So überleben "ewige"
Politiker ihren Job

Mit Adi Tiller tritt der längstdienende Bezirksvorsteher Wiens nach 40 Jahren zurück. Er und andere politische Urgesteine erzählen über ihr Leben mit der Politik.

von Politik - So überleben "ewige"
Politiker ihren Job © Bild: Ricardo Herrgott

In Adi Tillers Büro ist die Zeit stehen geblieben. An der Wand hängt ein Gemälde von seinem Großvater. ­Josef Strobach war Ende des 19. Jahrhunderts kurz Bürgermeister von Wien. In der Ecke steht eine riesige Holztrommel, ein Geschenk des Tokioter Stadtteils Setagaya, mit dem Tiller Anfang der 90er-Jahre den japanischen Garten auf der Hohen Warte realisierte. Alles hier atmet Geschichte. Dabei hat Tiller schon begonnen, sein Büro auszuräumen. Nach 40 Jahren als Bezirksvorsteher übergibt er Ende Oktober an Daniel Resch, einen jungen Burschen, nur 33 Jahre alt.

Adi Tiller (79) ist der Inbegriff des Lokalpolitikers. Er war, versichern Eingeborene, immer da. Bei Geburtstagen, Hochzeiten, Kirchenveranstaltungen. Wenn die Volkshilfe, nicht gerade als Vorfeldorganisation der ÖVP bekannt, eine Veranstaltung machte, saß der Tiller in der ersten Reihe. Zur bestandenen Matura brachte er Eisgutscheine. Der Kalender, aus Papier, ist vollgeschrieben. Ein Leben für den Bezirk. Als er mit seiner Frau goldene Hochzeit feierte, erzählt er, sagte er zu ihr: „Schau, Hannelore, 50 Jahre sind wir verheiratet, schau, was wir zusammengebracht haben für die Kinder.“ Ja, knurrte sie, „aber 25 Jahr’ warst nur z’ Haus“.

Die Schwänke und Anekdoten fließen nur so aus ihm heraus. Mit routiniertem Auge beobachtet er, ob sie beim Zuhörer die gewünschte Wirkung erzielen. Falls nicht, egal. Die nächste Pointe zündet sicher. Tillers Erzählungen handeln vom ­Vizebürgermeister Busek, vom Stadtrat Edlinger oder von der Frau Doktor Schaumayer. Sie reichen weit zurück in die Geschichte der Stadt und finden doch immer wieder wundersam den Weg in die Gegenwart zurück. Heute? Na ja, meint Tiller.

„Viele der Menschen, die zu mir kommen, sind aus den Gemeindebauten. Um die wird sich überhaupt nicht mehr gekümmert. Wenn sie bei Wiener Wohnen anrufen, landen sie in einem Callcenter und werden dann meistens nicht zurückgerufen. Also rufen sie bei mir an. Weil ich heb nämlich ab.“

In Tillers Uralt-Handy ist keine einzige Nummer gespeichert, weil er alle wichtigen auswendig kann. Sein Nachfolger hat natürlich einen Laptop. Und ein modernes Handy „mit schönen Bildln. Das brauch ich aber alles nicht, weil ich mit den Menschen rede.“ Und schon kreischt es ohrenbetäubend los, das bilderlose Uralt-Handy, und Tiller widmet sich seelenruhig einer mehrminütigen Besprechung der Kuchelauer Poller-Problematik.

Hier, im Bezirk, gelten andere Regeln. Die große Parteipolitik ist weit weg. Es geht um Persönlichkeiten, es geht um Lösungen, es geht um die Leut.

Eine Meinung zu denen da oben darf man natürlich trotzdem haben. Den Wiener ÖVP-Chef Gernot Blümel halte er für einen „besonders gescheiten“ Menschen, sagt Tiller, der als Bundesminister auch in Wien eingreife, um zu zeigen, dass eine Mitarbeit der ÖVP in der Stadtregierung sinnvoll wäre. Für Schwarz-Blau in Wien könne er jedoch keine Zustimmung bei den Bürgern erkennen, meint Tiller. Wenn, dann Rot-Schwarz. So wie früher.

