Martin Kocher: "Prognosen sind jetzt noch viel schwieriger"

Arbeitsminister Martin Kocher über die Probleme am Arbeitsmarkt, die Zukunft der Kurzarbeit, Systemerhalter während der Pandemie und warum er bei der SPÖ-Forderung nach Vermittlung besser bezahlter Jobs durch das AMS keinen Handlungsbedarf sieht

von Politik - Martin Kocher: "Prognosen sind jetzt noch viel schwieriger" © Bild: Ricardo Herrgott/News

News: Herr Minister, die Arbeitsmarktzahlen zeigen wieder nach oben. Ist Entwarnung angesagt?
Martin Kocher:
Wir haben am Arbeitsmarkt tatsächlich eine fast atemberaubende Dynamik seit den Öffnungsschritten im Mai und Juni erlebt. Bei der Arbeitslosenquote sind wir nicht mehr sehr weit von der 2019 entfernt -nämlich 6,7 Prozent im Juli 2021 im Vergleich zu 6,5 Prozent im Juli 2019. Das sind ungefähr 10.900 mehr arbeitslose Personen als damals. Natürlich befinden sich noch Menschen in Kurzarbeit, aber auch da gehen die Zahlen deutlich zurück. Der Arbeitsmarkt hat sich zwar noch nicht gänzlich normalisiert, die Problematik ist aber längst nicht mehr so groß wie zu Jahresbeginn.

Wo werden die Arbeitslosenzahlen zu Jahresende stehen?
Laut Wifo und IHS werden wir dann bei 8,5 bzw. 8,4 Prozent Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt stehen, davon gehe auch ich aus. Das ist mehr als derzeit, im Herbst steigt aber traditionell die Arbeitslosenquote, und in dieser Zahl sind auch die ersten Monate des Jahres, als die Coronakrise am Höhepunkt war, enthalten. Zum Vergleich: 2019 betrug die Arbeitslosenquote im Jahresschnitt 7,4 Prozent. Wir nähern uns diesem Wert an, bis wir ihn erreichen, wird es jedoch wohl bis 2023 dauern.

Wo sehen Sie längerfristig die größten Probleme?
Die ganz große Herausforderung wird sein, Menschen mit niedrigen Qualifizierungsniveaus auf ein höheres zu bringen. Solche Menschen werden am Arbeitsmarkt zwar nachgefragt, aber es sind in dem Bereich im Verhältnis auch mehr arbeitslos. Aus meiner Sicht erfordert der Strukturwandel eine noch schnellere und bessere Qualifizierungsstrategie auf allen Ebenen - von der Schule bis hin zu älteren Menschen. Derzeit haben wir 113.000 gemeldete offene Stellen, inklusive Lehrlingen sind es 120.000 -bei 340.000 Arbeitslosen inklusive Schulungsteilnehmern. Das ist ein Rekord -das gab es noch nie in einem Sommer. In einigen Bundesländern wie Tirol, Salzburg und Oberösterreich sind wir nahe an der Vollbeschäftigung. In Kärnten gibt es zwar eine etwas höhere Arbeitslosenquote, die absoluten Zahlen liegen aber so wie in Niederösterreich unter denen von 2019.

Die Langzeitarbeitslosigkeit ist jedoch während der Pandemie massiv gestiegen.
Ja, von rund 100.000 Menschen auf 150.000 im heurigen Frühjahr. Derzeit sind es 130.000, die bis Ende nächsten Jahres wieder auf 100.000 runterkommen sollen.

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Und wie genau?
Zum einem mittels einer Joboffensive, für die heuer und nächstes Jahr 700 Millionen Euro für Qualifizierungsmaßnahmen vorgesehen sind, die über das AMS auf Landes-und Regionalebene umgesetzt werden. Wobei es drei große Schwerpunkte gibt: bei Pflegeund Gesundheitsberufen, Digitalisierung und Technik sowie Klima und Umwelt. Zum anderen sollen Langzeitarbeitslose mit dem Programm Sprungbrett via Coaching auf die Integration in den Arbeitsmarkt vorbereitet und dann mittels Wiedereingliederungsbeihilfe beim Jobantritt subventioniert werden. Betriebe erhalten ein Jahr lang im Schnitt 50 Prozent des Lohns ersetzt, um diese Menschen nachhaltig in volle Beschäftigung zu bringen.

