Der Anti-Kurz und
der Kampf um Europa

Er steht für einen ganz anderen Stil als die türkis-blaue Bundesregierung. Trotzdem ist Othmar Karas Spitzenkandidat der ÖVP bei der Europawahl im Mai. Wie geht sich das aus?

von
Politik - Der Anti-Kurz und
der Kampf um Europa

Es grünt allmählich. Die Ill fließt ruhig. Sanfte Böschungen, fast ländliches Idyll. Das EU-Parlamentsgebäude liegt wie ein gestrandeter Wal am Ufer des kleinen Flusses. Ein riesiger, einsamer Wal zwischen Wiesen und Wohngebiet, ein Wal, der nicht auf Rettung wartet, sondern, von einer Straßenbahnlinie mit einer nicht ­abreißenden Zahl von Menschen versorgt, die ameisenstraßengleich hinein- und wieder hinauswuseln, sich selbst genug ist.

Hier findet einmal im Monat Europa statt. Hier ist Othmar Karas in seinem Element. Der Plenarsaal liegt als riesige Kugel in dem 200.000 Quadratmeter großen ­Gebäude. Daneben eine Bar, die „neue Members Bar“. Helles Holz, Blick auf die Ill’schen Wiesen. Der übliche Kantinenkaffee. Karas grüßt nach hier und dort, kennt fast jeden. Wechselt ein paar Worte mit dem österreichischen EU-Kommissar Johannes Hahn, tratscht mit der grünen Parlamentslegende Daniel Cohn-Bendit, tauscht sich am Buffet mit FPÖ-Spitzen­kandidat Harald Vilimsky aus.

Othmar Karas, der Fisch im europäischen Wasser. Der erfahrene Europapolitiker, der Brückenbauer und überparteilich agierende Sacharbeiter. Das ist das Image, mit dem der 61-Jährige auch diese Wahl gewinnen will. Bei der Europawahl 2009 trat er zwar nicht als Spitzenkandidat an  – weil Ex-Innenminister Ernst Strasser ihm vorgezogen wurde –, räumte aber bei den Vorzugsstimmen ab. 2014, endlich Nummer eins, wurde er erneut Vorzugsstimmenkaiser. Heuer sind die Karten neu gemischt, auf allen Ebenen. Die Brexiteers, die Orbáns und Salvinis ziehen und zerren an der Europäischen Union. Und zu Hause in Österreich hat die türkis-blaue Bundesregierung die Macht übernommen. Karas ist zwar offizieller ÖVP-Spitzenkandidat, weicht aber in vielen Hinsichten von der aktuellen Parteilinie ab. Er gibt sich, wo Kurz vermeintlich verzichtbare Grund­sätze der Strategie opfert, gern prinzipientreu. Er hält nicht viel von Parteidisziplin und noch weniger von den Freiheitlichen – auch wenn er die Koalition in Österreich zähneknirschend als unvermeidbar akzeptiert. Er macht, was er für richtig hält, und sagt, was er denkt. Ein Politiker alten Stils. Ein Anti-Kurz als Angebot an den europafreundlichen Flügel der ÖVP – und darüber hinaus. Wenn die Strategie aufgeht.

Karas’ 28 Punkte umfassendes persönliches Europa-Programm ist mit einem Martin-Luther-King-Zitat überschrieben. Man solle sich nicht von Feigheit, Opportunismus oder Eitelkeit leiten lassen, besagt es sinngemäß, sondern von seinem Gewissen. Aus der Warte der derzeitigen österreichischen Innenpolitik klingt das fast bemitleidenswert altmodisch. In Europa gelten andere Regeln. Die Vertreter unterschiedlichster Fraktionen sind hier politisch mehr aufeinander angewiesen, die Begeisterung für die europäische ­Vision eint. Aber nicht alle.

