Johanna Mikl-Leitner: "Eine Koalition ist wie eine Ehe"

Angesichts steigender Coronazahlen schließt Johanna Mikl-Leitner die Ausweitung der 1-G-Regel nicht aus. Niederösterreichs Landeshauptfrau über Impfmuffel, türkis-grüne Krisen und WhatsApp-Chats

von Politik - Johanna Mikl-Leitner: "Eine Koalition ist wie eine Ehe" © Bild: Ricardo Herrgott/News

Sie haben sich als Ort für unser Sommergespräch das Südbahnhotel am Semmering ausgesucht, ein Jugendstiljuwel im Dornröschenschlaf. Warum sind wir hier?
Mit einer der schönsten Regionen der Welt, dem Charme der Jahrhundertwende und der Semmeringbahn als Weltkulturerbe haben wir ein riesiges Potenzial, das hier schlummert. Unser Ziel ist es, die Region aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und den Semmering wachzuküssen.

Es gibt Regionen und Städte, die vor Corona über "Overtourism" klagten. Soll der Semmering eine Art Kitzbühel werden oder gar ein Voralpen-Disneyland?
Nein, es gibt in dieser Region gewachsene Strukturen, und bei diesen soll es bleiben. Was wir wollen, ist, den Semmering von einer Sommerdestination zu einer Ganzjahresdestination weiterzuentwickeln. Ökologisch nachhaltig, mit einem Schwerpunkt Kultur, so wie wir den Süden Niederösterreichs generell als Kulturregion positionieren wollen. Es ist uns gelungen, die Festspiele Reichenau mit der Leiterin des Max-Reinhardt- Seminars Maria Happel neu zu besetzen. Und der Besucherrekord mit 15.000 verkauften Karten zeigt: Die Leute suchen wieder die Natur, das Typische, das Ursprüngliche.

Wie soll das Kulturangebot über den Sommer hinaus aussehen?
Es geht uns nicht darum, ein großes Kulturzentrum zu errichten, sondern um die Revitalisierung der bestehenden Häuser und Hotels, die wieder Veranstaltungen nach dem Vorbild des Fin de Siècle ermöglichen, als sich hier die intellektuelle Elite Europas getummelt hat.

Für das Südbahnhotel wird noch ein Käufer gesucht. Welchen Beitrag wird das Land dazu leisten? Der Kaufpreis soll bei neun Millionen Euro liegen, ein Käufer müsste noch einige Millionen investieren, weil das Hotel seit Ende der 1970er-Jahre geschlossen ist.
Projekte wie das Südbahnhotel sind eine Investition in die Zukunft, denn gerade die Pandemie hat gezeigt, dass Menschen gerne in der Region Urlaub machen. Daher ist klar, dass jede Investition eine sinnvolle ist. Im Umkreis von 100 Kilometern haben wir ein Millionenpublikum, das Kunst und Natur sucht. Ein Meilenstein ist bereits gelungen, als die Grazer Hoteliersfamilie Weitzer das Kurhaus am Semmering übernommen und mit der erforderlichen Sensibilität revitalisiert hat.

»Jeder, der sich impft, schützt sich selbst und uns alle vor Einschränkungen«

Im Winter wurde der Semmering von Lockdown-müden Städtern gestürmt. Wir stehen am Beginn der vierten Coronawelle: Was heißt das für den Tourismus?
Was den Tourismus betrifft, haben wir letztes Jahr in Niederösterreich gesehen: Wo die Dinge geordnet abgewickelt werden konnten, haben sie funktioniert. Dieses Wissen nehmen wir in den heurigen Herbst mit. Derzeit sehen wir, dass die Ansteckungszahlen ansteigen. Das muss man beobachten, das ist ernst -das ist nicht zwangsläufig dramatisch. Entscheidend ist, darauf zu schauen, wie sich die Zahl der Schwerkranken in den Spitälern entwickelt, und so viele Menschen wie möglich vom Schutz der Coronaimpfung zu überzeugen -für einen selbst und für das eigene Umfeld. Denn: Unser wichtigster Trumpf gegen die Pandemie ist die Schutzimpfung.

Die Impfzahlen stagnieren allerdings seit Wochen.
In Niederösterreich sind wir, was die Impfrate betrifft, im Spitzenfeld. Knapp 75 Prozent der impfbaren Bevölkerung sind zumindest mit einer Erstimpfung geschützt. Aber wir wollen diese Zahl noch steigern. Daher werden wir unsere niederschwelligen Angebote noch weiter ausbauen.

