Michael Ludwig: "Die Pandemie ist prinzipiell schon Bundessache"

Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig rechnet mit der Coronapolitik der Bundesregierung ab. Und: In Sachen Lobautunnel will er hart bleiben

von Politik - Michael Ludwig: "Die Pandemie ist prinzipiell schon Bundessache" © Bild: Ricardo Herrgott/News

News: In Wien füllen sich die Intensivstationen mit Coronapatienten. Bundesregierung und Länder tüfteln an Maßnahmen gegen die vierte Welle. Warum erst jetzt?
Michael Ludwig:
Das ist eine gute Frage. Ich jedenfalls habe schon vor der Sommerpause darauf hingewiesen, dass der Herbst schwierig wird und wir in Wien bei einer sicheren Linie bleiben. Das war leider österreichweit nicht möglich, weil die Bundesregierung das anders eingeschätzt hat. Meiner Meinung nach ist es besser, wenn man die Bevölkerung durchgehend an strengere Maßnahmen gewöhnt, damit nicht im Herbst schwerwiegende Eingriffe nötig sind. Ich kann der Bundesregierung den Vorwurf nicht ersparen, dass sie in einer Situation, die vorhersehbar war, nicht gehandelt hat. Aber wenn es eine Partei gibt, die glaubt, frische Luft und Vitamine helfen gegen das Virus, und eine andere, die über den Sommer plakatiert "Die Pandemie ist gemeistert", darf man sich nicht wundern, dass Österreich im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern beim Impfen den letzten Platz belegt.

Diese Plakate der ÖVP und die Message, die Pandemie sei beendet, haben beim Impfen gebremst?
Damit wurden Impfgegner gestärkt und jene, die die Realität unterschätzen. Beides ist schlecht und führt dazu, dass wir eine Impfquote haben, die nicht ausreicht, um strengere Maßnahmen zu verhindern. Ich hoffe sehr, dass die Gespräche mit der Bundesregierung nun in die richtige Richtung führen. Ich bin allerdings skeptisch, dass vor der oberösterreichischen Landtagswahl wirklich etwas Gravierendes passiert. Das ist bedauerlich, weil wir das später mit umso tiefgreifenderen Maßnahmen aufholen werden müssen.

Es geht also wirklich darum, dass die ÖVP in Oberösterreich keine Stimmen an die FPÖ verlieren soll?
Anders kann man es nicht erklären, warum die Bundesregierung nicht nur die Sommermonate, sondern auch den Herbst verstreichen lässt. Wenn die Zahl der Infizierten zu hoch wird, bedarf es einer mehrwöchigen Phase der Einschränkungen, bis man zu einer stabileren Situation kommt. Ich bin vor dem Sommer von politischen Mitbewerbern und Medien sehr kritisiert worden, dass wir eine konsequente Teststrategie und die Maskenpflicht in den Geschäften aufrechterhalten haben. Aber wenn man in einer politischen Führungsfunktion ist, muss man auch unpopuläre Maßnahmen setzen, wenn es im Sinne der Bevölkerung ist.

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Der Bundeskanzler hat Corona zur Privatsache erklärt. Wer sich nicht impfen lässt, muss mit der Gefahr bzw. mit Einschränkungen leben.
Ich bin absolut nicht dieser Meinung. Corona ist kein individuelles Problem, sondern eines der gesamten Bevölkerung, des Wirtschaftsstandorts, des Arbeitsmarkts und des Bildungssystems. Denn das Virus verbreitet sich nicht nur einfach im Kreis der Nichtgeimpften, es mutiert weiter und findet zu radikaleren Formen. Das ist ein Problem von uns allen. Es ist ein gesellschaftspolitisches Thema, das politische Antworten erfordert.

Virologen sagen, das Virus wird durch die nicht geimpfte Bevölkerung "durchrauschen". Vielleicht ist nicht allen klar, was das bedeutet.
Alle, die nicht geimpft sind, werden sich anstecken. Die allermeisten werden milde Verläufe haben. Es wird aber auch viele Menschen geben, die ins Spital kommen, manche davon auf die Intensivstation. Was manche übersehen, ist, dass es mit Long Covid auch Erkrankungen gibt, die über einen langen Zeitraum - vielleicht sogar ein Leben lang -schwere Auswirkungen haben. Ich kenne Personen, die schwere Atembeschwerden haben oder Geruchs-und Geschmackssinn verloren haben. Man kann nicht abschätzen, ob sie jemals wiederhergestellt sein werden. Das ist meine Sorge bei den Kindern. Manche sagen: "Na ja, wie viele Kinder sind überhaupt auf der Intensivstation?" Man kann nur schwer abschätzen, wie viele Kinder Langzeitfolgen haben werden. Daher hat man die Verpflichtung, für alle Generationen die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen.

