und die Frage, die sich viele stellen, lautet: Wer kann das?" Sie kämen dabei zu dem Schluss, glaubt Stauss, dass Scholz der Mann ist, er dafür sorgen kann, dass weiterhin alles seine Ordnung hat im Staate Deutschland. Es ist paradox. Allerorts ist zu hören, das Land brauche nach 16 Jahren Merkel einen Neuanfang. Und dann zieht der Mann in den Umfragen davon, der sich auf dem Cover des "SZ-Magazins" mit Merkel-Raute abbilden lässt?

Schwache Konkurrenz

Es sind nicht nur Stammwähler, die auf den Marktplatz von Worms gekommen sind, um Olaf Scholz zu sehen. Wen sie wählt, will sie nicht verraten, sagt eine Dame, die in der Früh in der Zeitung von dem Event gelesen hat und aus Neugier hergekommen ist. Nur so viel: Scholz nicht. Ihr Mann gibt sich als Laschet-Sympathisant zu erkennen. Aber so richtig überzeugend, sagen sie unisono, sei keiner der drei Kandidaten.

Mitte Juli verbreitet sich ein Video im Internet, dass CDU/CSU-Kandidat Armin Laschet in kleiner Runde herzlich lachend zeigt. Das Problem: Er wurde im hochwassergeplagten Erftstadt aufgenommen, im Vordergrund spricht Deutschlands Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über die Opfer. Ein Debakel. Schon im Juni war herausgekommen, dass Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock ihren Lebenslauf behübscht und Passagen in ihrem Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" abgeschrieben hatte. Die klare Botschaft dieser Wahlkampfpannen: Zwei überforderte Möchtegerns streben ein Amt an, für das sie nicht das Format haben.

Fade Skandale

Olaf Scholz' Skandale dagegen sind so trocken, dass niemand wirklich versteht, worum es geht. In Sachen Cum-Ex wird ihm vorgeworfen, als Hamburger Bürgermeister politischen Einfluss auf die Finanzbehörde genommen zu haben, um der alteingesessenen Warburg-Bank Steuerrückzahlungen zu ersparen. Scholz leugnet und beruft sich - Österreichs Ibiza-U-Ausschuss lässt grüßen -auf Erinnerungslücken. Zweiter Vorwurf: Die ihm als Finanzminister unterstehende Finanzaufsichtsbehörde sei nicht in der Lage gewesen, die Wirecard-Betrügereien beizeiten aufzudecken. Drittens, ganz frisch: eine Hausdurchsuchung im Finanzministerium im Zuge von Ermittlungen gegen die Anti-Geldwäsche-Einheit FIU. Scholz' Ministerium hat für die betroffenen Vorgänge die Rechtsaufsicht. Armin Laschet wirft ihm in einem Fernsehtriell vor, er habe seine Aufsichtspflicht vernachlässigt. Scholz pariert sachlich. Aus der anschließenden Zuschauerbefragung geht er wieder einmal als Gewinner hervor.

Die NDR-Satiresendung "extra 3" erklärt in einem Clip, wie "Scholzen", also Ausweichen wie Olaf Scholz, geht: Polizisten entdecken in dem Kofferraum eines Autofahrers, der im Zuge einer Routinekontrolle angehalten wurde, einen geknebelten Mann. "Wer ist der Mann in Ihrem Kofferraum?", fragt einer der Polizisten. "Daran kann ich mich nicht erinnern", sagt der Autofahrer, der das Scholzen für sich entdeckt hat. "Na ja, wer kann sich schon alles merken", erklärt der Polizist freundlich, schließt die Klappe wieder und wünscht ihm eine gute Fahrt.

Scholzen, Scholzomat, scholzig. Der Politiker aus Deutschlands Norden ist so unglamourös, dass Wortspiele hermüssen, um Berichte über ihn aufzupeppen. Den Begriff "Scholzomat" prägte "Die Zeit" während Scholz' eher unglücklichem Karrierezwischenschritt als apparatschikhafter SPD-Generalsekretär. Als "scholzig" wird, je nach Perspektive, verschmitztes oder verschlagenes Lächeln bezeichnet. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fauchte ihn kürzlich an, er solle nicht "so schlumpfig herumgrinsen". Er habe das lustig gefunden, erklärte Scholz in einem Talk mit Journalistinnen des Magazins " Brigitte". Schlümpfe seien doch "nette Leute".

Rudern und Joggen

Gegenüber "Brigitte" gibt er auch private Details preis. Er schlafe gut und wäre, wenn er könnte, eigentlich ein Langschläfer, der um neun beim Frühstück auftaucht. Seine Frau, die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst, mit der er seit Mitte der 80er-Jahre kinderlos liiert ist, habe ihn vor 20 Jahren dazu gezwungen, mehr Sport zu betreiben, seitdem rudert er, wenn möglich, und joggt mehrmals die Woche. Spannend ist anders. Aber genau das kommt ihm jetzt entgegen, meint Scholz' früherer Wahlkampfmanager Stauss. "Von den Medien wurde Scholz oft als ein bisschen langweilig und dröge, als Sparkassendirektor gebrandmarkt, aber genau das ist jetzt seine Stärke."