© Ricardo Herrgott/News

Es wird bereits über eine 1-G-Regel für die Nachtgastronomie diskutiert. Sollte eine solche auch in anderen Bereichen gelten?
Ich halte eine 1-G-Regelung in der Nachtgastronomie für sinnvoll, weil wir wissen, dass dort die meisten Infektionen stattfinden. Ich schließe aber auch nicht aus, dass das weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betreffen kann. Das muss aber abgestimmt und einheitlich vom Bund vorgegeben werden. Klar ist, jede und jeder, der sich impft, schützt sich selbst und uns alle vor Einschränkungen. Nach diesen eineinhalb Jahren voller Verzicht und Entbehrungen wollen wir alle ein normales Leben zurück. Das wird uns aber nur gelingen, wenn sich möglichst viele Menschen impfen lassen.

Soll es auch in den Schulen Vorteile für Geimpfte geben?
Die wird es laut Vorgaben des Bundes geben. Wir wollen aber vor allem auch seitens des Landes jene schützen, die sich selbst noch nicht schützen können, weil sie möglicherweise noch nicht für die Corona-Schutzimpfung in Frage kommen. Daher haben wir im Landesdienst eine Impfverpflichtung für alle neuen Bediensteten eingeführt, wobei der aufrechte Impfschutz auch nach dem ersten Stich laufend nachgewiesen werden muss.

Von Mitarbeitern, die das nicht machen, würde man sich wieder trennen?
Wir haben eine äußerst positive Resonanz auf die Impfverpflichtung für Neueintritte in den Landesdienst, und auch die Personalvertretung trägt diese Entscheidung mit. Für uns steht fest: Wir als Arbeitgeber müssen Vorbild sein, haben die Verantwortung, unsere Mitarbeiter und jene, mit denen sie in Kontakt sind - vor allem Kinder und zu Pflegende -, zu schützen, und müssen die Funktionstüchtigkeit des Landes aufrechterhalten.

Zu einem anderen politischen Krisenfeld: den Ereignissen in Afghanistan. Sie waren früher Innenministerin, in dieser Zeit gab es Resettlement-Programme für syrische Flüchtlinge. Bei Afghanistan hat sich die ÖVP festgelegt: Es soll keine Aufnahmen geben. Warum diese Härte?
Jetzt ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft alles unternimmt, um eine Verbesserung der Situation herbeizuführen. Gleichzeitig dürfen wir in Europa nicht die gleichen Fehler machen wie 2015. Man muss auch bedenken, dass wir in Österreich, auf die Einwohner gerechnet, bereits die größte afghanische Community nach Schweden haben. Die Lösung kann nicht lauten, dass die immer gleichen wenigen Länder noch mehr Menschen aufnehmen, sondern direkt im Ursprungsland und den Nachbarländern zu helfen. Österreich hat dafür 18 Millionen Euro zugesagt. Aber ja, selbstverständlich muss es Hilfe für exponierte Personen, die für internationale Organisationen und Nationalstaaten gearbeitet haben, geben. Darauf haben sich ja alle verständigt.

Die Linie der Bundes-ÖVP ist dazu ein lautes Nein.
Wir sollten nicht den Fehler machen, dass wir generell mehr Menschen nach Europa holen. Aber es gibt Ausnahmesituationen, wenn besondere Konsequenzen drohen. Dazu hat sich die EU-Kommission ja auch verpflichtet.

Österreich schert da aus.
Österreich ist in den letzten Jahren nie ausgeschert, wenn man sich die Zahlen der aufgenommenen Flüchtlinge ansieht. Aber wie gesagt: Es können nicht die immer gleichen wenigen Länder die gemeinsamen Herausforderungen der internationalen Gemeinschaft lösen. Wir müssen strikt bleiben - auch bei den Abschiebungen nach der Dublin-Verordnung in sichere Drittstaaten.

Weil dort der Asylantrag gestellt und das Ergebnis abzuwarten ist. Aber bei jenen Nachbarländern, die jetzt Menschen aus Afghanistan aufnehmen sollen, handelt es sich bisweilen nicht gerade um lupenreine Demokratien. Kann man wirklich erwarten, dass jemand dort Schutz sucht?
Das UNHCR ist gefordert, darauf zu achten, dass dort die Menschenrechte eingehalten werden, wo Flüchtlinge Schutz suchen. Man muss sich schon bewusst machen: Wir in Österreich werden diese Probleme nicht alleine lösen können.

»Selbstverständlich muss es Hilfe für exponierte Personen in Afghanistan geben«

Was sagen die ÖVP-Bürgermeister zur Linie Ihrer Partei? Einige sind ja zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit.
Dort, wo es wenige Flüchtlinge in kleinen Gemeinden gibt und eine gute Chance auf Integration besteht, ist es sicher anders als in Städten wie Wiener Neustadt. Da haben wir Schulklassen mit über 90 Prozent Migrationshintergrund. Das ist keine einfache Situation.

