"Die Ideen der ÖVP sind
durchsichtig und plump"

Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger über "unredliche" PR der Regierung, Anzeichen der Orbanisierung Österreichs, neue Koalitionen und noch unerfüllte Versprechen ihrer eigenen Partei in der Wiener Stadtregierung.

von Politik - "Die Ideen der ÖVP sind
durchsichtig und plump" © Bild: Ricardo Herrgott

Der harte Lockdown in Wien ist vorbei: Waren Sie shoppen?
Nein. Keine Zeit. Ich bin auch nicht die große Shoppingqueen. Mein Thema war eher das ganze Büromaterial für das Homeschooling. Man will ja nicht bei Amazon bestellen, sondern den heimischen Handel fördern. Da hab ich ein Jahr gebraucht, um das zu optimieren.

Die Regierung will offenbar nur noch gute Nachrichten überbringen: Aufsperren, Impfturbo, Supersommer. Ist wirklich alles gut?

Dass jetzt aufgesperrt werden kann, ist zunächst einmal ein Verdienst der Pharmafirmen und der Wissenschaft, die in einem atemberaubenden Tempo Impfstoffe entwickelt und in Produktion gebracht haben. Aber, dass es gute Nachrichten braucht, das spürt ja nicht nur die Regierung, sondern wir alle: diese Perspektivlosigkeit, das Eingesperrtsein, Freunde nicht zu treffen, viele in der Wirtschaft, die vor den Scherben ihrer Existenz stehen. Das hat sich massiv auf die Psyche geschlagen.

»Was mich stört, und sicher nicht nur mich, ist die fehlende Redlichkeit«

Sie gestehen der Regierung zu, dass sie die guten Nachrichten für sich reklamiert?
Der Stil ist etwas anderes. Was mich stört, und sicher nicht nur mich, ist die fehlende Redlichkeit dabei. Erst diese Woche im Parlament haben wir wieder gehört -und das beten ja dann sektenhaft alle in der ÖVP runter -, dass wir es Sebastian Kurz zu verdanken hätten, dass eine Million Dosen von Pfizer früher kommt. Das stimmt einfach nicht. Da hat sich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen auf die Hinterfüße gestellt und diese Dosen ausverhandelt. Es ist so unredlich, dass Kurz das als eigenen Erfolg verkauft.

Die ÖVP fällt zwar in den Umfragen, liegt aber immer noch deutlich vorn.
Was wir bei der Regierung sehen, ist ein Maximum an Inszenierung und ganz wenig an Umsetzung. Er ist groß im Reden, schlecht im Tun. Diese Regierung ist auf Populismus, PR, Inszenierung und Schönwetter aufgebaut, aber versagt, wenn es um das knallharte Management geht. Wenn etwas funktioniert, so wie die Eintrittstest, dann war das auch und gerade eine gemeinsame Leistung aller Parteien -ausgenommen der FPÖ. Aber offensichtlich liegt es in der Natur jeder Regierung, sich für Erfolge zu feiern und die Misserfolge jemand anderem umzuhängen.

Zuletzt hat Kurz die Länder und auch die Oppositionsparteien zu Diskussionen ins Kanzleramt geholt.
Die Zusammenarbeit mit den Ländern kann ich nicht beurteilen. Da habe ich den Eindruck, dass die Bundesregierung sich aus dem Krisenmanagement rausnimmt und sagt: "Die Länder sollen machen." Das hat beim Impfen begonnen und ist jetzt wieder so. Die Bundesregierung verkündet das Aufsperren, um die Details sollen sich die Länder kümmern -es fehlt die zentrale Strategie. Bei der Kooperation mit dem Parlament habe ich keine Verbesserung gesehen. Es gab zwar einen Austausch mit Experten, aber keine Diskussion, was der beste Weg ist. Das Parlament hat viel gearbeitet, die Regierung hat sich aber durch Verordnungsermächtigungen in der Pandemie sehr viel Macht gegeben und das Parlament außen vor gehalten. Die Regierung schürt bewusst einen Konflikt mit der Opposition. Vor allem die ÖVP setzt ganz auf Polarisierung. Das ist die Luft, die sie atmet. Dazu kommt -leider bis hin zum Nationalratspräsidenten -eine Geringschätzung des Parlaments, aber auch der Justiz oder des VfGH, also der Säulen der Demokratie, weil sie vielleicht in den Augen der Regierung lästig sind.