In der Pandemie war oft von den Held(inn)en der Arbeit die Rede, die das System am Laufen gehalten haben. Denken Sie, dass deren Leistungen von der Politik genug gewürdigt wurden?
Eine gute Frage. Ich denke, dass über viele Maßnahmen, wie etwa den 500-Euro-Bonus in der Pflege, etwas dafür unternommen wurde. Natürlich kann das, was Einzelne in der Krise geleistet haben, nie zur Gänze finanziell entgolten werden. Gerade im Gesundheitsbereich, in der Versorgung, aber auch der Forschung wurde und wird Unglaubliches geleistet.

Viele haben während der Coronakrise die Branche gewechselt, weil ihnen die Rahmenbedingungen zu schlecht oder unsicher waren -speziell im Tourismus
In Tourismus und Gastronomie gibt es einen Arbeitskräftemangel, der mehrere Gründe hat. Die Saisonniers sind kurzfristig nicht zurückgekommen, und auch die gleichzeitige Öffnung aller Betriebe war eine Sondersituation. Laut unseren Zahlen haben in den letzten zwei Jahren aber nur wenig mehr Arbeitskräfte den Tourismus verlassen als in zwei normalen Jahren. Es sind jedoch weniger hinzugekommen. Die derzeitige Situation in der Branche ist sicher schwierig, ich bin aber zuversichtlich, dass sie sich wieder einpendeln wird. Für die nächsten Saisonen werden wir uns bemühen, schneller zu vermitteln, die Branche muss aber auch attraktiv für Arbeitskräfte bleiben.

»Wichtig, dass Nachfrage und Angebot die Entlohnung bestimmen«

Gerade im Tourismus ist der Fachkräftemangel ein Dauerthema. Liegt es da nicht vor allem an den Betrieben?
Ich denke, dass es im Tourismus und in der Gastronomie sehr unterschiedliche Betriebe gibt, weshalb es schwer ist, zu generalisieren. Man weiß aber, dass gerade in Saisonbetrieben mit der hohen Belastung über einen kürzeren Zeitraum die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erschwert ist. Zudem gibt es bei diesen keine langfristige Jobsicherheit. Die Wahrnehmung, dass in der Branche allgemein schlechte Arbeitsbedingungen herrschen, ist jedenfalls falsch. Es gibt viele Unternehmen, die etwas dafür tun, aber es ist nicht ganz einfach, allein aus der Struktur der Branche heraus.

Zuletzt war auch der Arbeitskräftemangel in Bäckereien ein Thema. Da hat sich ebenfalls gezeigt, dass gute Firmen damit weniger Probleme haben, schlechte -was Arbeitszeiten oder Bezahlung betrifft - schon...
Da sind die Voraussetzungen ähnlich: Es liegt in der Natur dieser Branche, dass dort früher zu arbeiten begonnen wird. Dass das nicht für alle attraktiv ist, ist nachvollziehbar, es ist aber einfach so. Und es ist nicht so, dass in diesen Betrieben im Schnitt zu schlecht bezahlt wird. Das ist vielleicht in Einzelfällen so, aber nicht generell. Wir wissen außerdem aus vielen Untersuchungen, dass es nicht so sehr um die Bezahlung geht, sondern Arbeitsplatzsicherheit und -bedingungen sowie Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf oft entscheidender sind.

Die Unternehmen sind also sehr wohl gefordert?
Wenn sich die wirtschaftliche Lage so weiterentwickelt, ist es klar, dass es aufgrund der Demografie weniger Menschen am Arbeitsmarkt geben wird. Die Unternehmen werden sich darauf einstellen müssen, dass Arbeitskräfte in qualifizierten Bereichen knapper werden. Das ist eine Situation, die nicht neu ist, sich aber verschärfen wird. Schon jetzt gibt es etwa im Bau, Baunebengewerbe, bei Metallern, Elektrikern oder Schlossern bei Weitem mehr gemeldete offene Stellen als Arbeitslose.

Ist vor diesem Hintergrund eine mögliche Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen wirklich sinnvoll?
Klar ist, dass nach der Erholung des Arbeitsmarkts die Sanktionen bei Verstößen gegen die Regeln am Arbeitsmarkt wieder vollständig so implementiert werden wie vor der Krise. Es gab eine Zeit lang Ausnahmen, die ich auch gut fand, aber jetzt müssen die Sanktionen wieder in Kraft treten. Wenn jemand eine zumutbare Beschäftigung nicht annimmt, gibt es die vorgesehenen Konsequenzen.