Das Thema Flucht wird zur Belastungsprobe der türkis-grünen Koalition auf Bundesebene. Birgit Hebein warf anlässlich ihres Austritts bei den Grünen der ÖVP vor, wortbrüchig zu sein.
Ich würde mir auf Bundesebene ein Miteinander wünschen, wie wir es in Niederösterreich leben. Das hat man ja auch im Regierungsübereinkommen festgeschrieben. Wenn man sich darauf konzentriert, dieses auf Punkt und Beistrich abzuarbeiten, wird die Koalition auch bis zum Ende gut arbeiten.

Sind die Grünen zu naiv in diese Koalition gegangen?
Das hat nichts mit Naivität zu tun. Eine Koalition ist wie eine Ehe, in der Kompromisse nötig sind und alle einmal nachgeben müssen.

Bei einigen Klimafragen sieht es aber nicht so aus, als wollte die ÖVP nachgeben.
Ich kann nur sagen, in Niederösterreich haben wir schon viel gemeinsam erreicht. Denn wir sind die einzige Region in Europa ohne Atomkraft und Strom aus Kohlekraft, die 100 Prozent des Haushaltsstroms aus erneuerbaren Energien decken kann. Wir haben einen Klimaplan mit 350 Maßnahmen, die wir umsetzen werden. Aber die ökologische Transformation muss mit der Wirtschaft einhergehen. Innovationskraft, Forschung und Entwicklung kommt hier eine große Bedeutung zu.

Die ÖVP beruft sich auf frühere Leistungen. Man weiß aber inzwischen, dass das nicht reichen wird.
Es muss und kann immer besser werden. Aber klar ist, dass andere Kontinente auch nachziehen müssen. Europa ist verantwortlich für sieben Prozent des CO2-Ausstoßes. Daher müssen wir neue Technologien entwickeln und in andere Kontinente bringen.

Sind Politiker ehrlich, wenn sie suggerieren, dass es ohne Verzicht gehen wird?
Jeder muss bei sich selbst beginnen. Bei der Lebensweise, beim Einkaufen, bei der Entscheidung für regionale Produkte.

Warum tut sich die ÖVP so schwer, sich von großen Straßenbauprojekten zu verabschieden?
Unsere Aufgabe ist, urbane Gebiete zu entlasten und ländliche Räume zu entwickeln - etwa durch die Dezentralisierung von 500 Arbeitsplätzen des Landes von St. Pölten in die Regionen oder durch Wirtschaftsparks, wo wir die Unternehmen zu den Menschen bringen. Aber klar ist, dass trotzdem sehr viele Menschen weiter Richtung Wien pendeln, 200.000 sind es jeden Tag. Das heißt, wir arbeiten eng mit Wien an einem Ausbau des öffentlichen Verkehrs und der Park-and-Ride-Anlagen.

Sehen Sie das Parkpickerl in Wien als feindseligen Akt?
Nein, ich denke, wir sind alle gut beraten, eine gemeinsame Lösung zu finden. Immerhin erbringen die niederösterreichischen Pendler 25 Prozent der Wiener Wirtschaftskraft.

Im öffentlichen Verkehr ist das 1-2-3-Ticket an der Ostregion gescheitert. Warum?
Es gibt die Chance, dieses Ticket bis Anfang Dezember umzusetzen. Aber mit uns kann es nur dann eine Lösung geben, wenn diese langfristig und nachhaltig ist und finanziell auf starken Beinen steht. Es geht um einen dreistelligen Millionenbetrag, der noch offen ist. Es reicht nicht, ein billiges Ticket anzubieten, es braucht ausreichend öffentliche Verkehrsmittel, auch auf der Straße, um auch regional attraktive Öffis zu ermöglichen. Wir werden weiterhin Straßen brauchen.

Zur Bundes-ÖVP: Sebastian Kurz wurde zuletzt am Parteitag mit 99,4 Prozent wiedergewählt. Der versprochene "neue Stil" leidet aber nach wie vor unter den diversen bekannt gewordenen Affären.
Man braucht sich ja nur die Umfragen anzusehen. Die Zufriedenheit mit der Bundes-ÖVP ist nach wie vor eine hohe. Das ist entscheidend.

Bei guten Umfragen kann man sich auch peinliche WhatsApp-Nachrichten erlauben?
Manche dieser Nachrichten haben Respekt und Anstand vermissen lassen. Das sage ich ganz deutlich. Ich sage aber auch, dass persönliche Nachrichten -noch dazu in laufenden Verfahren - in der Öffentlichkeit nichts verloren haben. Das ist meine Meinung dazu.

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