© Ricardo Herrgott

Kurz inszeniert sich als "Macher", da passen Debatten im Parlament nicht ins Bild.

Es ist ein antidemokratischer Zug, jede Diskussion als antipatriotisch und destruktiv zu framen. Nicht wenige Verordnungen, die noch dazu unsere Grund-und Freiheitsrechte einschränken, waren verfassungswidrig. Dann wird so getan, als würden die Kritiker dem Land schaden. Das halte ich für sehr gefährlich, das schürt Polarisierung. Und davon haben wir, angefacht von den sozialen Medien, schon genug. Polarisierung mag zwar Politiker erfolgreich machen, aber sie darf nicht unser Weg in die Zukunft sein. Sie zerstört das Vertrauen ineinander und in die Institutionen der Demokratie. Die Gräben gehen tief in Familien hinein. Das ist ein Ergebnis der Politik der türkisen ÖVP.

Das Idealbild einer Politik, die Gräben schließt - gibt es das überhaupt noch?
Das Idealbild von Politik ist für mich nicht, dass man alles abnickt, was von der Regierung kommt. Das Idealbild ist, dass man um die besten Lösungen ringt und streitet. Dafür braucht es eine Vertrauensbasis. Aber die ÖVP hat zuerst die Vertrauensbasis mit der SPÖ bewusst zerstört, nach Ibiza jene zur FPÖ und jene zu den Grünen wird von der ÖVP bereits gekonnt gestört -ob zerstört, wird man sehen. Jedenfalls ist auch die Vertrauensbasis zur Opposition im Parlament gestört. Bei ÖVP und Grünen - positiv könnte man sagen, da gibt es eine hohe Loyalität der Abgeordneten. Negativ: Das ist ein ziemlicher Abnickverein.

Übrigens auch bei Anschober. Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn das nicht ein grüner Minister wäre, sondern ein blauer. Da wären die Straßen voll mit Protest. Die Geringschätzung der Verfassung und der Grundrechte mit der moralischen Begründung, das sei richtig, wenn es für den guten Zweck geschehe -da zieht sich mir alles zusammen. Die Verfassung ist zu achten, egal, ob das ein blauer, grüner, roter, schwarzer oder pinker Minister wäre.

Bei dieser Geringschätzung der Institutionen ist man schnell beim Wort "Orbanisierung". Ist die nah?
Es ist jedenfalls die Mechanik da, und die muss man ansprechen: das Mundtotmachen der Opposition, das Framen Richtung antipatriotisch, das bewusste Spiel mit Ressentiments gegenüber der EU wie bei dieser unsäglichen Diskussion um die Impfstoffverteilung, die starke Einflussnahme auf die Medien über Förderungspolitik und Inserate, die Einflussnahme auf den ORF. Und natürlich die Delegitimierung von Verfassung und unabhängiger Justiz. Wenn man das alles nebeneinander stellt, muss ich sagen: Ich mache mir Sorgen. Ich habe den Eindruck, man versucht, alles unter Kontrolle zu bringen. Das gilt sogar auch für die Förderungen und Coronahilfen, die stark im Einflussbereich der Türkisen sind und ohne einen Rechtsanspruch von Seiten der Unternehmen.

»Die Ideen der ÖVP sind so durchsichtig und plump, dass ich mich frage: Wer durchschaut das nicht?«

Die ÖVP will nun die U-Ausschüsse im Parlament reformieren. Man kann das für durchsichtig halten, weil die ÖVP im Fokus der Untersuchungen steht. Aber abseits davon: Gibt es für Sie Reformbedarf?
Die Ideen der ÖVP sind so durchsichtig und plump, dass ich mich frage: Wer durchschaut das nicht? Vier ÖVPler oder ÖVP-nahe Personen stehen im Verdacht der Falschaussage, und dann kommt der Vorschlag, die Wahrheitspflicht abzuschaffen. Aber das kann man abhaken, dafür wird es keine Mehrheit geben. Was ich für diskutierenswert halte, ist die Frage der Öffentlichkeit der Ausschüsse. Es wird immer dagegengehalten, die Opposition will ein Tribunal veranstalten, das dann noch mehr Öffentlichkeit hätte. Ich sehe das genau umgekehrt: Eine Skandalisierung durch die Opposition würde man dann ja auch sehen. Vor allem aber würde man sehen, wie der U-Ausschuss von der ÖVP mit Füßen getreten wird. Das ist einer der wichtigsten Ausschüsse dieser Republik.