Und wie sieht es aus, wenn jemand einen Job in einem anderen Bundesland nicht annimmt?
Eine Änderung der Zumutbarkeit, was Pendeln und regionale Mobilität betrifft, ist ebenfalls nicht angedacht.

Wie stehen Sie zum Mindestlohn von 1.700 Euro netto, wie er im Burgenland umgesetzt wird? Wäre das eine Denkvariante für ganz Österreich?
Wir haben uns in Österreich immer bewusst aus der Diskussion über Löhne herausgehalten, weil es dazu eine gute Arbeitsteilung zwischen Regierung und Sozialpartnern gibt. Die Regierung ist für die Grundregeln am Arbeitsmarkt zuständig, Löhne dagegen sind in der Verantwortung der Sozialpartner. Österreich und Länder wie Schweden und Dänemark haben eine sehr positive Entwicklung am Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Ländern, wo die Politik zu stark in die Lohnhöhe eingreift. Wenn die Länder für gewisse Bereiche solche Mindestlöhne festlegen, ist das in deren Autonomie, aber auf Bundesebene ist es gut, wenn die Sozialpartner darüber verhandeln. Das Gute in Österreich ist, dass 98 Prozent der Löhne durch Kollektivverträge geregelt sind.

Und was halten Sie von der jüngsten Forderung der SPÖ, dass nur noch Jobs ab 1.700 Euro brutto vermittelt werden sollen?
Mir ist es wichtig, festzuhalten, dass das AMS bereits seit Beginn des Jahres für heuer das Ziel hat, möglichst viele Vollzeitstellen über 2.000 Euro brutto anbieten zu können. Somit sehe ich hier keinen Handlungsbedarf.

Glauben Sie, dass unterschiedliche Formen der Arbeit generell fair bewertet werden? Dass akademische Berufe etwa besser bezahlt werden, scheint logisch, aber sind systemrelevante Berufe oft nicht zu schlecht bezahlt?
Es ist eine philosophische Frage, was den Wert der Arbeit letztlich bestimmt. Natürlich gibt es da immer eine gesellschaftliche Bewertung, gerade im öffentlichen und öffentlichkeitsnahen Bereich. Und es ist wichtig, dass es darüber eine Diskussion gibt, was die Wertschätzung sein sollte -beispielsweise im Pflegebereich. Da muss es eine hohe Wertschätzung geben, die sich auch in den Löhnen und Arbeitsbedingungen widerspiegelt. Aber darüber hinaus scheint es mir wichtig, dass Nachfrage und Angebot die Entlohnung bestimmen. Sonst kommen wird sehr rasch zu einem starken Eingriff der Politik, der nicht dem entspricht, was Sozialpartnerschaft in Österreich ausmacht.

Sehen Sie die Gefahr, dass die Erholung der Wirtschaft und damit die des Arbeitsmarkts durch eine neuerliche Coronawelle, eventuell verbunden mit einem neuen Lockdown, zunichtegemacht werden könnte?
Als Ökonom kann ich das nur schwer einschätzen, das muss die Medizin beantworten. Die Regierung ist jedenfalls vorbereitet, falls es eine Verschärfung geben müsste -ich hoffe jedoch, dass das nicht eintritt. Wir gehen alle davon aus, dass es im Herbst und Winter keine großen Einschränkungen geben wird müssen. Sollte es dennoch behördliche Schließungen geben, würden alle betroffenen Betriebe wieder Zugang zur Corona-Kurzarbeit haben. Für den Arbeitsmarkt wäre das jedenfalls ein Rückschritt, der nicht gut wäre.

Härtefallfonds und andere Maßnahmen würden ebenfalls schlagend werden?
Das fällt in die Zuständigkeit des Finanzministeriums. Die Maßnahmen laufen jetzt zum Teil noch bis Ende des Jahres, aber natürlich würde die Regierung auf eine Verschlechterung der gesundheitlichen Lage auch in diesen Bereichen reagieren müssen.

Wie bewerten Sie die Bilanz der Staatshilfen zur Bewältigung der Coronakrise? Waren die zum Teil zu großzügig bemessen, wie manchmal moniert wird?
Ich glaube nicht. Seriöserweise wird man das erst in zwei, drei Jahren sagen können, weil derzeit ja noch der Erholungsprozess stattfindet. Es gibt aber bereits erste Studien dazu, wonach das Gros der Hilfen richtig und gut ausgestaltet war. Dass es bei so einem riesigen Volumen von insgesamt mehr als 37 Milliarden Euro immer Bestandteile gibt, bei denen man es beim nächsten Mal vielleicht besser machen kann, ist klar. Aber gerade was die Kurzarbeit betrifft, waren sowohl die Ausgestaltung als auch das Timing mit dem Zurückfahren immer sachgerecht und problemadäquat.