© Ricardo Herrgott Adi Tiller vor dem Porträt seines Großvaters Josef Strobach

Petzenkirchen

In Petzenkirchen sitzt Lisbeth Kern in dem wunderschönen, neu errichteten Gemeindezentrum. Es hat sie bei der letzten Wahl fast neun Prozent der Stimmen gekostet. Ein Teil der Bevölkerung war der Meinung, man hätte das Schloss adaptieren können, anstatt neu zu bauen. „Aber die Kosten ­wären zu hoch gewesen“, erklärt Kern sachlich. „Wir haben zwei Mandate verloren. Allerdings haben wir fünf Jahre davor ein Mandat dazugewonnen.“

Kern ist die längstdienende Bürger­meisterin Österreichs. Schon ihr Vater war SPÖ-Bürgermeister der Mostviertler Gemeinde, nach einem familienfremden ­Interregnum von fünf Jahren übernahm Tochter Lisbeth. Das war 1996. Seitdem ist sie für die Petzenkirchner da. Zu jeder Tages- und, wenn es sein muss, auch zur Nachtzeit. Der SPÖ ist sie noch immer treu verbunden. Obwohl sie sich manchmal wundert. „Es ist ganz eine andere SPÖ, als ich das früher gekannt habe. Unter Bundeskanzler Kreisky habe ich eins zu eins unterschreiben können, was er gemacht hat. Jetzt gibt es viele Dinge, wo ich auch den anderen recht geben muss. Die Aufregung um den Zwölf-Stunden-Tag verstehe ich zum Beispiel nicht ganz. Bei den ÖBB, beim Bäcker oder im Gastgewerbe ist doch schon immer so lange gearbeitet worden.“ Lieber solle sich die Partei um die Armen und Schwachen kümmern. Alleinerzieherinnen greift die Gemeinde manchmal finanziell unter die Arme. Aber wann und wem und wem nicht? Es ist schwierig.

So schaltet und waltet Lisbeth Kern in ihrem wunderschönen Gemeindeamt, alles hell, alles neu, die Unterlagen akkurat auf dem großen, aufgeräumten Schreibtisch angeordnet. Ein Ende ist nicht in Sicht. Ihr Enkelsohn, der neben ihr wohnt, läutet manchmal an und fragt die Oma: „Bist du da oder musst du schon wieder auf die Gemeinde?“ Sie muss oft, fast jeden Tag. Der ganze Papierkram. Früher, als sie noch berufstätig war, zuletzt als Bezirksstellenleiterin der niederösterreichischen Gebietskrankenkasse in Pöchlarn, arbeitete sie oft bis spät am Abend. Ihr Mann kümmerte sich dann um den gemeinsamen Sohn. Sie sei schon ehrgeizig, räumt Kern ein. Aber jetzt wäre dann auch einmal Zeit für anderes. Garteln, auf die Enkerl aufpassen. Allein, wer passt dann auf Petzenkirchen auf? „Die Leute werden immer egoistischer und haben ihren eigenen Bereich aufgebaut, aber für die Allgemeinheit will keiner was tun. Du kannst dich über viele Mandate nach der Wahl gar nicht freuen, weil sie so schwierig zu besetzen sind. Aus den umliegenden Gemeinden höre ich das Gleiche.“

© Ricardo Herrgott Paul Stadler ist Wiens einziger FPÖ-Bezirksvorsteher

Innsbruck

Uschi Schwarzl zog Anfang der 90er-Jahren in den Innsbrucker Stadtsenat ein. Als erste Frau in der Geschichte der Stadt. Als junge Frau. Als grüne Frau. „Das war für die älteren zigarrerauchenden Männer eine ziemliche Aufregung“, sagt sie heute. Politik war damals ganz anders als heute. Presseaussendungen wurden auf der Schreibmaschine getippt und händisch verteilt, erinnert sich Schwarzl. „Es war alles viel langsamer. Heute musst du immer erreichbar sein, jeder erwartet sich, dass du sofort tust und reagierst. Die Wege und die Entscheidungszeiträume waren damals viel länger. Mittlerweile sagt man mir nach, dass ich intravenös ans E-Mail angeschlossen bin. Ich habe mich lange ­gewehrt, aber jetzt bin ich süchtig.“