Wer brennt mehr

Um herauszufinden, dass Othmar Karas, Europaparlamentarier seit 1999 und ehemaliger Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, für Europa brennt, hätte man nicht extra nach Straßburg reisen müssen, um ihn 24 Stunden zu begleiten. Aber was, wenn die anderen die größeren Benzin­kanister haben? Es ist der Tag, an dem das britische Parlament über den Ausstiegsvertrag abstimmt. Karas trifft sich mit EU-Chefverhandler Michel Barnier, einem alten Weggefährten. „Wie wird es ausgehen?“, will er wissen. Barniers resignierte Miene ist unmissverständlich. „Crazy“ sei das alles, sagt er, bevor er, zwei Assis­tenten mit stapelweise Unterlagen im Schlepptau, weiterhastet.

Die Störer bestimmen derzeit das Spiel. Der Brexit, für Karas Ausdruck des Versagens einer politischen Klasse und Warnung, was passieren kann, „wenn man ­Bewertungen und Analysen von wahl- und parteitaktischen Überlegungen abhängig macht“, ist das bestimmende Thema. Die Europäische Volkspartei diskutiert zugleich darüber, wie sie mit ihrem ständig provozierenden Mitglied Viktor Orbán und der Fidesz-Partei umgehen soll. Tags davor hat Karas in einer Presseaussendung vor russischer Einflussnahme auf die Europa-Wahl gewarnt. Lieber würde er über positive Themen sprechen, über die Wichtigkeit liberaler Demokratien, über Friede, Freiheit und Gerechtigkeit.

Vor Karas liegt ein Wahlkampf, in dem er sich – im Unterschied zu 2014 – mit vielen Europa-Neulingen auseinandersetzen muss. Mit anderen Spitzenkandidaten also, die vorhaben könnten, „den europäischen Geist der Zusammenarbeit wahltaktischen und parteitaktischen Überlegungen zu opfern“. Und er muss sich in die Auseinandersetzung mit FPÖ-Spitzenkandidat und -Generalsekretär Harald Vilimsky begeben. Kritiker sehen ein abgekartetes Spiel. ­Vilimsky deckt die rechte Flanke ab, Karas die europafreundliche, und die Bundes­regierung steigt jedenfalls gut aus. Ein Scheinduell? Karas schnaubt empört. „Ich eigne mich nicht für taktische Spielchen und bin auch kein Instrument von Wahltaktik. Die Grundlage der Zusammenarbeit in Österreich sind das Wahlergebnis und das Koalitionsabkommen. Aber hier in Europa zeigt die FPÖ ihr wahres Gesicht. Sie sitzt mit den Le Pens, den Wilders, den Salvinis in einer Fraktion.“ Er, sagt Karas, verstehe sich als Kandidat jener, die von der europäischen Idee überzeugt sind. „Und als Kandidat für alle, die an der europäischen Union zu zweifeln begonnen haben, aber bereit sind, sie besser zu machen – das ist die Mehrheit. Man darf wegen der Auseinandersetzungen mit den Extremen und aus Angst vor den Extremen nicht auf die Mehrheit der Menschen vergessen.“

Rätselhafte Sitzung

Nach Ostern wird im europäischen Parlament die Arbeit eingestellt, der Wahlkampf beginnt offiziell, und Othmar Karas tourt durch die Lande, um möglichst viele Menschen von seinen europapolitischen Vorstellungen zu überzeugen. Noch läuft das Straßburger Werkel aber auf Hochtouren. 18.30 Uhr, und Othmar Karas begibt sich in eine rätselhafte Sitzung namens „Trilog“. Ein Szenario wie aus dem schlimmsten Albtraum eines Europa-Skeptikers: ein ­Sitzungsraum mit großem Tisch, künstliches Licht, das eine unwirkliche Stimmung erzeugt, und zig Brüsseler Bürokraten in farblosen (Hosen-)Anzügen. Ungeachtet des staubtrockenen Szenarios: Hier geht’s zur Sache. Vertreter des europäischen ­Parlaments, der Kommission und der ­Mitgliedsstaaten verhandeln in diesem inoffiziellen Meeting über den Gesetzesentwurf zur Reform der Europäischen Finanzmarktaufsicht. Othmar Karas ist Chef­verhandler des Europaparlaments. Heute Abend noch soll es zu einer Einigung kommen. Punkt für Punkt gehen die Verhandler die strittigen Punkte im Gesetzestext durch. Konziliant im Ton – „Danke für Ihr Entgegenkommen, wir wissen, dass das schwierig für Sie ist“ – und hart in der Sache. Bis vier in der Früh wird verhandelt, dann ohne Ergebnis abgebrochen.