»Nicht sinnvoll, Kurzarbeit länger als zwei Jahre zu führen«

Die Kurzarbeit war ja im Kontext der größte Brocken...
Ja, wir haben bis jetzt über acht Milliarden Euro ausbezahlt und zehn Milliarden zugesagt. Es fließt also noch einiges, wobei die Kurzarbeit auf Basis der Voranmeldungen budgetiert wird. Wir hatten etwa im Juni fast 300.000 Menschen zur Kurzarbeit vorangemeldet, abgerechnet sind bis jetzt aber nur 120.000. Und wir glauben auch nicht, dass es mehr als 150.000 werden. Glücklicherweise für den Finanzminister und die Steuerzahlenden.

Wie geht es mit der Kurzarbeit weiter?
Derzeit gibt es zwei Varianten: die Corona-Kurzarbeit für die Betriebe, die mehr als 50 Prozent Umsatzausfall haben und bei denen der gesamte Betrag der Kosten übernommen wird. Dies läuft bis Ende des Jahres. Und es gibt ein Modell für alle Betriebe unabhängig vom Umsatzausfall mit 15 Prozent Selbstbehalt. Dieses läuft bis Mitte nächsten Jahres und es ist schon sehr nahe an der Kurzarbeitsregelung, die es vor Corona gab. In beiden Fällen bekommen die Arbeitnehmer aber dasselbe.

Was ist mit Unternehmen, die sich noch länger in der Krise befinden werden - wie in der Luftfahrt?
Es wird weiter Kurzarbeit geben. Man wird sich aber genau ansehen, was aus betrieblicher und volkswirtschaftlicher Sicht Sinn macht. Ich glaube nicht, dass es volkswirtschaftlich betrachtet vernünftig ist, Kurzarbeit für ein Unternehmen viel länger als zwei Jahre zu führen. Aufgrund des Aufschwungs gibt es eine starke Nachfrage nach Arbeitskräften und keine Notwendigkeit, Kurzarbeit in ihrer großzügigen Form weiter beizubehalten. Entscheidend wird der Herbst sein, wie sich die Lage weiterentwickelt.

Die von der Krise besonders schwer getroffene Städtehotellerie wird sich sicher nicht so schnell erholen...
Das werden wir sehen, das ist schwer vorauszusagen. Ich habe vieles gelernt in der Krise, vor allem eines: dass Prognosen jetzt noch viel schwieriger sind als davor. Die Kurzarbeit ist immer für kurzfristige Phänomene gedacht, egal ob es sich um eine Gesundheitskrise handelt, um Restrukturierungsmaßnahmen oder um Zulieferketten, die unterbrochen sind. Aber wenn man nicht glaubt, dass das jeweilige Geschäft nach dieser Zeit wieder zurückkommt, dann macht die Kurzarbeit keinen Sinn. Da gäbe es auf Dauer subventionierte Arbeitsverhältnisse - und dafür ist die Kurzarbeit nicht da. In solchen Fällen ist die Kurzarbeit nicht das richtige Instrument, da geht es eher mehr darum, Stiftungen einzurichten oder die betroffenen Menschen schnell zu vermitteln und in Beschäftigung zu bringen.

Die Maßnahmen haben also gewirkt, aber wer wird das alles letztlich zahlen? In unserem letzten Interview - als Sie noch IHS-Chef waren - sagten Sie, Sie machen sich hinsichtlich einer zu hohen Verschuldung Österreichs -die mittlerweile fast 90 Prozent des BIPs ausmacht - keine Sorgen. Ist das noch immer so?
Ja, glücklicherweise bin ich jetzt noch etwas entspannter als damals. Denn damals haben wir nicht mit vier Prozent Wachstum 2021 und fünf Prozent 2022 gerechnet, sondern mit rund zwei bzw. vier Prozent. Die Wachstumsaussichten haben sich also verbessert, wodurch ein Teil dieser Schulden wieder abgetragen wird. Natürlich braucht es eine gewisse Budgetdisziplin und mittelfristige Maßnahmen, aber insgesamt sind wir auf einem etwas weniger problematischen Schuldenpfad als noch vor einem halben Jahr. Zudem sind die Zinsen niedrig, und auch die Ratingagenturen haben für Österreich keine negativen Aussichten. Das ist entscheidend.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 33/21

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