Während Laschet sympathisch, aber patschert und Baerbock unerfahren wirkt, behält Scholz sein Pokerface. Macht kaum Fehler. Verweist auf seine langjährige politische Erfahrung als Arbeits-und Sozialminister im Kabinett Merkel I, als Bürgermeister von Hamburg, Finanzminister, Vizekanzler. Profitiert von den Schwächen der anderen. Vielen Wählerinnen und Wählern dürfte es, in Abwandlung eines deutschen Schlagers, so gehen: Das Herz sagt Nein, der Kopf schreit Ja.

Koalitionsfragen

Kann Scholz von den drei Kandidaten am besten Kanzler?"Ja", meint der Politologe Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel, selbst SPD-Mitglied und früherer Staatssekretär in Brandenburg. Scholz stehe für einen soliden Kurs auf der finanziellen Seite, für Reformorientierung im Bereich Umbau des Staates und für Integrationsfähigkeit gegenüber Mitbewerbern und Akteuren, die nicht nur im Spektrum der Sozialdemokratie liegen. Er hätte, sagt Schroeder, "die Leadershipkompetenz, um auch eine FDP mit ins Boot zu holen oder mit den Grünen vernünftige Arrangements zu treffen. Das konnte man auch bei den Niederlagen sehen, die dieser Mann erlitten hat. Zu Beispiel beim internen Parteienwettbewerb, wo er dem Duo um Esken und Walter-Borjans unterlegen war und sich trotzdem nicht ins Bockshorn hat jagen lassen, sondern weiter an der Kooperation und seiner Strategie gebastelt hat."

Die Wahl am 26. September wird eine Zitterpartie, noch interessanter wird womöglich die Zeit danach. Denn dann stehen die schwierigen Koalitionsverhandlungen an, bei denen es, meint Politologe Schroeder, diesmal ganz besonders auf Fingerspitzengefühl ankomme. "Egal, welche Koalition gebildet wird, man wird das nicht top-down machen können, sondern braucht ein hohes Maß an Fairness und die Bereitschaft, auf die Interessen der anderen einzugehen."

Eine Fortsetzung der GroKo, der Großen Koalition, würde nach derzeitigen Umfragen keine absolute Mehrheit erreichen. Wahrscheinlich erscheint eine Dreierkoalition. Wie die genau aussehen könnte, ist allerdings unklar. Scholz-Gegner warnen, er könnte mit Grünen und Linkspartei eine Regierung bilden. Tatsächlich hat Scholz die Linken nicht explizit als Koalitionspartner ausgeschlossen. Die Politologin Andrea Römmele meint dennoch: "Ich halte Rot-Rot-Grün für relativ unrealistisch, weil die Linken einfach bundespolitisch und außenpolitisch nicht tragbar sind. Scholz agiert vorsichtig in seinen Aussagen, weil er das linke Spektrum der SPD nicht verprellen möchte."

Wahlprogramm

Noch einmal Worms. Scholz steht jetzt auf der Bühne. Weißes Hemd, Mikro in der Hand. Eine gute halbe Stunde erklärt er sein Wahlprogramm. Er will gegen Kinderarmut vorgehen, er will leistbaren Wohnraum schaffen, er ist gegen eine Erhöhung der Pensionsantrittsalters. Der Mindestlohn soll im ersten Jahr seiner Amtszeit auf zwölf Euro erhöht werden. Es brauche mehr Strom aus erneuerbarer Energie, um nach dem Kohleausstieg 2038 den enormen Strombedarf der deutschen Industrie zu decken. So gut, so trocken.

Aber der Scholzomat kann auch Gefühl. Wenn er sagt, dass er "berührt" gewesen sei, zwei Mal während seiner gut halbstündigen Rede, einmal in Zusammenhang mit der Flutkatastrophe und einmal, als er die derzeit guten Umfragewerte erwähnt, wird Scholz' Stimme kurz leise. Dann dreht er wieder auf. "Es muss überzeugt werden, jeden Tag. Die Entscheidung, die viele für sich vorbereitet haben, 'ich glaube, diesmal wähle ich SPD und Olaf Scholz', für die muss jeden Tag weiter geworben werden." "It ain't over till it's over", wie Politologin Andrea Römmele den derzeitigen Stand des Wahlkampfs beschreibt. Es ist noch nicht vorbei. Aber vieles spricht dafür, dass Scholz, der Läufer, sich seine Kondition gut eingeteilt hat.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 37/21

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