"Er hörte mich und half"

Der ehemalige US-Army-Rabbiner David Lapp verbrachte seine frühe Kindheit in Wien. Er erinnert sich an die schrecklichen Geschehnisse rund um den 10. November 1938.

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Rabbi Lapp hat eine faszinierende Lebensgeschichte. 1931 in Wien geboren, gelang ihm 1940 gemeinsam mit seinen Eltern die Flucht in die USA. Er ließ sich zum Rabbiner ausbilden und begann Ende der 50er-Jahre als Seelsorger in der US-Army. 1960, nur 15 Jahre nach Ende der Naziherrschaft, die ihn fast das Leben gekostet hätte, wurde er nach Deutschland versetzt. 1966 diente er für ein Jahr in Vietnam. "Wir waren nur vier jüdische Seelsorger dort", erinnert er sich. "Ich war von Montag bis Freitag mit dem Helikopter im ganzen Land herumgeflogen, um für möglichst viele Soldaten da zu sein."

In den 1970ern war Lapp noch einmal in Deutschland stationiert, 1982 schied er aus dem aktiven Militärdienst aus. Derzeit hält er sich anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome vor 80 Jahren gemeinsam mit seiner Frau in Wien auf.

Wie gut können Sie sich an Ihre Kindheit in Wien erinnern?
Ziemlich gut. Meine Kindheit in Wien war die Grundlage für mein ganzes späteres Leben, für meine Laufbahn als Rabbi. Als kleiner Bub lebte ich in der Schiffamtsgasse in der Leopoldstadt und spielte mit den anderen Kindern in den Parks am Donaukanal. Es war eine wunderbare Zeit. Mit sechs schrieb mich mein Vater in der orthodoxen Schule in der Malzgasse ein. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. In diesem ersten Jahr in der Schule bekam ich das Gefühl, mit Gott in Verbindung zu stehen, und das ist mir geblieben. Es war eine schöne Kindheit. Bis sich im März 1938 alles änderte. Es wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Es war unmöglich, sich als Jude auf der Straße zu bewegen, ohne attackiert zu werden. Aber ich war schon damals jemand, der sich selbst verteidigt hat. Ich wollte immer schon zu denen gehören, die Gutes tun und anderen helfen. Also wurde ich später Rabbi und Seelsorger bei der US-Armee.

Wie sind Sie zur Armee gekommen?
Damals war der Militärdienst in den USA noch verpflichtend. Ich wurde also 1956 eingezogen und stieg dann in der Hierarchie rasch auf. Ich hatte das Gefühl, den Menschen helfen zu können. Allen Menschen. Man nennt uns bei der Armee Seelsorger, nicht Rabbi oder Priester. Weil wir für alle da sind, nicht nur für Angehörige unserer eigenen Religion.

In den frühen 60er-Jahren arbeiteten Sie in Deutschland. Wie war es für Sie, 15 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft zurückzukehren?
Ich habe mich, ehrlich gesagt, nicht darum gerissen. Ich sollte ursprünglich nach Japan versetzt werden, aber dann kam der Befehl, nach Deutschland zu gehen. Ich war enttäuscht und rief meinen General an. Der sagt zu mir: "Wenn dir München nicht gefällt, kannst du nach einem Jahr nach Frankreich."

Und dann kam doch alles anders als befürchtet?
Ich ging nach München und Gott gab mir eine wunderschöne blonde Frau, die jetzt neben mir sitzt, und zwei wunderbare Kinder, die in Deutschland geboren wurden. Ich hatte ursprünglich Bedenken. Aber dann sagte ich: Guter Gott, ich verstehe. Jemand hat auf mich gewartet und Du hast dafür gesorgt, dass ich hinkomme.

Haben Sie damals, als Sie in den frühen 1960er-Jahren in München lebten, auch Wien besucht?
Ja, wir haben zwei Ausflüge nach Wien unternommen. Ich musste einfach hinfahren. Wir besichtigten die Gegend, in der ich gewohnt hatte. Die Polnische Schul (Synagoge, Anm.) in der Leopoldsgasse zum Beispiel, in die mein Vater immer mit mir gegangen war. Aber es war nichts mehr übrig. Es war traurig. Die Schul war in der Nacht vom 9. auf den 10. November noch nicht völlig zerstört worden, aber sie nahmen damals alle Gebetsbücher, Bibeln und den Talmud, und verbrannten sie in einem riesigen Feuer. Die Leute standen herum und sangen und grölten.

Sie erinnern sich noch an diese Nacht?
Ja. Weil mein Vater an diesem Abend spät nach Hause kam. Ich fragte: Papa, wo warst du? Er sprach dann leise mit meiner Mutter über das, was draußen geschah. Am nächsten Tag, am 10. November, klopfte es plötzlich an der Tür. Die SS sammelte Leuteein, um nach der vergangenen Nacht aufzuräumen. Nur Juden natürlich. Es war ja nicht schwierig herauszufinden, wer jüdisch war, man musste nur den Hausmeister fragen. Sie nahmen meinen Vater mit. Meine Mutter war sich sicher, dass er zurückkommen würde.

Aber er kam nicht wieder nach Hause zurück?
Nein. Und auch am nächsten Tag nicht. Meine Mutter ging zur Kultusgemeinde, aber die wussten auch nicht viel. Sie vermuteten, dass er in ein Arbeitslager gebracht worden war, weil er als Handwerker nützlich sein konnte.

Wie lange war Ihr Vater verschwunden?
Fast ein Jahr. Irgendwie gelangten wir in dieser Zeit über familiäre Beziehungen an Ausreisepapiere. Mein Vater sollte natürlich mit. Also beschloss meine Mutter, die eine sehr bestimmte und mutige Person war, zur Gestapo zu gehen. Die Kultusgemeinde riet ihr vehement davon ab. Man könne für nichts garantieren, sie müsse selbst die Verantwortung übernehmen. Aber sie hörte gar nicht zu. Sie nahm mich fest am Arm und ging mit mir dorthin. Es dauerte eine Weile, aber dann kam sie mit einem freundlichen SS-Mann ins Gespräch, der sich tatsächlich für die Entlassung meines Vaters einsetzte. Nach drei Tagen klopfte es wieder an der Tür. Mein Papa war zurück.

Dann emigrierten Sie nach Amerika?
Meine Mutter kaufte, so schnell sie konnte, Tickets. Wir reisten nach Triest und von dort mit dem Schiff nach Amerika, mit der MS Vulcania. Ohne die Kraft und Stärke, die Gott meiner Mutter gegeben hatte, hätten wir nicht überlebt. Ich war damals erst acht Jahre alt. Als wir zur Gestapo gingen, sagte sie zu mir: Bete! Aber ich konnte das hebräische Alphabet nicht so gut, nur ein paar Lieder und Gedichte. Und Er hörte mich und half.

Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 45/2018) erschienen.