Resigniert und gereizt

Am nächsten Morgen. Auf der Ameisenstraße in das Besucherzentrum des Europäischen Parlaments wuselt es schon wieder. Othmar Karas kann nicht viel geschlafen haben, aber Zeit für Pausen bleibt in der Plenarwoche nicht. Er bespricht mit seinen Mitarbeitern die Rede, die er im Plenum zum Thema Brexit halten wird. Inzwischen ist das Abstimmungsergebnis aus London bekannt. Der Deal wurde nicht akzeptiert. Ein No-Deal-Szenario, wird sich wenige Stunden später herausstellen, ist auch nicht der Wunsch der britischen Abgeordneten. Die Stimmung der Redner im Europäischen Parlament schwankt an diesem Vormittag zwischen Resignation, Gereiztheit und salbungsvollen Aufrufen zur Mäßigung. Karas nützt seinen Auftritt für ein Plädoyer für ein geeintes, parteiübergreifendes Europa. Die europäische Idee werde von innen heraus gefährdet, sagt er.

Da ist er wieder, Karas, der Brückenbauer, der Prinzipienreiter, der Mann der klaren Worte und Verachter populistischer Methoden. Sein Verhältnis zur modernen, türkisen ÖVP darf als distanziert bezeichnet werden. Es dauerte, bis Bundeskanzler Kurz Karas als Spitzenkandidaten präsentierte. Bis zur Einigung, die Mitte Jänner verkündet wurde, hatten verschiedene Versionen die Runde gemacht: Karas könnte mit eigener Liste oder für Neos ­antreten. Als Nummer zwei auf der Liste wurde Karas mit Staatssekretärin Karoline Edtstadler eine Getreue des Kanzlers und Vertreterin eines strengen Migrations­kurses zur Seite gestellt. „Wir treten als Team an, haben aber natürlich unterschiedliche Schwerpunkte“, sagt Karas über Edtstadler, „nicht nur weil sie eine Frau ist und ich ein Mann, nicht nur weil ich hier bin und sie dort.“ Letztlich, räumt er ein, kämpfe in diesem Wahlkampf jeder nicht nur für die Partei, sondern um seine eignen Vorzugsstimmen. „Daher ist es natürlich auch eine Richtungsentscheidung, welchen Inhalt, welche Person ich durch meine Vorzugsstimme stärken will. Das ist eine mutige Entscheidung.“ Nachsatz: „Ich verstehe auch gar nicht, warum man von einer Partei immer erwartet, dass alle einer Meinung sind. Ich will keine Harmonisierung der Hirne und Herzen, ich will eine aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Diskurs.“

Karas, der Einzelkämpfer, gegen alle anderen, so lässt sich die Gemengelage vielleicht am besten zusammenfassen. Er soll mit seiner persönlichen Glaubwürdigkeit auch ÖVP-kritische Wähler mobilisieren, er gibt der ÖVP, immerhin in einer Koali­tion mit der FPÖ, ein unbedingt europa-
freundliches Gesicht. Dafür darf er sich manchen Ausritt erlauben. Und Staatssekretärin Edtstadler ist dafür zuständig, die türkisen Fans abzuholen. Eine Aufstellung mit Potenzial – und Risiko. Bereits 2014 verzichtete Karas darauf, mit deutlichem ÖVP-Logo in den Wahlkampf zu ziehen. Er unterstützte zuletzt die Kampagne von ­Alexander Van der Bellen, brachte sich im Laufe seiner Karriere in der Anti-AKW-Bewegung, der Friedensbewegung, der Anti­privilegiendebatte ein. Karas nimmt auch diesmal das Recht auf eine eigene Marke in Anspruch. Aber was, wenn das Label ÖVP im Jahr 2019 nur absoluten Zu- oder Widerspruch zulässt? „Bundeskanzler Kurz hat gewusst, wen er fragt“, sagt Karas selbstbewusst. „Der Othmar Karas des letzten Wahlkampfs und der vor und nach der Spitzenkandidatur bleibt derselbe. Das ist ein Teil meines Wertes und meiner Glaubwürdigkeit. Ich weiß, ich habe meine Vorzugsstimmen nicht nur bekommen, weil sie der ÖVP eine Freude machen wollten, sondern weil sie meinen Kurs, mich in der Partei und mich in Europa stärken wollten. Und ich bin den Menschen, die in mich Vertrauen setzen, verpflichtet.“