Was lernen wir daraus? Vielleicht wird es immer Tendenzen geben, dass Politik andere Interessen verfolgt, als im Sinne der Menschen zu handeln. Da braucht man ja nur Machiavelli zu lesen. Aber ich bin überzeugt, dass Demokratie davon lebt, dass Macht begrenzt und kontrolliert wird. Da können wir in Österreich besser werden - von Postenbesetzungen bis zu Parteienfinanzen. Die zweite Reformfrage ist jene des Ausschussvorsitzes. Ich bin eine Verfechterin des Modells, dass das ein Parlamentspräsident ist. Es wäre ja auch kein Problem, wenn Wolfgang Sobotka sagt: Ich bin befangen und kann den Vorsitz nicht führen. Natürlich könnte man das mit einem klaren Paragrafen zur Befangenheit regeln. Aber eigentlich bräuchte es gar keine solche Regel, sondern nur ein gewissen Maß an Verantwortungsgefühl, Respekt und Anstandsgefühl.

Den Beschneidungswünschen kann man auch entnehmen, dass die ÖVP nicht davon ausgeht, je als Oppositionspartei in einem U-Ausschuss zu sitzen.
Dieses Phänomen habe ich aber auch bei der SPÖ erlebt. Wer sagt, die SPÖ hätte genauso Postenschacher betrieben, hat natürlich recht. Der große Unterschied ist, dass das in den ÖVP-Chats so offen liegt. Der Stil dieser Chats lässt mich ratlos zurück -und nein, nicht jeder Mensch hat solche Nachrichten auf seinem Handy. Sie legen einen Masterplan offen, welche Bereiche des Landes man unter Kontrolle bekommen muss, um an die Macht zu kommen und an ihr zu bleiben.

Wie nachhaltig wirkt dieser Masterplan?
Mit Blick auf die USA kann man sagen: nicht nachhaltig. Demokratie lebt auch davon, dass man jemanden aus der Macht wegbefördern kann. Es ist weder ein Gottesgesetz, noch steht es in der Verfassung, dass die ÖVP immer in der Regierung sein muss.

Manche hoffen auf eine "progressive Mehrheit" jenseits der ÖVP. Andererseits sieht man in den Umfragen: Ist die SPÖ im Aufwind, schrumpfen die Neos, und umgekehrt. Das wird wohl nichts mit der Mehrheit.
Früher hat es geheißen, die ÖVP und die Neos sind kommunizierende Gefäße. Wenn man sich unsere Entwicklung anschaut, dürften wir etwas richtig machen: Wir haben 2013 mit fünf Prozent begonnen, jetzt liegen wir in Umfragen bei zehn Prozent und sind in zwei Landesregierungen.

»Es gibt seit geraumer Zeit eine Mehrheit rechts der Mitte in Österreich. Die Frage ist, ob das immer so bleibt.«

Das ist ja kein Widerspruch zur Feststellung, dass die SPÖ schwächelt.
Es gibt seit geraumer Zeit eine Mehrheit rechts der Mitte in Österreich. Die Frage ist, ob das immer so bleibt. Einer der Gründe, warum es Neos gibt, ist, dass wir in der Mitte stehen und alternative Mehrheiten möglich machen wollen. Wir regieren in Salzburg mit ÖVP und Grünen, in Wien mit der SPÖ. Ich strebe nicht unbedingt eine Mehrheit links der Mitte an. In vielen Bereichen tun wir uns bei Reformen sicher leichter mit Bewegungen rechts der Mitte, in anderen tun wir uns leichter mit links.

In der ÖVP heißt es, die Neos seien nach links gerückt und "uns kann es recht sein".
Die ÖVP ist nach rechts gerückt, wir sind stehen geblieben. Aber natürlich: Die Frage, ob man Kindern in Moria hilft, wird stärker mit links konnotiert. Ich kann mit dieser Haltung der ÖVP nichts anfangen. Ich kann restriktiv in der Flüchtlingspolitik sein und trotzdem hinschauen. Es geht ja um Kinder! Wirtschaftspolitisch habe ich hingegen den Eindruck, die ÖVP ist nach links gerückt. Siehe: Koste es, was es wolle, und stolz sein auf steigende Ausgaben. Das erstaunt mich, und da habe ich auch ein bisschen Angst.