Schwarzl wurde 1989 erstmals in den Gemeinderat gewählt, war dazwischen kurz im Tiroler Landtag und ist derzeit ist Stadträtin der Grünen in Innsbruck. Sie könne ungeduldig sein, beschreibt sie sich selbst, auch impulsiv. „Aber ich war, auch in der Opposition, immer wertschätzend gegenüber den Regierenden. Das erklärt vielleicht meinen langen Verbleib in der Politik. Und man muss die Menschen ­mögen, sonst ist man in der Politik fehl am Platz. Aber es gibt für mich auch Grenzen. Ich rede nicht allen nach dem Mund. Wenn man nach allen Seiten offen ist, ist man nicht ganz dicht, sagt man. Die Bürger sollen wissen, woran sie sind. Ich muss nicht von 100 Prozent gewählt werden.“

© Jan Hetfleisch www.janhefleisch.com Abdruck honorarfrei/Die Innsbrucker Gr?nen Schwarzl kam einst für das Studium nach Innsbruck – und blieb

Simmering

Paul Stadler ist zwar erst seit drei Jahren Bezirksvorsteher von Simmering, aber er, die FPÖ und Simmering, das ist eine Mé­nage-à-trois, die schon viele Jahrzehnte ­zurückgeht. Man schrieb das Jahr 1985 und Stadler wollte in die Lokalpolitik. Deklariertes Langzeitziel: Bezirksvorsteher. Jedoch SPÖ und ÖVP wollten ihn nicht, erklärt er offen. Also dockte er bei der FPÖ an. „Ich musste mich erst einmal in die Materie der Partei einlesen und habe dann 80 Prozent gefunden, mit denen ich mich identifizieren kann. Und über den Rest streite ich mit ihnen. Aber wenn Sie in einem großen Verein sind, müssen Sie sich auch manchmal ­danach richten, was vorgegeben wird.“

Nicht alle goutierten Stadlers plötzliches Bekenntnis zur FPÖ. „Ich habe damals ein Kaffeehaus gehabt“, erzählt er, „und mir sind monatelang ganze Kundenzweige ausgeblieben.“ Aber Stadler, leutselig, ­eloquent und ehrgeizig – privat ein begeisterter Segler –, arbeitete hart daran, das traditionell rote Simmering vergessen zu lassen, dass er eigentlich die falsche Farbe hat. Die Leute kamen wieder ins Café. ­Einige wählten ihn – nicht unbedingt die FPÖ – bei der nächsten Wahl. Und dann ein paar mehr. Und dann noch ein paar mehr. 2015 „drehte“ er den Bezirk. Das rote Simmering wurde blau, und der neue ­Bezirksvorsteher stand vor technischen Problemen. Wie organisiert man das Büro einer Bezirksvorstehung? Wie findet man aus der Rolle der ständigen Oppositionspartei in die Regierungsverantwortung?

Wenn Paul Stadler über Adi Tiller spricht, klingt Bewunderung in seiner Stimme mit. Oder über seinen „Nachbarn“ Erich Hohenberger, langjähriger SPÖ-Bezirksvorsteher im dritten Bezirk Landstraße. Ein paar Jahre im Amt könne er sich schon noch vorstellen, meint Stadler. Über dem Besprechungstisch in seinem Büro hängt eine große Karte von Simmering. Begeistert zeigt er die Ecken und Grätzeln, die Vorzeige- und Problemgegenden. Die Verlängerung der U-Bahn nach Schwechat, noch besser: bis zum Wiener Flughafen, wäre sein Traum. Mit FPÖ-Verkehrsminister Norbert Hofer habe er schon darüber gesprochen, sagt Stadler, manche Mitglieder der rot-grünen Stadtregierung ließen ihn monatelang auf einen Termin warten.

Schwarz-Blau in Wien, wäre das erstrebenswert? Und er, Stadler, gerne Stadtrat – oder mehr? Nein und nein. „Ich glaube, dass wir den Sozialdemokraten weitaus näher sind als der ÖVP. Aber ich glaube auch, dass es einmal eine Frischzellenkur braucht. Die Sozialdemokraten haben in den letzten Jahren schon sehr an den ­Menschen vorbeiregiert. Es sind sehr viele unzufrieden mit sehr vielen Dingen.“

Stadler will ein „Vorsteher“ zum Angreifen sein. „Ich bin bei fast jeder öffentlichen Veranstaltung im Bezirk. Bei jedem Spatenstich, jeder Dachgleiche, beim Schulfest, der Pensionistenfeier, der Krampusfeier. Ich warte nicht darauf, dass die Leute zu mir kommen, ich gehe zu ihnen.“

Adi Tiller tritt nach 40 Jahren zurück. Das Bezirkskaisertum lebt fröhlich fort.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 43-44 2018