Daumen runter

Die Reden im Europäischen Parlament in Straßburg sind vorbei. Jetzt finden die ­Abstimmungen statt. In atemberaubender Geschwindigkeit legt Parlamentspräsident Antonio Tajani die Vorlagen vor, wer zu spät oder zu langsam die Hand hebt, hat Pech gehabt. Wenn die Handabstimmung unklar ist, wird elektronisch abgestimmt. Auch hier gilt: schnell sein. Schon nach zwei, drei Sekunden erklärt Tajani die Abstimmung für beendet und verkündet das Ergebnis. Man muss kein leidenschaftlicher Fan der europäischen Institutionen sein, um von diesen Abläufen beeindruckt zu sein. So viel schon geschafft auf dem Weg zur europäischen Integration. Ist das Zeitalter der Zerstörer wirklich da?

Dass die Rechtsparteien im EU-Parlament aus der Wahl wahrscheinlich gestärkt ­hervorgehen werden, bereite ihm weniger Kopfzerbrechen als das Erstarken der ­Populisten in den Nationalstaaten, sagt ­Karas. „Weil sie einen Einfluss auf die Besetzung der Kommission haben und auf die Fragen, die im Rat einstimmig beschlossen werden. Daher beginnt die Auseinandersetzung über die Zukunft Europas in den Mitgliedsstaaten. Das Zweite ist, ich halte sie überall dort, wo sie schwächen und spalten können, für gefährlich, man soll das nicht verniedlichen. Aber sie werden im Europaparlament voraussichtlich nur rund 140 von 75o Abgeordneten sein. Wir dürfen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange stehen. Und vor allem nicht glauben, dass man den Populismus und Nationalismus überwindet, indem man vor ihnen in die Knie geht.“

13 Uhr. Othmar Karas trifft direkt nach der Abstimmung einen „Spiegel“-Journalisten, der ihn zum Umgang der EVP mit Viktor Orbán befragt. Dann findet ein weiterer Trilog, diesmal zum Thema Kampf gegen Geldwäsche im Finanzsektor, statt. Anschließend stößt Karas zu einer Besuchergruppe aus Österreich. Eine Delegation von ÖVP-Nationalratsabgeordneten, die dem Bauernbund angehören, besucht Straßburg. Anschließend: Fraktionssitzung, Plenardebatte, noch eine Rede. Tags darauf geht es zurück nach Österreich. Der Wahlkampf beginnt zwar offiziell erst in sechs Wochen, aber die ersten Medien­termine sind schon angesetzt.

Zustimmung für Kickl

Wie strahlend wird der Vorzugsstimmenkaiser diesmal aus der Wahlauseinandersetzung herausgehen? Und kann es ohne Law-and-Order-Töne gehen? Dass Karas Innenminister Herbert Kickl jüngst beipflichtete, straffällig gewordene Asylwerber müssten schneller abgeschoben werden können, sorgte für Irritation. „Ich löse kein Problem, indem ich mich mit der FPÖ nicht auseinandersetze“, sagt Karas. „Ich löse kein Problem, wenn ich pauschal ­gegen alles bin, was Kickl sagt. „Ich setze mich inhaltlich mit der FPÖ natürlich auseinander. Wenn Herr Kickl einmal etwas Richtiges sagt, gestehe ich ihm das zu, ansonsten bin ich unglaubwürdig. Und wenn er etwas Falsches sagt, dann kritisiere ich ihn, sonst bin ich ebenfalls unglaubwürdig. Bei meiner Politik geht es um die ­Inhalte, nicht um parteipolitische Spiele.“

Es kann manchmal, um es mit einem Zitat aus der jüngeren Geschichte zu sagen, alles sehr kompliziert sein.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 12/2019