Platz für Neues

Die ÖVP kämpft, die SPÖ legt nur begrenzt zu, die impfgegnerische Liste MFG hält sich: In der österreichischen Politik sind größere Umbrüche möglich geworden.

von Kolumne - Platz für Neues © Bild: Privat

Michael Brunner kann zufrieden sein. Der Wiener Rechtsanwalt führt die impfgegnerische Liste "Menschen, Freiheit, Grundrechte" (MFG) an. Einer breiteren Öffentlichkeit mag er kein Begriff sein, MFG hält sich jedoch hartnäckig. Den 17,1 Prozent bei der Gemeinderatswahl Ende Jänner in Waidhofen an der Ybbs folgten im Frühjahr beachtliche Ergebnisse bei Ärztekammerwahlen, sechs von 90 Mandaten in Wien etwa oder ein Stimmenanteil von knapp zehn Prozent in Niederösterreich. Das ist umso bemerkenswerter, als Corona seit geraumer Zeit kein großes Thema mehr ist. In den Schlagzeilen sind der Ukraine-Krieg und alles, was damit einhergeht. Gefühlt niemand redet heute noch von der Impfpflicht. Ende Mai soll eine Expertenkommission eine Empfehlung dazu abgeben. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) hat aber schon wissen lassen, was sie sich erwartet: Alles soll bleiben, wie es ist. Mit der Impfpflicht soll nicht Ernst gemacht werden.

Wenn am kommenden Sonntag gewählt werden würde, könnte MFG noch immer mit rund fünf Prozent und damit dem Einzug in den Nationalrat rechnen. Das ist ein Hinweis: Mehr und mehr erhärtet sich die These, dass Brunner und Co. nicht allein vom Unmut über Coronamaßnahmen leben. Sie bilden keine Blase, die bei erster Gelegenheit platzt. Sie erfahren Zuspruch als Anti-Establishment-Bewegung, als die sie sich gerne geben. Sie profitieren offenbar auch von einer verbreiteten Unzufriedenheit mit dem politische System.

Große Überraschungen

Natürlich: Schaut man sich die Entwicklung der Mehrheitsverhältnisse in den vergangenen Jahren an, stellt man fest, dass sie schon lange nicht mehr stabil sind. Derzeit sind sie jedoch besonders instabil, wären im Falle eines Urnenganges ein paar Überraschungen möglich. Wie etwa bei der Nationalratswahl 2013, als Neos und Team Stronach den Sprung ins Hohe Haus schafften. Oder wie bei der Bundespräsidentenwahl 2016: In der ersten Runde brachten es die Kandidaten von SPÖ und ÖVP, Rudolf Hundstorfer und Andreas Khol, auf jeweils nur rund elf Prozent. Seither weiß man, wie tief Großparteien fallen können. Und das ist noch nicht alles: Schlussendlich setzte sich damals Alexander Van der Bellen durch - der ehemalige Sprecher der Grünen, einer Kleinpartei.

Im selben Jahr führten Sebastian Kurz (ÖVP), die unabhängige Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss und Neos-Chef Matthias Strolz denn auch Gespräche über etwas ganz Neues: Sie spürten, dass auch bei einer Nationalratswahl etwas zu Ende gehen könnte. In der Annahme, dass die Zeit dafür gekommen war, redeten sie darüber, eine Bewegung zu gründen und gemeinsam anzutreten. Als Vorbild diente Emmanuel Macron mit seiner Partei "La République en Marche!" in Frankreich. Sie war eine Antwort auf den Niedergang von Konservativen und Sozialisten ebendort und diente Macron als Plattform, die ihm 2017 ins Präsidentenamt verhalf.

Die Sebastian-Kurz-Jahre seither lassen vergessen, wie nahe Österreich einer solchen Zäsur schon einmal war. Aus der neuen Bewegung wurde nichts. Für die Zwecke des späteren Kanzlers und ÖVP-Chefs war sie letztlich überflüssig: Zum einen durfte er ohnehin die Volkspartei übernehmen, erhielt er von den Landeshauptleuten die Vollmacht, zu schalten und zu walten, wie es ihm gefällt. Zum anderen musste er hier die Führung nicht teilen, sondern konnte mit bedingungslos loyalen Mitstreiterinnen wie Elisabeth Köstinger eine türkise Bewegung inszenieren, der bewährte ÖVP-Kampagnenkraft vom Boden- bis zum Neusiedlersee zur Verfügung stand.

Schadensbegrenzung

Heute steht Österreich wieder am Rande eines Umbruchs. Hauptaufgabe von Kurz-Nachfolger Karl Nehammer ist es nicht, eine Fortsetzung bisheriger Wahlerfolge zu ermöglichen, sondern sich um Schadensbegrenzung zu bemühen. Gegenüber Mai 2020 ist die Partei im Durchschnitt der Umfragewerte von 44 auf 24 Prozent abgestürzt. Auf diesem Niveau kann sie sich seit geraumer Zeit lediglich halten, zumal Nehammer bisher nichts eingefallen ist, was sie wieder attraktiver erscheinen lassen könnte. Wie auch? Korruptionsaffären, Pandemie und Ukraine-Krieg lassen kaum Luft, von der Reaktion in die Aktion überzugehen und ein attraktives Angebot für die Wählerinnen und Wähler zu entwickeln. Erst durch die Forderung, Gewinne bei Energiekonzernen abzuschöpfen, hat er begonnen, Akzente zu setzen. Durch die Regierungsumbildung hat sich sein Spielraum vergrößert.