Vor der Wien-Wahl haben sie gesagt, Neos würde in einer Regierung nicht so gefügig sein wie die Grünen im Bund. Jetzt schweigen die Neos in Wien, obwohl sie sich die Klimapolitik auf die Fahnen heften wollten, zu Großprojekten wie Stadtstraße und Lobautunnel. Das sei schon entschieden gewesen, sagen sie.
Manches war ja tatsächlich schon entschieden, da können wir auch nichts dran rütteln. Gerade beim Klimaschutz ist uns, aber auch der SPÖ, sehr bewusst, dass Wien da Meter machen muss. Aber: Wir sind in die Regierung gekommen und haben seither den Krisenmodus nicht verlassen, das muss man auch sehen. Einige Akzente sind ja dennoch gesetzt worden, etwa die Öffnung der Gastronomie auf Märkten am Sonntag.

Aber den angekündigten "Stachel im Fleisch" spürt die SPÖ wohl nicht.
Was nicht spürbar ist, dass wir das nicht nach außen tragen.

Die SPÖ hat eine umstrittene Personalentscheidung getroffen: Der ehemalige Parteisprecher ist nun für die strategische Kommunikation der Stadt zuständig. Nach Ihren Maßstäben im Bund geht das nicht. Von den Neos hat man dazu nichts gehört.
Der Bürgermeister hat das so entschieden. Hätten wir es so gemacht? Nein, definitiv nicht. Wir hätten das ausgeschrieben. Ich bin überzeugt davon, dass das angesprochen wurde.

»Eine Durchseuchung der Jungen, wie es manche sagen, genau das will ich nicht«

Zurück zu Corona: Was muss Bildungsminister Faßmann tun, damit die Schulen im Herbst bei einer neuen Welle nicht wieder schließen?
Ich habe das schon mehrfach bei Sebastian Kurz angesprochen: Wir brauchen einen Herbstgipfel. Natürlich wird es eine Entlastung im Gesundheitssystem auf den Intensivstationen geben, wenn die Coronapatienten jünger sind. Aber eine Durchseuchung der Jungen, wie es manche sagen, genau das will ich nicht. Wir brauchen für die Schulen ein gutes Testmanagement, idealerweise mit Gurgeltests, damit Präsenzunterricht voll stattfindet. Der Schichtbetrieb ist das Schlechteste aus allen Welten.

Und das würde reichen?
Ja, weil ich glaube, dass man über die Schulen die Familien erreichen kann. Ich gehöre zu jenen, die sagen, so können wir nicht weiterleben. Wir müssen mit dem Virus leben und nicht auch noch ins nächste Schuljahr mit geteilten Klassen und Distance Learning gehen.

Die Regierung hat angekündigt, dass Österreich bis 2040 zu den Top-Ten-Wirtschaftsstandorten der Welt gehören soll. Sie hat eine Standort-Strategie
Na, Hauptsache wieder ein Plakat und eine Schlagzeile.

Neos fordern einen Zukunftskonvent. Da könnte man sagen: "Wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis." Was soll der besser können?

Es geht um das Bekenntnis, dass ein "Comeback", wie es die Regierung ankündigt, zu wenig ist, wenn man dabei weiter nur an den kleinen Schrauben dreht, wie wir das jahrzehntelang gemacht haben. Man muss jetzt die großen Fragen angreifen: Föderalismus, Bildung, ökosoziale Steuerreform, bis in den unternehmerischen Bereich hinein. Wann, wenn nicht jetzt, wo viele neu starten müssen, ist der Zeitpunkt für eine Liberalisierung der Gewerbeordnung oder ein neues Insolvenzrecht mit Sanieren statt Schließen? Diese Themen muss man anpacken, da braucht es mehr als eine Pressekonferenz. Und das wird nicht funktionieren, wenn man das übliche Spielchen "Regierung gegen Opposition, Bund gegen Länder" spielt. Da gehören alle ins Boot geholt.

Solche Konvente bekommen in Österreich immer ein Begräbnis erster Klasse.
Ja, aber vielleicht passiert das nicht, wenn man die Bürgerinnen und Bürger an Bord holt. In anderen Ländern ist so schon mancher gordischer Knoten gelöst worden. Ich sag immer: Die Leute sind viel gescheiter, als die Regierung es glaubt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News erschienen (18/2021).