Sie kritisieren die Bundesregierung für Versäumnisse. Haben nicht auch manche Ihrer Kollegen in den Bundesländern die Dinge schleifen lassen, um die Stimmung im Sommertourismus nicht zu trüben?
Die Pandemie ist prinzipiell schon Bundessache. Die Landeshauptleute, die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister waren in der Krise kooperative Partner. Wenn man sich nur auf die Bundesregierung verlassen hätte, wäre von der Testinfrastruktur bis zur Impfkampagne vieles nichts umgesetzt worden. Immer dann, wenn es positive Meldungen zu verlautbaren gibt, stehen die Mitglieder der Bundesregierung alleine in den Pressekonferenzen. Ich bin bekannt dafür, schwierige Situationen gemeinsam zu meistern. Dazu muss die Regierung aber mit jenen kommunizieren, die das umzusetzen haben.

In manchen Ländern sind die Testquoten minimal.
Wir haben in Wien die Situation besonders ernst genommen und mit Expertinnen und Experten sowie privaten Unternehmen den Gurgeltest entwickelt. Dadurch wurde es überhaupt erst möglich, dass sich viele Menschen, die beim Nasen-oder Rachenabstrich skeptisch waren, testen lassen. Diese PCR-Tests sind genauer, und wir haben durch die Sequenzierungen einen genaueren Überblick über Mutationen. Wir haben diese international anerkannte Testinfrastruktur auch anderen Bundesländern angeboten, und es wird unterschiedliche Gründe geben, warum es von diesen nicht realisiert worden ist. Wir waren jedenfalls sehr kooperativ.

Derzeit wird über eine 1-G-Regel diskutiert, also Zutritt etwa in die Nachtgastronomie nur für Geimpfte. Beim Donauinselfest gilt sogar, dass Besucher geimpft und zusätzlich getestet sein müssen. Ist das ein Probelauf für den Herbst?
Ich treffe in Wien die Entscheidungen immer gemeinsam mit Expertinnen und Experten. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung das auch in diesem Ausmaß tun und einheitliche Regelungen vorschlagen würde. Österreich ist ein kleines Land. Unterschiedliche Maßnahmen in Regionen sollte es nur geben, wenn Zahlen steigen. Als wir im Sommer strengere Maßnahmen gesetzt haben, wurde das kritisiert und gesagt: "Dann konsumieren wir in Niederösterreich und verbringen dort unsere Freizeit." Also, das hat relativ wenig Sinn.

»Ich kann der Regierung den Vorwurf nicht ersparen, dass sie in einer Situation, die vorhersehbar war, nicht gehandelt hat«

Sie sind, anders als Ihre Kollegen in den Ländern, kein Verfechter kostenpflichtiger Coronatests. Warum?
Ich halte das Testen für sinnvoll, weil auch Geimpfte in geringem Ausmaß das Virus weitergeben können. Man behält den Überblick über Mutationen. Zudem denke ich, dass es schwierig wäre, jene, die sich nicht impfen lassen wollen, für das Testen zu gewinnen, wenn es etwas kostet. Wir würden damit 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung völlig verlieren.

Mit kostenpflichtigen Tests wollen manche Druck auf Ungeimpfte machen.
Ich schätze, man kann derzeit noch rund 15 Prozent der Bevölkerung zum Impfen bringe. Dazu wäre eine sinnvolle und auch inhaltlich gut aufbereitete Impfkampagne des Bundes notwendig, die ich allerdings nicht sehe. Aber einen Teil wird man auch mit Kampagnen nicht erreichen. Meiner Einschätzung nach sind das 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Die muss man in irgendeiner Form weiter begleiten und auch testen.

Was haben die letzten eineinhalb Jahre mit Ihnen persönlich gemacht? Beim ersten Lockdown waren Sie skeptisch, dann waren Sie strenger als der Rest von Österreich. Gab es einen Punkt, wo Ihre Stimmung gekippt ist? Schlaflose Nächte?
Wenn man die Situation von schwer erkrankten Menschenanschaut oder mit Familienmitgliedern spricht, die ihre Liebsten durch Corona verloren haben, spürt man starke Verantwortung, Gesundheit und Menschenleben zu retten. Das war sicher ein Grund, warum wir eine konsequentere Linie verfolgt haben. Dazukommt ja noch der wirtschaftliche Schaden, die Situation am Arbeitsmarkt und in den Schulen. Wenn man bedenkt, wie viele junge Menschen unter der Situation leiden, muss man alles daransetzen, sie in den Griff zu bekommen.