Der Bedarf, sich zu behaupten, bleibt allerdings auch nach fünf Monaten im Amt groß für Karl Nehammer: Dass die "Kronen Zeitung" eine Woche vor dem ÖVP-Bundesparteitag an diesem Samstag in Graz ein dreiseitiges Interview mit Sebastian Kurz abdruckt und das Blatt damit aufmacht, dass er eine Rückkehr in die Politik wirklich ausschließe, spricht Bände: Es gibt noch immer Leute, die auf ihn setzen.

»Die immer wiederkehrende Sehnsucht nach Kurz und Kern bringt zum Ausdruck, dass es besser laufen könnte, ja müsste für die Großparteien«

Für die ÖVP sind die Aussichten katastrophal: Sie muss ums Kanzleramt zittern, und eine Regierungsbeteiligung geht sich realistischerweise nur mit der SPÖ aus. Das ist die Partei, die Kurz in der Bedeutungslosigkeit versenken wollte. Soll heißen: Eine solche Koalition wäre keine Liebesehe, zuerst müssten auf beiden Seiten Wunden geleckt werden.

Umgekehrt hat die SPÖ keine Ambition: Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner hat sich zur Kanzlerkandidatin für eine Wahl irgendwann ernannt, setzt jedoch allein darauf, dass die Schwarz-Türkisen bei diesem Urnengang so stark verlieren, dass es automatisch zum Wechsel kommt. Rendi-Wagner verzichtet sogar darauf, Forderungen zu erheben, die Debatten und damit auch Widersprüche auslösen könnten. Was peinlich werden kann: Nehammers Idee, bei Verbund und anderen Gesellschaften Gewinne abzuschöpfen, die allein auf die extreme Teuerungswelle zurückzuführen sind, hätte "eigentlich aus der SPÖ kommen" müssen, stellte "Der Standard" fest. Zwischen den Zeilen heißt das, dass sich die Partei nicht einmal mehr bei ihren eigenen Themen hervortun mag.

Sehnsucht nach dem Ex-Chef

"Der Standard" war es auch, der ein großes Interview mit Rendi-Wagners Vorgänger Christian Kern brachte. Der 56-Jährige sprach darin so deutlich von einem "Zeitenbruch" in Anbetracht des Krieges und analysierte die Energiekrise so scharf, dass er zwangsläufig - wie Kurz in der "Krone" - die Frage beantworten musste, ob es ihn nicht jucke, in die Politik zurückzukehren: "Ich bin ausgelastet. Ich habe einen Hund, ich mache sechsmal die Woche Sport. Es ist ein gutes Leben", erklärte er, ohne Nein zu sagen.

Christian Kern hat als SPÖ-Chef 2016/2017 versucht, etwas Neues zu machen. Dokumentiert hat er das in einem 146 Seiten dicken "Plan A". Mit Forderungen wie jener, einen gesetzlich garantierten Mindestlohn einzuführen, holte er sich jedoch eine Abfuhr - bei Gewerkschaftern aus den eigenen Reihen, die um ihre Kollektivvertragshoheit fürchteten. Das war Kerns Erfahrung, dass es schwer ist, bestehende Strukturen aufzubrechen und moderne Politik zu machen.

Die immer wiederkehrende Sehnsucht nach dem Ex-Chef bei Roten wie Schwarz-Türkisen lässt tief blicken: Sie bringt ein Unbehagen über das Gegenwärtige zum Ausdruck, ein Gefühl, dass es besser laufen könnte, ja müsste. Gerade in turbulenten Krisenzeiten ist das insofern brisanter, als die Verhältnisse hier schneller kippen können, als ruckzuck Platz für Neues entsteht. Bei Corona musste sogar FPÖ-Chef Herbert Kickl diese Erfahrung machen. Trotz all seiner Bemühungen, bei Demonstrationen aufzufallen und Maßnahmengegner zu umwerben, gelang es ihm nicht, das Aufkommen der MFG zu verhindern.

Infolge des Ukraine-Kriegs ist längst die nächste Krise angebrochen. Ihre Entwicklung ist für eine ÖVP, die noch mit sich selbst beschäftigt ist, genauso gefährlich wie für eine SPÖ, die nichts riskieren möchte. Sie, die zusammen einst über 90 Prozent der Stimmen hielten und heute nur knapp eine absolute Mehrheit erreichen, schaffen so unfreiwillig, aber doch Entfaltungsmöglichkeiten für andere Parteien, Listen und Bewegungen.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at