Hatten Sie in den letzten Wellen auch Angst, die Kontrolle zu verlieren?
Als sich die Spitäler gefüllt haben, hatte ich schon das Gefühl, das wird ganz schwer abzubremsen sein. Da hat man die Sorge, dass das außer Kontrolle gerät. Das ist eine Situation, die ich nicht wieder erleben möchte. Aber ich bin stolz darauf, Bürgermeister einer Stadt mit einem sehr gut funktionierenden Gesundheitssystem zu sein. Man kann den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort nicht oft genug danken. Die haben rund um die Uhr gearbeitet, auf Urlaub verzichtet, sind zu keiner Ruhepause gekommen. Mehr Intensivkapazitäten herzustellen, ist ja keine Frage der Betten oder der technischen Ausstattung, sondern eine der Pflegekräfte, die eine mehrjährige, sehr intensive Ausbildung haben. Diese Menschen haben viel auf sich genommen. Daher finde ich es fahrlässig, wenn manche politische Gruppierungen das unterschätzen und kleinreden.

»Man wird Projekte nicht davon abhängig machen, ob es den Grünen gelingt, zwölf, 13-jährige Kinder dorthin zu bringen«

Besteht die Gefahr, dass man diese Pflegekräfte verliert, weil sie erschöpft sind und den Beruf wechseln?
Diese Gefahr sehe ich. Daher darf man nicht leichtfertig wieder eine Situation herbeiführen, in der das medizinische und pflegerische Personal unter Druck kommt. Wir bemühen uns jedenfalls in Wien, die Ausbildung neuer Pflegekräfte zu unterstützen. Wir zahlen zum Beispiel zusätzlich 400 Euro monatlich in der Ausbildungszeit.

Ein anderes Thema: Lobautunnel und Stadtstraße. Derzeit besetzen Klimaschützer zwei Baustellen dort. Es ist von einem zweiten Hainburg die Rede.
Diese Aktion orientiert sich an einer romantischen oder nostalgischen Erinnerung an die Gründungsphase der Grünen und hat heute keine inhaltliche Begründung. Die Stadtstraße ist notwendig, um Tausende zusätzliche Wohnungen zu bauen. Jetzt kann man sagen: "Wozu braucht man Wohnungen?" Ich kenne viele junge Menschen, die eine Wohnung für den Start in einen neuen Lebensabschnitt suchen. Die Alternative wäre, dass die Wohnungen und Arbeitsplätze im Umfeld von Wien entstehen würden, mit sicherlich größeren CO2-Emissionen und mehr versiegelten Grünflächen.

Sie meinen, das Protestcamp hat keine Berechtigung?
Das ist eine politisch motivierte Bewegung für die grüne Partei. Ich halte es für einen schweren Fehler, wenn man Urbanisierung verhindert, weil nur sie CO2-Emissionen und Bodenversiegelung bremst. Die Wiener Bevölkerung hat pro Kopf nur halb so hohe CO2-Emissionen wie der österreichische Durchschnitt, weil wir den öffentlichen Verkehr ausbauen. In Wien sind pro Kopf nur 58 Quadratmeter Boden versiegelt, im Österreichschnitt sind es 168. Den Demonstrierenden muss klar sein, was die Alternative ist: Es wird nicht weniger, sondern mehr CO2 sein und mehr versiegelte Flächen, wenn wir die Straße nicht bauen.

Das teilen die meisten Klimaexperten nicht.
Das stimmt überhaupt nicht. Wir führen hier aber keine Podiumsdiskussionen, sondern rechtliche Verfahren wie Umweltverträglichkeitsprüfun gen, Naturschutz-und Wasserrechtsverfahren, wo Dutzende Expertinnen und Experten eingebunden sind. Im Übrigen: Die letzten zehn Jahre wurde in Wien das Verkehrs-und Planungsressort von den Grünen geführt. So eine Überraschung können diese Projekte daher für sie nicht sein.

Und wie geht es jetzt weiter? Demo auflösen, aussitzen?
In einem Rechtsstaat werden wir kaum dazu übergehen können, dass 100 Demonstrantinnen und Demonstranten Projekte verhindern, die rechtskonform abgewickelt wurden. Mir ist ja unverständlich, warum die Klimaministerin hier noch eine zusätzliche Evaluierung möchte, wo man nicht einmal weiß, wer da die Experten sein sollen. Manche dieser Asfinag-Evaluierungen gehen ja ganz schnell, wie jene für die S 10 in Oberösterreich. Die wurde schwuppdiwupp vor den Landtagswahlen freigegeben. Also gibt es offensichtlich auch vor dem Klimahintergrund gute Straßen und schlechte Straßen. Ich finde es ja richtig, dass man die S 1o baut, um die Bevölkerung dort vom Durchzugsverkehr zu entlasten. Aber auch die Wiener Bevölkerung verdient es, vom internationalen Durchzugsverkehr, der durch die Stadt geführt wird, entlastet zu werden.

Weichen Sie gerade der Frage aus, was mit dem Camp passieren soll?
Man wird Großprojekte nicht davon abhängig machen, ob es den Grünen gelingt, zwölf-, 13-jährige Kinder dorthin zu bringen. Ich habe sogar gelesen, dass eine Mutter nicht nur ihr Kind, sondern auch die Journalisten mit dem Auto dort hinbringt. Wenn man Projekte immer gleich stoppt, weil ein paar Leute dort herumsitzen und demonstrieren, kann man sich einen demokratischen Entscheidungsprozess gleich sparen. Der Lobautunnel ist ein Bundesstraßenprojekt, das im Nationalrat beschlossen wurde und das die Asfinag umzusetzen hat.

»Die Babyboomer-Generation geht in Pension, es wird eine starke Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften geben«

Sie haben sich in den letzten Wochen für die Aufnahme von Menschen aus Afghanistan ausgesprochen, die von den Taliban bedroht werden. Dass ÖVP und FPÖ da strikt dagegen sind, weiß man. Aber sind eigentlich alle in der SPÖ dafür?
Ich habe vorgeschlagen, dass man gezielt Frauen und Mädchen, die durch das Taliban-Regime gefährdet sind, aufnimmt. Also Richterinnen, Journalistinnen oder Frauen, die sich für eine Schulausbildung für Mädchen eingesetzt haben. Solche Resettlement-Programme gab es sogar im Programm der türkis-blauen Regierung. Ich verstehe nicht ganz, warum das in einer Regierung mit den Grünen nicht möglich sein sollte. Es geht ja nicht darum, wie das propagandistisch verlautbart wird, alle nach Österreich zu holen, sondern jene, die besonders gefährdet sind, weil sie sich an westlichen demokratischen Werten orientieren. Da haben wir eine gewisse Verantwortung, und es haben ja auch mehr als 90 Staaten angeboten, da mitzuwirken.

In der SPÖ vertritt Hans Peter Doskozil eine härtere Linie.
Ich glaube, dass er die Situation deshalb anders einschätzt, weil das Burgenland eine Außengrenze hat und er beobachtet, wie viele Grenzübertritte es gibt. Wien hat keine Außengrenze. Und wir verstehen uns als weltoffene Stadt, die in einem gewissen Ausmaß bedrohten Frauen und Mädchen helfen möchte.

Der harte Kurs der Bundesregierung in Zuwanderungsfragen ist Teil einer Verteilungsdebatte, wer wie viel bekommen darf. Die Coronapandemie verschärft diese Debatte sogar noch. Wie etwa, wenn es darum geht, dass Arbeitslose "die Hand aufhalten", wie der Bundeskanzler meint.
Also der Finanzminister hat ja gemeint: "Koste es, was es wolle", insbesondere bei den finanziellen Unterstützungen für große Unternehmen. Es ist gut, dass wir Betriebe gestützt haben. Natürlich sind auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Krise betroffen. Probleme am Arbeitsmarkt löst man nicht dadurch, dass man den Druck erhöht, sondern indem man die Qualifizierung und auch die Arbeitsbedingungen sowie das Einkommen verbessert. Es wird am Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren ein Wettbewerb um die besten Köpfe einsetzen. Die Babyboomer-Generation geht in Pension und es wird eine starke Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften geben. Diese Frage müssen wir stellen: Wie können manche Branchen die Situation bei sich verbessern, um attraktiv zu bleiben?

Da ist eine Debatte über die Höhe des Arbeitslosengeldes für manche bequemer.
Richtig. Das bringt aber niemanden weiter. Insbesondere bei Langzeitarbeitslosen gibt es ja meist mehrere Gründe, warum das so ist. Da wird man noch so viel Druck aufbauen können und es wird den Betroffenen nicht helfen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr.36/21

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